BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johannes Minckwitz

1812 -1885

 

Odyssee

 

Vorrede

 

______________________________________________________________________________

 

 

[V]

Vorrede.

 

I.

Ein Morgen in Griechenland.

 

Der Frühling hatte am Mittelmeer seine Blumenschätze über die Erde ausgeschüttet, die Sonne glänzte am wolkenlosen Firmamente des gesegneten Griechenlands und der heitere Morgen eines festlichen Tages war angebrochen. Da saßen auf dem Eiland Chios eine Anzahl vornehmer Männer, nicht weit von ihren Wohnungen entfernt, am Strande des Meeres fröhlich versammelt; in ihrer Mitte weilten auch mehrere edle Frauen, schöngekleidet wie ihre Gatten zur Feier des Tages. Hinter ihnen ragte ein üppiger Hain, dessen hochwipflige Stämme die Gesellschaft durch weithinfallende Schatten vor der steigenden Glut des Sonnengottes schützten. Vor ihnen dehnte sich die unabsehliche Salzfluth aus, wie ein ungeheuerer Teppich schillernd in jener wunderbaren Farbenpracht, welche die Gewässer des Archipelagus und der südlichen Küstenstrecken Italiens schmückt; schaumlos brachen sich die Wellen an dem hochgelegenen felsigen Ufer, frei von jeder Bewegung des Windes.

Schon war das Stieropfer vollendet und die Götter hatten ihren heiligen Antheil empfangen; das Festmahl stärkte die vereinigten Gäste und der mit lieblichem Weine gefüllte Becher ging von Mund [VI] zu Mund. Es war aber in jener Zeit nicht Sitte der Hellenen, den Leib schwelgerisch zu sättigen, ohne zugleich dem Geist seine Nahrung darzubieten; ebenso wenig war es ihr Gebrauch, mit rauschenden Tönen einer bunten Tafelmusik das Ohr anfüllen zu lassen und die Seele zu betäuben. Sie zogen es vor, die Betrachtung durch das Mittel der Sprache anzuregen und den melodischen Klang ihrer musikalischen Instrumente als Hülfsmittel für die sinnreichen Töne hinzuzunehmen, welche die menschliche Lippe hervorbringt, jeder andern Ausdrucksweise geistiger Vorstellung an Macht überlegen.

Daher erhub sich jetzt unter den Anwesenden, auf den Wink des obersten Gastgebers, ein stattlicher Mann, in der Hand eine Leier tragend, das Haupt mit einem frischen Lorbeerzweige des benachbarten Haines bekränzt und den Körper mit einem unter der Brust gegürteten hellfarbigen Mantel umflossen. Es war der kunstgeübte Wanderer, der große Sänger Homeros, der schon seit Jahren von Land zu Land umhergezogen war, die Griechen durch seinen Gesang erfreuend; mit einem kräftigen Körperbau von der Natur ausgestattet, stand er noch in herrlicher Mannesfülle da, obwohl er schon fünfzig bis sechzig Sommer zählen mochte. Seit der Zerstörung Troja's waren ungefähr dreißig oder vierzig Jahre verflossen, ein Zeitraum, welcher ihm hinreichende Muße geboten hatte, die vor jener Stadt geschehenen Ereignisse poetisch abzuschildern und durch zahlreiche Gesänge nach und nach seinen Zuhörern vorzuführen. Homeros war selbst vor Troja Augenzeuge der Großthaten, Kämpfe und Leiden gewesen, die bei diesem gewaltigen Heerzuge stattgefunden hatten und deren stolzes Andenken jetzt die Nachkommen der Griechen beschäftigte; er mochte die ausziehenden Streiter als halberwachsener Jüngling dahin begleitet haben, damals schon kundig der Phorminx. Später, nach seiner Rückkehr in die hellenischen Gefilde, erschienen ihm alle jene Vorfälle in einem wunderbaren Lichte, gleichwie die [VII] phantastischen Bilder eines merkwürdigen Traumes; er suchte alsdann frühzeitig das in Worten auszumalen und festzuhalten, was er in seiner stürmischen Jugendzeit erlebt hatte.

Dieser mit der höchsten Gabe dichterischer Beredsamkeit ausgestattete Hellene war es, der jetzt aus der Versammlung hervortrat und mit dem Rücken gegen den Stamm eines Oelbaumes gekehrt die goldgeschmückte Leier vor sich hinhielt; gleichzeitig stellten sich zu beiden Seiten neben ihn seine zwei Söhne, schlanke Jünglinge voll Rüstigkeit, die ebenfalls Leiern trugen. Nachdem er seinem Instrument einige wonnige Töne entlockt hatte, wandte sich der Sänger an den vor ihm sitzenden Zirkel des aufmerksamen Hörerchores mit der Frage: „Welchen Gesang sie aus seinem Vorrath wünschten?“ Die Antwort lautete allseitig., „Hektor's Tod! Hektor's Tod!“

Da hub der Sänger, ihrem Wunsche willfahrend, langsam und ernsten Tones im gemessenen Gange des von ihm so reich ausgebildeten Hexameters dasjenige zu singen an, was wir heutzutage als das zweiundzwanzigste Buch der Ilias vor uns haben; dazu griff er in die Saiten, die Töne seines Mundes mit einer Musik begleitend, deren Melodie den rhythmischen Reihen und Gliedern, den Längen wie den Kürzen, überall harmonisch angeschmiegt war. Jede Sylbe des Gesungenen blieb dabei dem Hörer verständlich und übte ihre volle Wirkung auf Ohr und Geist: das musikalische Element tödtete nicht, wie bei der modernen Gesangeswuth, durch sein Vorwiegen das sprachliche, sondern diente diesem lediglich zur Unterstützung und Verstärkung. Der Grieche wollte den geistigen Inhalt kennen und aufnehmen, nicht aber die Worte durch einen Schwall von sinnlichen Lauten unterdrückt wissen, einen Mischmasch von sich weisend, worin das eigentliche Gedankenverständniß untergegangen ist. Unbestimmte Gefühle, wenn sie auch noch so gewaltig mit süßem Wohllaut sein Herz erregten, gereichten seinem Wesen und Geschmacke nicht zur Befriedigung. [VIII] Genug, er mochte nicht einzelne Wörter des Gesanges gleichsam zufällig mit dem Ohre erhaschen (mehr gestattet uns selten das heutige Geschrei und Gejohle unserer Sänger und Sängerinnen in Opern und Konzerten), sondern es lag ihm daran, die ganze Schöpfung des Dichters, Wort für Wort seinem Gedankengange folgend, zu erfassen.

