Dorothea Schlegel
1763 - 1839
Die Geschichte des Zauberers Merlin
1804
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Neuntes Kapitel.
König Vortigern, als er bedachte, wie verhaßt er bey seinem Volke war, und wie über kurz oder lang einmal die beiden jüngern Söhne des Königs Constanz wieder kommen könnten, die sich in der Fremde vor ihm versteckt hielten, und wie er alsdenn sicherlich seines Reichs und vielleicht seines Lebens würde beraubt werden, beschloß zu seiner Sicherheit einen Thurm erbauen zu lassen, wohin er sich im Nothfall, wenn er überfallen würde, zurückziehen und sich befestigen könnte.Er ließ also die vortrefflichsten Bauleute seines Reichs kommen, und gab ihnen genau an, wie der Thurm sollte erbaut und befestigt werden; ließ ihnen auch Steine, Kalk, Sand und alle andre nöthige Dinge zum Bau zuführen. Sie fingen ihn auch alsbald mit großem Fleiße an; als sie aber mit dem Fundament [67] fertig waren, und etwa drey oder vier Fuß aus der Erde gebaut hatten, so fing das ganze Werk an zu beben und wanken, und fiel so heftig und mit einer so starken Erschütterung zusammen, daß sogar der Berg, auf welchem der Thurm angefangen war, einzustürzen drohte. Die Bauleute erschraken und waren verwirrt; was ist nun zu thun? fragte einer den andern. Sie kamen überein, daß man den Bau noch einmal anfangen müsse, und zwar noch stärker als das erstemahl.Er fiel aber auch das zweyte Mahl zusammen, wie zuerst, und so auch zum dritten Mahl. Der König wollte ganz rasend und unsinnig über diese wunderbare Begebenheit werden; sagte auch, er würde nie Ruhe oder Freude haben, bis er das Werk vollendet sähe. Er ließ daher in allen seinen Landen bekannt machen, daß die weisesten und verständigten zu ihm kommen, und die Sache mit ihm überlegen sollten. Da sie nun bey ihm angekommen waren, zeigte ihnen der König den angefangenen Bau, und erzählte ihnen, wie er dreymal wieder zusammen [68] gestürzt sey, als er drei oder vier Fuß hoch heraus gebaut war. Die neu angelangten weisen Männer erstaunten höchlich ob dieser Erzählung, noch mehr aber, als sie hinausgingen, und das Werk und die Stärke der Mauer sahen. Herr König, sagten sie alsdenn, wir wollen uns über diese wunderbare Sache berathschlagen, und alsdann Euch unsere Meinung sagen. Nachdem sie eine geraume Zeit mit einander die Sache überlegt hatten, kamen sie dahin überein, daß sie es nicht wüßten, gingen auch wieder zum Könige, um ihm diese ihre Meinung zu sagen. Wir wissen nicht, und verstehen nichts davon, Herr König, sagte der älteste und verständigste unter ihnen, warum Euer Thurm nicht stehen will; laßt aber die weisesten und gelehrtesten geistlichen Männer Eures Landes zusammen berufen, und fragt sie darum, diese werden sicher Euch hinlänglichen Bescheid darüber ertheilen, weil sie gelehrt sind und vieles wissen, wir aber haben nicht studiert. Der König that also; ließ alle gelehrte Geistliche zusammen berufen, [69] und versprach demjenigen eine hohe Belohnung, der ihm die Sache erklären würde. Die Geistlichen kamen aus dem ganzen Lande von allen Seiten her, riethen hin und her, wußten es so wenig zu sagen, als die ersten Männer, riethen aber dem Könige, der durch diesen Aufschub immer hitziger und wilder ward, seine Sterndeuter zusammen berufen zu lassen, weil diese es sicher wissen müßten, indem sie jede Sache deutlich in den Sternen läsen.
Die sieben Sterndeuter vor König Vortigern
Es geschah also nach ihrem Rath, und die berühmtesten Sterndeuter, sieben an der Zahl, kamen zum Könige, und ließen sich die Sache von ihm vortragen; er versprach demjenigen unter ihnen, welcher die Ursache herausbringen würde, große Ehre und hohe Belohnung.
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