Dieß war denn auch bei dem von Homeros angestimmten Gesange möglich. Einfach, aber kunstangemessen die Leier schlagend, begann er mit dem Moment, wo die Troer aus der Ebene in die Stadt zurückgeworfen waren, die nähere Angabe vorhergegangener Ereignisse bei seinen Hörern als bekannt voraussetzend; hatte er ihnen doch schon oft den Sturz des Patroklos und die Racheschritte des aufspringenden Achilleus durch seinen malerischen Vortrag dargestellt. Er begann also zu schildern, wie die Troer inmitten der Veste sich von ihrer Kampfanstrengung erholten, mit Ausnahme des Hektor, der draußen zurückgeblieben war; wie die Achäer stürmend auf die Mauern losrückten, mit Ausnahme des Achilleus, welchen die List des Apollon weit in das Feld hinausgelockt hatte, bis ihm der Gott endlich entdeckte, daß er irre. Ferner erzählte der Sänger, wie Achilleus darauf um so erbitterter in reißend schnellem Fluge nach der Stadt hineilte: wie der alte Priamos den Wutherfüllten heransausen sah, jammernd aufschrie und dem vor dem Stadtthore unter ihm stehenden Hektor zurief, herein sich zu retten und den hülflosen Vater durch Aufnahme des Zweikampfs nicht der letzten Stütze mitleidslos zu berauben: wie die greise Hekabe vergebens ihre wehklagenden Bitten mit den seinen vereinigte; denn der Sohn blieb unerweicht und hielt dem heranbrausenden Gegner am Burgthurme Stand! Nachdem der Sänger hierauf die Zweifel geschildert, welche die Brust des wartenden Hektor zerrissen, während Achilleus auf ihn zuflog, beschrieb er den dreimaligen Jagdwettlauf, den beide Heldenstreiter um die Ringmauer anstellten, bis die aus der Zahl der Götter, welche zugeschaut [IX] hatten, herniedergestiegene Pallas Athene sie zum Stillstand und zur Eröffnung des Zweikampfes bewog. Wie dieser, nach kurzem Zwiegespräch des ergrimmten Paares, zum Verderben des göttlichen Hektor ausschlug, wie Achilleus dem Sterbenden die letzte Bitte hartherzig verweigerte, wie die Achäer den der Rüstung entkleideten Todten noch mit Lanzenstichen höhnten, wie alsdann der stolze Sieger, um seinem Rachewerk die Krone aufzusetzen, den Leichnam mit den Füßen an seinen Streitwagen angeknüpft nach dem Schiffslager der Argeier von hinnen schleifte, wie endlich bei diesem Anblicke die Aeltern des Erschlagenen, samt seiner aus dem Hause herbeigeschreckten Gattin Andromache, auf den Burgmauern in unermeßliche Jammerklagen ausbrachen: alle diese einzelnen Züge wurden von dem Dichter in den hundert Schlußversen seines Gesangs, zur tiefsten Erschütterung der Zuhörer, ebenso lebendig als ausführlich erzählt, gezeichnet und vorgetragen.

Feierliche Stille herrschte weithin am Meeresstrande, als Homeros diesen ein wohlgerundetes Ganze bildenden Abschnitt aus der großartigen Geschichte des Troerkriegs vollendet hatte. „Herrlicher Dichter, würdig der großen Zeiten, die du so glücklich warst zu schauen,“ rief ein Jüngerer unter der Zuhörerschaft begeistert aus; ein Greis dagegen setzte hinzu: „Wie wahr ist seine Schilderung! Denn auch ich stand unter den Mauern, als der mächtige Zusammenstoß der beiden größten Helden stattfand.“ Nachdem allmählig aber das Zaubergefühl zerflossen war, welches dieser einfache Gesangstrom auf die Gemüther ausgestrahlt hatte, forderten Mehrere von den Anwesenden ihren liedbegabten Freund auf, ihnen nunmehr auch „den Tod des Achilleus“ zu besingen. Daß sie gerade diese traurigen Gegenstände auswählten, hatte seinen Grund in dem eigenthümlichen Charakter der Hellenen, welcher vorzugsweise im Tragischen eine Quelle der Erheiterung suchte, der lauten Freude abgewandt und geneigter [X]war, aus der Betrachtung ernster und erhabener Schicksalsfügungen die der Seele zusagende rechte Stimmung zu schöpfen.

Da es bereits um Mittag war und Homeros durch die vorige Anstrengung ermüdet schien, winkte er seinem älteren Sohne zur Rechten, für ihn das Lied von Achilleus' Tode zu singen. Sofort trat dieser an des Vaters Stelle und vollzog den Auftrag mit gleicher Geschicklichkeit und in der nämlichen Weise. Homeros selbst indessen hatte den Gesang gedichtet, der Sohn ihn gelernt, da er stets zugegen war, wenn der Vater im Kreise der freudig erstaunten Hellenen seine Stimme erschallen ließ. Nicht minder bewegt horchten auch dießmal die Gäste den tonreichen Rhythmen, welche den Untergang des edelsten aller Helden feierten, wie ihn die vorzeitliche Sage beschrieben hat. Die Verse dieses Gesangs sind nicht unter den zur Nachwelt gekommenen Büchern des Homeros enthalten, sie sind durch zufällige Vernachlässigung der Späteren oder durch das schwächere Gedächtniß derer, die sie fortpflanzen sollten, schon in den nächsten Jahrzehnten verloren gegangen, ehe sie von Sammlern aufgezeichnet wurden. Aber sie waren so schön wie Alles was aus dem Munde des unsterblichen Heldendichters erhalten ist.

Als der Jüngling, beglückwünscht von der Menge samt dem Vater, schwieg und die goldene Leier an den Boden stellte, war die Stimmung eine sehr ernste geworden; vornehmlich hatten die der Göttin Thetis in den Mund gelegten Wehklagen um den Verlust ihres jugendlichen Sohnes das Mitgefühl bis zu wirklicher Trauer gesteigert. Lag doch auch die Zeitepoche, wo Achilleus gefallen war, noch nicht so weit hinter den Lebenden. Um daher das Herzeleid und den Sturm der Empfindungen abzudämpfen, ergriff Homeros selbst wieder die goldene Phorminx und schlug ein freundlicheres Thema an, nämlich die Geschichte „des hölzernen Riesenpferdes,“ wodurch endlich die Eroberung von Ilios ermöglicht wurde. Eine ganze Reihe [XI] seiner Gesänge behandelte diesen Stoff, von den, Tode des Paris und dem listigen Vorschlage des Odysseus an bis zu dem Augenblicke, wo die Troer, nach Zertrümmerung eines Theils der Mauer, das ungeheuere hohlleibige Roß verblendeten Sinnes zur Stadt hereinschoben. Auch von diesen Dingen enthält die heutige Ilias nichts; nur eine geringe Andeutung jenes entscheidenden Truganschlags findet sich noch in den Büchern der Odyssee. Ja, der Brand von Troja selbst und die grause Zerstörung der zehn Jahre lang belagerten Veste würde von dem unermüdlichen Dichter hierauf ebenfalls noch geschildert worden sein, wenn die Schatten des Abends nicht bereits herniedergesunken wären. Der jüngere Sohn half dem Vater nicht bei diesem Kunstgeschäft; seine Aufgabe bestand noch lediglich darin, durch aufmerksames Zuhören die Meisterstücke des so geliebten Lehrers dem Gedächtnisse einzuprägen und die dafür geeigneten Melodien der Leier aufzufassen, damit er einst im Stande sei, dem doppelten Beispiele des Vaters und Bruders zu folgen. Der frische Lufthauch, der um die Mittagszeit zu wehen angefangen, erregte jetzt am Abende das Meerbett zu lebhafterer Brandung, und die Töne des Gewässers mischten sich lieblich mit dem Geflüster des dunkeln Haines, als die Bewohner von Chios mit dem hochgeschätzten Sängerkleeblatt den Rückweg nach ihren wohlbehaglichen Wohnhäusern antraten.

 

 

II.

Ein Abend in Griechenland.

 

Zwanzig Jahre waren verflossen seit jenem Tage, wo die der Poesie holden Bürger von Chios den vielbewunderten epischen Erzähler gastfreundlich bewirthet hatten: da finden wir ihn wieder unter [XII] einem andern Stamme der hellenischen Völker, über die seither holdseliger Friede fortgewaltet. Nach vielfältigen neuen Wanderungen nämlich war der Dichter wieder einmal an die wohlangebaute Küste Kleinasiens gekommen. Ueber daß prächtige Smyrna dämmerte eben ein erquicklicher Sommerabend herab, Helios hatte die letzten brennenden Strahlen auf die funkelnden Zinnen der Tempel und Palläste jener Stadt geworfen und ließ sich mit dem feurigen Roßgespann an den Gränzen der Erdscheibe im fernen Hesperien nieder. Die Gluthitze des Tages fing sich rasch zu mäßigen an und erlaubte der Bewohnerschaft eines Landhauses in der Vorstadt unter die hohe Säulenhalle, die gegen Westen auf das Meer zu lag, hinauszutreten und das Auge zu erfreuen an der unbegränzten Aussicht auf die schweigende, in sommerlicher Abendruhe schlafende Wasserwüste.

Unter den zahlreichen Gästen, die der Hausherr eingeladen hatte, um an seinem fröhlichen Abendtische zuzubringen, erkennen wir den Vater Homeros wieder, obwohl nicht minder verändert als seine äußere Umgebung. Zwar hielt er noch immer die nämliche goldgeschmückte Leier in den Händen und schritt nach wie vor aufrechten Ganges kräftig einher; allein die Flucht der Jahre hatte seine ergrauenden Locken unterdessen in silberweiße verwandelt und seine Füße schienen nicht so sicher wie früher, sondern mit einer gewissen Vorsicht aufzutreten. Es war auf den ersten Anblick, als ob er ängstlich oder behutsam die Hand eines von seinen Söhnen festhalte, der ihm zum Geleiter diene. Wie er daher nach kurzem Spaziergang durch den blumenduftigen Garten zurückkehrt, und wie ihm der Sessel zugeschoben wird, auf den er sich niedersetzen soll, gewahren wir bei dem Scheine der in der Halle angezündeten Fackeln, daß seine Augen nicht mehr so feurig blitzen wie ehedem. Und als ein heller Lichtstrahl auf sein Angesicht fällt, als wir schärfer ihn anblicken, wahrlich, da können wir uns nicht mehr irren: schmerzlich gestehen [XIII] wir ein, der ehrwürdige greise Sänger ist auf beiden Augen erblindet!

Dagegen, gleichsam zum Troste für diese Wahrnehmung, sehen wir ihn heute, statt zweier Sohne, mit dreien und außerdem mit zween erwachsenen Enkeln umgeben. Bald werden wir auch aus den Gesängen, die hier erschallen sollen, die erfreuliche Gewißheit erlangen, daß der schöpferische Geist des achtzigjährigen Poeten in ungetrübter Gesundheit jugendlich fortprangt. Sein Ruhm zugleich war in Hellas durch die ununterbrochene Wirksamkeit seiner Sängergabe auf eine Höhe gestiegen, wie sie nie zuvor von einem sterblichen Liedschöpfer erreicht worden. Ueberall, wohin er seinen Wanderschritt gerichtet, auf den entferntesten Eilanden und Küstenpunkten der hellenischen Erde war sein Gesang erschollen, seine Muse verehrt, sein Name gepriesen worden; immer neue Erfindungen hatten den Schatz der alten vermehrt, jene fünf Familienglieder seine begeisterten Töne im Gedächtniß aufgesammelt und gleichsam in die Seele eingeschrieben, damit die goldenen Worte des Vaters vor der Vergessenheit gesichert sein möchten. In Argos und Sparta namentlich hatte er längere Zeit bei den königlichen Nachkommen der Atreussöhne oder deren Erben verweilt und eine Fülle von Gedichten geschaffen, welche das Glück und Unglück jenes Fürstenhauses verkündeten; die Spuren dieses großen Werks, die wir in der Odyssee hier und da antreffen, sind die einzigen Erinnerungen, die davon zur Nachwelt gedrungen: schon vor der Niederschrift durch schreibkundige Hände verschwanden diese Theile der troischen Heldensage nach und nach aus dem Munde der Sänger.

Andere Theile indessen, jene nämlich, welche die Irrsale des vielgeprüften Odysseus zu Land und Wasser darstellten, dauerten um so leichter fort, als Homeros auf diese Schilderung hauptsächlich den ganzen Rest seines Sängerlebens verwendete. Ein halbes Jahrhundert [XIV] (gewiß eine lange Zeit!) war etwa seit der Zerstörung Troja's verstrichen, als das Gerücht von den wunderseltsamen Geschicken des Königs der Ithakesier allgemein durch Griechenland sich verbreitete. Unser Dichter war einer der ersten gewesen, die daran das regste Interesse nahmen, und bei seinem gelegentlichen Aufenthalte auf Ithaka und den umliegenden Seegestaden erkundete er Alles und Jedes, was auf die Abenteuer des Odysseus Bezug hatte; worauf er selber der beredteste Herold wurde, die Sage von der Penelopeia und ihrer übermüthigen Freierschaar, von den zehnjährigen Leiden ihres Gemahles und von der endlichen Rückkehr des Dulders, sowie von der unerbittlichen Rache desselben durch Hellas' Gefilde weiter zu tragen und fortzupflanzen. Gesang an Gesang spann er vor den entzückten Zuhörern aus, und den heutigen Abend, wo er zu Smyrna weilte, wiederholte er eine Anzahl jener Dichtungen in dem Kreise der Männer und Frauen, die sich um ihn her geschaart hatten. War in den Beschreibungen der troischen Schlachten seine Sprache kriegerisch gewesen, Drommetenschallen vergleichbar, so trug sie hier, dem Stoffe gemäß, einen friedlichen und lieblichen Charakter, gleich der milden Hirtenflöte.

Abwechselnd mit dem ehrwürdigen Schöpfer dieser Poesien erhuben Söhne und Enkel ihre durch die Stille der Nacht weit tönenden Stimmen, um bald die Stürme der See, die Schiffbrüche und die Kämpfe mit wilden Gegnern zu zeichnen, auf die der umherirrende Odysseus gestoßen war, bald die zaubermächtigen Verlockungen auszumalen, die ihn so lange fern gehalten hatten. Die Geschichte von der Niederfahrt des unerschrockenen Helden in das Schattenreich trug Homeros mit eigener Lippe vor; man hatte dabei die Fackeln in der Säulenhalle ausgelöscht, da der Mond inzwischen aufgegangen und schon weit am ehernen Gewölbe des Himmels vorgerückt war. Fast der Helle des Tages glich der Lichtstrom, welcher von dem Wagen [XV] der Selene niederschoß; sein Silberschimmer indeß konnte das Erdreich und das Meer nicht so weit erleuchten, daß nicht eine Art Düsterheit für das umherblickende Auge zurückblieb, ganz dazu geschaffen, den ohnehin schauerlichen Eindruck der Beschreibung zu verstärken, welche die Zunge des phantasiereichen Greises von den Schrecken der Unterwelt und ihren wesenlosen Erscheinungen gab. Sein Gesang, welcher dieß grausenvolle Reich heraufbeschwor, war von größerem Umfange, als der Abschnitt, den wir heutzutag in der Sammlung der Dichtungen lesen, welche den Namen Odyssee trägt. Ebenso enthielten auch die von seinen wohlgeübten Lehrlingen erzählten Abenteuer manche Parthien, welche in der heutigen Zusammenstellung jener Gesänge fehlen, unter andern eine ausführliche Schilderung des Aufenthalts bei der Göttin Kalypso.

Unermüdlich bis tief in die Nacht hinein lauschten die Bürger von Smyrna der geistbeschwingten Musik des Homer und der Homeriden. Weder Schlummer überkam die süßbewegten Hörer, noch belästigte sie die Hitze der Jahrszeit; denn der Athem des Meeres, welches zu ihren Füßen purpurroth aufwallte und flammte, sandte ihnen auf leichtem Zephyrflügel die angenehmsten Kühlungen zu. Die Morgenröthe grüßte den Osten, als sie im Triumph den blinden Homer nach dem Pallast zurücktrugen. Doch schieden sie nur auseinander, um an allen folgenden Abenden mit gleicher Lust den Wunderklängen des Dichters der Odyssee weiter zu lauschen, ehe der gesammte Sängerchor wieder in andere Lande wegpilgerte.

 

 

III.

Nähere Begründung der geschilderten Scenen.

 

Die Grundlinien der obigen beiden Abschnitte sind keine zufälligen, sondern aus der Vorstellung erwachsen, welche sich der Unterzeichnete [XVI] über Entstehung und Beschaffenheit der homerischen Gesänge gebildet hat. Es schien ihm das Beste, seine Ansicht dergestalt zusammengefaßt vorauszuschicken, damit es ihr nicht an Deutlichkeit mangele. Ist sie in der Hauptsache neu ausgefallen, so darf er versichern, daß es durchaus nicht in seiner Absicht gelegen hat, eine neue Meinung aufzustellen, um nur etwas Neues und Merkwürdiges vorzubringen. Vielmehr ist er ohne jedes Vorurtheil zur Betrachtung und Untersuchung des Gegenstands geschritten, während er volle drei Jahre lang sich in das Original vertiefte, mit frischer Kraft seine Verdeutschung ausarbeitete und dabei die griechischen Rhythmen, Zeile für Zeile, mit lauter Stimme sich vorsang, ein Verfahren, welches ihm auf der einen Seite den höchsten Genuß verschafft hat, und welchem er auf der andern zugleich die lebendigste Auffassung der Form sowohl als des Inhalts zu verdanken glaubt. Ich dachte mich ganz in die Person und die Seele des vorzeitlichen Verfassers hinein, und bin auf diesem Wege zu einem Endergebniß gelangt, welches von den verschiedenartigen Resultaten der neueren Kritik weit abweicht, dagegen mit dem Glauben des Alterthums, wie er bis zur alexandrinischen Epoche bestanden hat, im Wesentlichen übereinstimmt, selbst in dem was sagenhaft erscheint. Denn ließ ich unter anderm die Blindheit des Homeros gelten, so brauchte ich diese Sage nur auf ihr rechtes Maß zurückzuführen.

Die von den Neueren angefachten kritischen Zweifel, die vornehmlich in der Forschung von Friedrich August Wolf wurzeln, kannte ich glücklicherweise nur in ihren allgemeinen Umrissen, als ich meiner Aufgabe mich näherte. Ich darf sagen glücklicherweise; denn diesem Umstande ist es beizumessen, daß ich von keiner vorgefaßten Meinung hingerissen war, sondern ganz unbefangen an die Arbeit ging. Daher verdankte ich im Grunde jenen Kritikern nichts [VII] weiter als die Anregung, ebenfalls das Auge auf die Gestalt der beiden Heldengedichte prüfend zu richten.

Vor allen Dingen muß ich denn jetzt nähere Beweise vorlegen, aufweichen meine Zuversicht fußt, wenn ich mein Ergebniß für das wahre, wenigstens für ein solches halten möchte, aus welchem alle von der Kritik erhobenen Bedenken und Schwierigkeiten, alle Eigenheiten und Widersprüche des Originals am leichtesten und vollkommensten sich erklären. Zuerst scheint es mir nothwendig, den Nachweis zu liefern, daß die Gesänge des Homeros unmittelbar aus freier mündlicher Dichtung hervorgegangen sind, ohne vorher niedergeschrieben zu sein, gleichwie aus einer Art Improvisation: gelingt mir dieser Beweis, so ist der Hauptbeweis für meine Ansicht geführt, und alle übrigen Folgerungen reihen sich an dieß Fundament mit Leichtigkeit an.

Man hat seit Wolf vielfach hin und her gestritten, ob Homeros bereits schreiben und lesen gekonnt habe oder nicht: allein dieser Streitpunkt ist bei der gestellten Frage gleichgültig, sei's daß wir seine Kenntniß der Schriftsprache völlig läugnen, oder daß wir ihm eine gewisse Einsicht in das Alphabet zugestehen. Die letztere Annahme dürfte übrigens die berechtigtere sein, da es sehr wahrscheinlich ist, daß die Griechen, wenigstens die hochgebildeten unter ihnen, nicht lange nach der Zerstörung Troja's die Zeichen der Schrift aus Phönizien und Aegypten überkommen hatten. Auf die mächtige kriegerische Bewegung der Völker am Mittelmeer folgte eine friedliche, dem Handel sowie dem geistigen Verkehre günstige Epoche. Doch wie gesagt, ist diese Frage hiebei unwesentlich, sobald dasjenige, was schon der Britte Wood vermuthete, meinerseits durch haltbaren Beweis erhärtet wird, daß nämlich der vor seinem Zuhörerkreise stehende Dichter, dem Zuge göttlicher Begeisterung folgend, seine Verse im Kopfe ersonnen und aus dem Kopfe hergesungen habe. [XVIII]

Uebergehen wir einstweilen die besorgliche Frage, wie es trotzdem möglich gewesen sei, das Gesungene jedesmal aufzubewahren, daß es nicht in die Winde verrauschte, so führe ich jenen Beweis, daß Alles in freier Mündlichkeit vor sich ging, aus dem seinen Werken aufgedrückten geistigen sowohl als formellen Gepräge oder aus der Beschaffenheit des gesammten homerischen Styles, in Bezug auf die Form sowohl als auf den Gedankengang. Alles an diesem Styl zeigt auf mündliches Werden oder vielmehr mündlich Gewordenes hin.

Erstlich, woher sollte die an Homer so vielbewunderte Einfachheit der Darstellung stammen, die den späteren Schriftstellern, vorzüglich den Erzählern in Prosa wie in Versen zum selten erreichten Muster gedient hat, wenn nicht aus dem freien und unmittelbar für das Ohr berechneten Vortrage? Der erste mit dem Schreibgriffel in der Hand arbeitende Schriftsteller des Hellenenvolks würde zwar schwerlich so unbedacht, wie viele heutige Autoren, für das bloße Auge des Lesers geschrieben haben, gewiß aber doch etwas künstlicher, ich möchte sagen schreibtischhafter, als wir es gerade an unserm Urvater der Poesie gewahren. Die mündliche, frei ertönende Rede des Dichters ließ weder schwerfällige und verwickelte Schreibsätze zu, noch gerieth sie überhaupt in allzuverschlungene Periodengewebe. Denn die bei Homer nicht selten vorkommenden anakoluthischen Sätze und die ewige Veränderung der Construktionen sind im Gegentheil die unverkennbaren Zeichen eines mündlichen Sprechers 1), den der Gedanke fortreißt und zu Sprüngen verleitet. [XIX]

Wie weit sich diese Einfachheit aber erstrecke, würde ich hier nicht näher zu erörtern veranlaßt sein, wenn die Philologen nicht die Wichtigkeit ihrer Erscheinung in Bezug aus die Ermittelung ihres Ursprungs seither vollständig außer Acht gelassen und übersehen hätten! Sie zieht sich zuvörderst durch das Feld der Gedanken, indem sie eine überaus häufige, in vielen Stücken regelmäßige Gleichförmigkeit der Vorstellung, wiederkehrend in Wort und Wendung, zur Schau trägt; wie man denn unter anderm immer ausdrücklich geschildert sieht, in welcher Lage, Stellung und Beschäftigung Jemand angetroffen wird, dem man einen Besuch abstattet. Ferner gehört hierher der Umstand, welchen man oft als ein Zeichen der Einfachheit besprochen, aber in seinem Ursprunge keineswegs erfaßt hat, daß die abgeschickten Boten immer, so weit es möglich ist, ohne alle Veränderung sich der nämlichen Worte für ihren Auftrag bedienen, die ihnen vom Auftraggeber vorgesagt worden: der frei dichtende Sänger hütete sich vor der unnützen Anstrengung, das einmal gut Gesagte irgendwie ohne Noth zu verändern 2). Ferner müssen wir den Umstand hierher ziehen, daß der Dichter sich so unendlich oft selbst in ganzen Reihen von Versen, sogar in mehreren Gleichnissen, ohne irgend eine erhebliche Abwandlung wiederholt; was so weit geht, daß verschiedene Personen sich auf die nämliche Weise über einen Punkt ausdrücken, ohne gegenseitig ihre Reden darüber gehört zu haben, wie Od. XXIII, 65–67 und XXII, 414–416. Dazu kommt ferner die Gleichstellung der Handelnden, wie, um ein schlagendes Beispiel anzuführen, die nacheinander auftretenden Hirten in der Odyssee (XX, 163–165, verglichen mit 174 –177 und mit [XX] 189–190) auf dem Schauplatze der Erzählung sich einfinden und das Wort ergreifen, wobei die nothwendigen Veränderungen in der Zeichnung nur geringfügig sind, man könnte sagen, fast marmorn sich ausnehmen.

Während also die erwähnten Stücke der Einfachheit, die leicht noch vermehrt werden könnten, in der innern Anschauung des Dichters wurzeln, der den Kreis seiner Vorstellung möglichst beschränken mußte, um für eine rasche Erzeugung des Vortrags sich das bequemste Feld zu eröffnen, ist es in formeller Hinsicht augenscheinlich, daß die Einfachheit des homerischen Ausdrucks ebenfalls ihre Quelle in der Nothwendigkeit hat, den freien Vortrag auf die leichteste Weise zu ermöglichen und nicht durch bunte Mannichfaltigkeit zu erschweren. So springen uns denn vor allem in's Auge eine große Anzahl von Redeweisen oder Phrasen, die gleichsam einen für den Gebrauch halbfertigen Styl ankündigen, und die überall mit Gewandtheit in das Versmaß geschmiegt werden. Sodann begegnen uns eine Menge vollständiger Hexameter, die fast stereotypisch an der rechten Stelle wiederkehren, neben umfangreichen Bruchstücken von solchen Sechsmessern, die theils verkürzt sind, theils plötzlich eine andere Wendung nehmen, welche der Sinn erfordert. Wie naiv klingt nicht unter andern, die Abänderung von Od. XVIII, 419 in Od. XXI, 264! Aus gleichen Rücksichten entspringt ferner auch die Sparsamkeit der Worte, welche den Sänger veranlaßt, dieselben Wörter von Personen und von Sachen zu gebrauchen (Od. I, 395 verglichen mit II, 293 und IV, 720) oder den nämlichen Ausdrücken eine gar sehr verschiedene Bedeutung unterzulegen (Od. XIV, 36 und XXIII, 193). Diese Sparsamkeit erreicht den Grad einer scheinbaren Armuth, indem der Sänger kein Bedenken trägt, gewisse einzelne Wörter, namentlich Substantive (νῆες, θεοί, Ἀχαιοὶ und andere) sowie Adjektive (καλός, κακός), innerhalb der engsten Versräume zu [XXI] wiederholen, wie denn δῖος Od. XVII, 506–508 innerhalb dreier Hexameter dreimal auftritt: Niemand wird behaupten wollen, daß der Dichter aus rhetorischen Gründen oder vielleicht um der Deutlichkeit seines Ausdrucks willen zu dieser Zuflucht genöthigt gewesen ist. Dahin müssen wir überhaupt auch jene bedeutende Summe von ehrenden oder charakterisirenden Beiwörtern rechnen, welche seither jedem Leser des Homer aufgefallen sind, ohne daß irgend Jemand an den wahren Grund ihres Vorhandenseins gedacht hat.

Wie nun alle diese Erscheinungen der Einfachheit, die geistigen sowohl als die formellen, das schwerste Gewicht in die Wagschale werfen für die Annahme, daß Homeros aus freiem Mund gesungen hat, so giebt es noch mehrere andere Anzeichen, die im Bunde mit jenem ersten Nachweis die Behauptung zur unumstößlichen Gewißheit zu erheben geeignet sind. Zweitens nämlich ist das Augenmerk auf die nie versäumte Ankündigung des Dichters zu lenken, wenn Jemand sprechen will, sowie auf die Angabe, daß Jemand gesprochen und seine Rede beendigt hat. Ueberall geht ein voller Hexameter voraus, welcher die Person, die das Wort ergreift, häufig auch die Art und Weise wie sie gestimmt oder gelaunt ist auf das allerbestimmteste angiebt. Ein Schreibender würde dieß oft unnöthig befunden haben; ein frei dastehender Sänger dagegen mußte dem frei dastehenden Zuhörer stets genau sagen, wer jedesmal an der Reihe der Erwiederung sei, damit er nicht in der Person irre, sondern den Gang der Verhandlungen leicht und sicher unterscheide und überschaue. Virgilius in der Schreibstube dachte nicht an eine solche Notwendigkeit, trotz seiner vielfachen Nachahmung des Griechen; er bildete sich schon Leser ein, die allenfalls Zeit haben, die Blätter im Falle eines Zweifels zurückzuschlagen. Das konnte dem in gewisser Hinsicht improvisirenden und gleichsam dramatisch wirkenden Sänger nicht beifallen: er kündigte um der [XXII] Sicherheit des Verständnisses willen regelmäßig auch den Schluß der Rede und ihre jedesmalige Wirkung an (ὣς ἔφατο, ὣς οἱ μέν, ἦ ῥα u. s. w.). Nicht einmal an eine Einschaltung der Wörter „sagte er“, „sprach er“, „rief er“ hat er bei dem Wechselgespräche der Hauptpersonen gedacht, eine Anzahl neuer Worte aus der nächsten Entgegnung vorausschickend, wie wir es häufig in andern, anders entstandenen Gedichten finden; vielmehr führt er fortwährend, theils ganz umständlich, theils vermittelst eines vollen Verswurfs den jedesmaligen Sprecher ein 3).

Drittens empfängt der so häufig seinem Substantiv vorausgeschickte, auf das mehr oder weniger spät nachfolgende Substantiv hinweisende Artikel (οἱ, τὸν, τοὺς u. s. w,) nur aus dieser Rücksicht seine rechte Erklärung. Der frei vortragende Sänger brach hierdurch oft seinem Redestrome eine gemächlichere Bahn: er zeigte hin auf das, was sein Mund später hinzufügen würde. Der Hörende seinerseits hatte daran eine zeitige Unterstützung.

Viertens finde ich einen Beweis in den einzelnen Absätzen der Erzählung, welche mit αὐτὰρ ἐπεὶ mit ἀλλ᾽ ὅτε δὴ und dergleichen Partikeln anheben. Diese stoßweisen, in einer Schilderung oft dreimal und viermal frisch ansetzenden Wendungen  4) scheinen mir ein [XXIII] sehr charakteristisches Merkmal für einen aus freiem Erguß dahinstromenden Vortrag zu sein. Der Sprechende bedient sich gern solcher äußerer Hülfsmittel der Anknüpfung und vergißt es leicht, sie bereits schon mehr als einmal gebraucht zu haben  5). Genug, auch in ihnen spiegelt sich offenbar die Lebendigkeit rascher und doch gemächlich fortschreitender Entfaltung ab. Auf mein Ohr äußern sie überdies die Wirkung, daß ich an jedem solchen Punkte den frischen Anschlag der Leier zu vernehmen glaube, welche die Worte des Gesangs begleitet.

Fünftens spricht die gesammte Form des homerischen Hexameters, die rythmische sowohl als die allgemein sprachliche, für den genialen lebendigen Wurf des Freischaffenden. Der Erfinder der daktylisch-spondeischen sechsgliederigen Versform war Homeros allerdings nicht; Orakelsprüche, Sprüchwörter und Sentenzen aller Art, wie wir sie bei dem Hesiodos lesen, jedenfalls auch Gesangstücke zeitgenössischer, vor und während des trojanischen Kriegszuges aufgetretener Poeten waren in diesem Maße abgefaßt worden und hatten die Volksthümlichkeit solcher Melodie vorbereitet. Aber zum größten Meister dieser Form schwang sich Homeros in jeder Beziehung auf, wie er denn überhaupt an seltener Schöpferkraft als der hellste Stern durch jene dunkeln Jahrhunderte leuchtet; er hat die schönsten, von Niemand übertroffenen und fast in keiner Zunge wieder erreichten Hexameter gebaut. Bei seiner hohen natürlichen Begabung kam ihm, was wir nicht vergessen dürfen, der Zustand außerordentlich zu Statten, worin [XXIV] sich seine Muttersprache zu jenen Zeiten befand: sie war durch die Leistungen keines Meisters bereits in Regeln eingezwängt, sondern erlaubte ihm die freiste Bewegung und jeden nur erdenklichen Kunstgriff in ihrer Ausbildung, ohne daß er zu besorgen brauchte, bei der Nation durch seine Kühnheiten anzustoßen.

Was daher die rhythmische Form anlangt, sehen wir, daß er die hexametrische Gliederung lediglich nach dem lauten Klange für das Ohr ausgebaut hat, also auch frei gesungen haben muß, seine Verse nicht vorher im stillen Gemache schweigend niedergeschrieben haben kann. Nur sein eigenes Ohr um den Wohlklang befragend, um nichts Anderes bekümmert, fügte er die doppelte Dreigliederung zusammen, indem er daktylische und doppellängige Füße ohne Unterschied gebrauchte, aber so anwendete, wie es nicht nur die allgemeine Harmonie gebot, sondern auch der mit dem Tone verbundene Sinngehalt aufs treffendste und natürlichste verlangte. Sein Hexameter hat durchaus keine daktylische Grundlage, wie sie spätere und heutige Schultheorie feststellt: er bringt den Spondeus beliebig auf allen sechs Füßen an oder vielmehr an jeder Stelle, wo er es passend findet, nämlich dem Sinne entsprechend und dem wohlgefälligen Laufe und Ablaufe der rhythmischen Tonwoge zusagend. Dabei läßt er kein anderes Element als den Klang über das Maß der Sylben entscheiden, und macht, was noch Niemand recht beachtet hat, jegliche Sylbe in der Arsis lang, wenn sie auch einen kurzen Vokal hat und der Position entbehrt, so daß er unzählige Male selbst das Epsilon verlängert, welches doch ohne Zweifel den allerschwächsten Vokalton besitzt. Die Annahme von Konsonantenverdoppelungen, um der Position Rechnung zu tragen, sowie die Annahme des äolischen Digamma sind schlechtausgedachte Nothbehelfe von Kritikern, welche jene Macht des Tonschwungs [XXV] nicht begriffen hatten 6). Schon die Unmöglichkeit, überall zutreffende bestimmte Gesetze für diese Annahmen aufzustellen, hätte die Metriker über das Phantom aufklären sollen, das sie sich selber schufen, in der ängstlichen Meinung, die Vollendung des homerischen Versbau's hänge davon ab 7). Homeros achtete nicht einmal auf den Accent der gewöhnlichen Aussprache (ein Punkt, der jedenfalls seine Richtigkeit hat), sondern lauschte nur, was zur Richtschnur für alle nachfolgenden hellenischen Dichter wurde, dem musikalischen Klange der Sylbe nach, ob sie zur Kürze oder zur Länge sich eigne, und hielt die einmal für sie angenommene Messung, was die Längen betraf, mit größter Konsequenz fest. Es fiel ihm niemals ein, langvokalige oder durch Konsonantengewicht verlängte Sylben zu verkürzen: das feine Ohr des Griechen duldete dieß niemals, und mußte ja eine derartige als Länge herausgehörte Sylbe zur Kürze herabgedrückt werden, so half er sich auf dem Wege der Sprachbildung, die Sylbe oder das Wort anders formend  8). Gleichwohl warf er den gewöhnlichen Sprachaccent nicht blindlings zur Seite. Wo der Sinn oder vielmehr das leichtere Verständniß des Sinnes gebieterisch auftrat, stellte er die Sylben so, daß die gewöhnliche Betonung mit der rhythmischen zusammentraf und harmonirte, wie wir am deutlichsten aus einem Beispiele der Ilias XXII, 57 sehen, wo im beginnenden [XXVI] Hexameter Τρῶας καὶ Τρωὰς, aber keineswegs Τρωὰς καὶ Τρῶας die rechte Stellung war 9).

Doch näher auf die rhythmische Seite einzugehen, ist hier nicht der Ort; ich überlasse die tiefere Entwicklung dieses Punktes Metrikern wie einem Wilhelm Dindorf und wende mich zur sprachlichen Seite des homerischen Hexameters. Zum Ersten möchte ich eine kühne Muthmaßung darlegen, welche die poetische Wortstellung der Griechen betrifft. Wenigstens unsere Schulherren werden jedenfalls darin eine gewaltige Kühnheit erblicken, daß ich die Behauptung ausspreche, die Möglichkeit sowohl als die Gew?hnheit einer freieren Wortstellung in dem griechischen Satzbau der Poesie sowohl als der Prosa sei aus dem mündlich freien, lebensvollen Gesangsvortrage entsprossen, vor allem aus dem des Homeros, als des für die Hellenen größten, angesehensten und frühzeitigsten unter ihren Autoren. Was der Vater der Poesie gewagt, durften die späteren Poeten wohl nachahmen, selbst auch die Prosaiker, obwohl diese in beschränkterer Weise: das Publikum hatte sich durch den Homeros daran gewöhnt! Wenn dieser im Gesang seine Lippen öffnete, horchte andächtig der Grieche auf die kommenden Laute: in welcher Reihenfolge sie kamen, ließ der Hörer sich bei dem musikalischen Wohllaute und dem langsamen Vorüberwogen der Sylben ruhig gefallen. Es kümmerte ihn nicht sehr, ob das vorausgeschobene Substantiv auf sein Adjektiv lange zu warten hatte, oder ob es gleich hinterher folgte; ob das [XXVII] Zeitwort diese oder jene Stelle des Satzes einnahm; ob das Objekt oder das Subjekt den Vorrang hatte; ob die Partikel da oder dort stand. Alles dieß überließ er dem Gutachten des Sängers, wohl wissend, daß dieser ihn nicht im Stiche lassen, sondern das Rechte treffen werde. So konnte denn der gerngehörte Homeros, um das nächste Beispiel zu nehmen, οὐλομένην im zweiten Hexameter ohne Sorge auf μῆνιν an der Spitze des ersten in der Ilias nachfolgen lassen; ja er durfte bis zu der gewagtesten Stellung fortschreiten, wie wir sie Il. XVI, 104–105 antreffen, wo δεινήν von καναχήν durch sechs Wörter getrennt steht (δεινὴν δὲ περὶ κροτάφοισι φαεινὴ πήληξ βαλλομένη καναχὴν ἔχε), eine Stelle, wodurch man die Lesart Od. XIX, 461–462 χαίροντα φίλην χαίροντες ἔπεμπον εἰς Ἰθάκην unbedingt gesichert findet 10). Die gleichsam mit der Muttermilch eingesogenen volksthümlichen Gesänge des Homeros, die zur Leier erschollen, wie sie unter dem Klange der Leier lebensvoll entstanden waren, machten solche Kühnheit natürlich und dem Ohre der Hellenen vertraut. Daß die Form ihrer Sprache, wegen des Reichthums, wegen der Biegsamkeit und Bestimmtheit in der Abwandlung der Endungen, gute Dienste hierbei leistete, versteht sich von selbst, ist aber eigentlich Nebensache, da dieser Vorzug allein nicht den Ausschlag geben konnte für eine ebenso kecke als reizvolle Wortstellung.

Von dieser Muthmaßung jedoch abgesehen, obschon sie schwerlich widerlegt werden kann, finde ich in sprachlicher Hinsicht einen Beweis dafür, daß der Sänger Homeros seine Hexameter aus dem [XXVIII] Stegreife (wenn ich so sagen darf) gesungen hat, erstens in der hohen Kunst, womit er den Inhalt unter die rhythmische Versfessel gebändigt, zweitens in der Bildung neuer, blos einmal oder sehr selten vorkommender Wortformen, Ausdrücke und Endungen, drittens in gewissen zur Ausfüllung des Verses dienenden Gesangnachklängen und in mancherlei Gesanganklängen. Der erste Punkt hängt mit dem richtigen Gefühle dessen zusammen, was gesagt werden muß, zu sagen nothwendig ist; überall sind die Gedanken von dem Dichter so entfaltet, daß der Ausdruck für dieselben vollkommen ausreicht: sie sind genügend eingekleidet, selbst bei der größten Beschränkung des Raumes, welcher für sie vorhanden war. Nie setzt ihn der Mangel an Raum in Verlegenheit. Denn wo er zur höchsten Kürze gezwungen ist, nachdem er schon vielen Platz sich vorweggenommen hat, während doch der Hauptgedanke des Satzes seiner Entfaltung erst entgegensieht, weiß er sich stets mit siegreicher Gewalt durchzuschlagen, so daß nichts an der Ausführung vermißt wird. Vermöchte er dieses nicht, so würde er häufig den Raum erweitern müssen und dadurch in fehlerhafte Breite verfallen. Seine Kunst sehen wir trefflich an einem Beispiele der Od. XVIII, 32–33, wo von zwei mit einander Zankenden gesagt werden soll: daß sie gegenseitig auf das Heftigste sich erbitterten. Schon sind mit Angabe der Oertlichkeit, welche die Scene malerisch abschließt und deßhalb, in ihrem Umsange wohlberechtigt ist, ein ganzer und ein halber Hexameter ausgefüllt:

 

ὣς οἱ μὲν προπάροιθε θυράων ὑψηλάων

οὐδοῦ ἔπι ξεστοῦ,

 

und die Hörenden sind gespannt auf die Zeichnung des Hauptgedankens, für welchen nur ein halber Vers übrig bleibt, wofern der Dichter nicht weiter ausgreifen will, als es für den Gedanken eigentlich [XXIX] nothwendig ist. Allein er weiß sich zu helfen, indem er keck die Worte hinwirft:

 

πανθυμαδὸν ὀκριόωντο

 

die so kräftig auftretend sich entfalten, daß der Satz zur vollsten Befriedigung für das Ohr wie für den Geist abrollt. Eine so bewundernswerthe Herrschaft über das Geheimniß der künstlerischen Notwendigkeit konnte offenbar nur gezeigt werden durch Mündlichkeit des Vortrags, bei welcher das Gefühl am sichersten und raschesten entscheidet, ob man sich recht und zur Genüge ausgedrückt hat. Das zuletzt angeführte Beispiel streift schon an den zweiten Punkt, welcher die homerische Formbildung betrifft. Wie der Sänger an jener Stelle die beiden kühngebauten Worte πανθυμαδὸν ὀκριόωντο mit einem Meisterhiebe aus dem Schatze der Sprache heraushaut (sie kommen anderwärts nicht vor), so sorgt er in dem Falle, wo der Vers für seinen richtigen Ablauf keinen neuen Gedanken, aber einen Rhythmenzug offen hat, augenblicklich für ein neues Wort, das diesem Zwecke dient, sobald ihn der gewöhnliche Wortvorrath im Stiche laßt. So schiebt er Od. XVIII, 41 zwischen πτωχούς und ἠγερέθοντο ohne Weiteres das neugeformte Beiwort κακοείμονας ein, oder schmiedet Od. XXIV, 167 den Rhythmus durch ein sylbenreiches neugebildetes Substantiv zurecht 11). Anderwärts, wo eine Sylbe für den Hexameterwurf fehlt, vermehrt er die Wortformen; so streckt er Od. III, 299 das sonst gebräuchliche Beiwort κυανοπρώιρους um eine Sylbe weiter, indem er den Vers mit τὰς πέντε [XXX] νέας κυανοπρώιρείους schließt, oder dehnt ἀγαμένου Od. XX, 16 in ἀγαιομένου, desgleichen ἀείδει Od. X, 227 in ἀοιδιάει, vertrauend auf den melodischen Klang seiner Rhythmen. Wo dagegen ein Ueberschuß da ist, schneidet er Sylben weg, wie er denn überaus häufig die merkwürdigsten Modusformen sich erlaubt: ἄγεν, ἄλεν, ἄνοιτο (statt ἀνύοιτο), λελῦντο 12). Wie daher μεθίεν für μεθίεσαν und Aehnliches durch Verkürzung gebildet wird, so durfte auch Wilhelm Dindorf Od. XX, 383 ἄλφοιν setzen.

Noch klarer sprechen sich drittens die gemüthlichen Gesangnachklänge aus, wie unter anderen Od. XVIII, 109 die zweite Vershälfte ἐν δὲ στρόφος ἦεν ἀορτήρ an dieser Stelle nichts als eine Art Ausfüllung des Verses von Seiten des vortragenden Sängers ist, fortgepflanzt aus früheren Stellen. So schleppt sich weiter unten V. 207 der ganze Vers gemüthlich nach, obgleich die Angaben V. 182 und 198 diese schließliche Erwähnung als vollkommen überflüssig erscheinen lassen könnten. Hieraus finden ferner die erläuterndn Zusätze, die bisweilen auf ein vorausgegangenes Partizip odr Adjektiv gegeben werden, ihre einzige natürliche Erklärung: Il. XI, 475 βεβλημένον, ὅντ’ ἔβαλ’ ἀνήρ, unter Vergleichung von XVII, 5; IX,124 und VIII, 528, welcher letztere Vers keinesfalls als ein unächter und überflüssiger Zusatz von den Herausgebern eingeklammert werden durfte. Endlich müssen gewisse Wiederholungen als offenbare Gesanganklänge betrachtet werden, welch lyrischen Schwung athmen, wie die in Il. II, 671-673, wo der Name Νιρεύς dreimal zu Anfange dreier Hexameter hinter einander auftritt. Ferner Od. VIII, 418-423, wo der Genetiv Ἀλκινόοιο nicht weniger als viermal innerhalb sechs Hexametern (dreimal am Ausgang der Verse) ertönend ein unabweisliches Merkmal dafür [XXXI] liefert, daß der Text laut zur Musik der Leier gesungen wurde. Denn eine Art melodischen Sanges und Klanges weht selbst den lauten Leser aus solcher Gleichmäßigkeit des Tonfalles an.

 

 

IV.

Fortsetzung jener Begründung und

Zurückweisung anderer Ansichten.

 

Ist im letzten Abschnitt jener Nachweis gelungen, daß Homeros seine Gesänge aus mündlich freiem Guße unmittelbar schaffend hervorgebracht, so ist zugleich auf diesem Wege die selbstschöpferische Ursprünglichkeit seiner Gesänge dargethan, und mit dieser wiederum die hohe Wahrscheinlichkeit, daß der Schöpfer dieser Poesie in die frühste Zeit, also in das Jahrhundert des trojanischen Heerzuges selbst zu setzen sein möchte. Denn Eines folgt aus dem Andern mit einer Notwendigkeit, welche fast, möchte ich sagen, eine logische ist. Niemand erstlich wird frei hintretend seiner Nation etwas vorsingen und dabei Sammelsurien früherer Bearbeiter zu Grunde legen, zu einem Ganzen abgerundet, vereinigt und vermehrt: freie Schöpfung und Zusammenträgerei, ursprünglicher Guß und bloße Ueberarbeitung enthalten einen Widerspruch, welchen seither nur die Stumpfheit philologischer Stubenhocker als mit der Vernunft verträglich zu erachten vermochte. Einen Blick in die Welt des Schaffens kann freilich nur derjenige haben, welchem die Natur eine poetische Ader nicht versagt hat und der dadurch in den Stand gesetzt ist, selbst die Leier zu schlagen. Zweitens eine so helle Begeisterung, wie zu einem freien Gesange gehört und wie Homeros zeigt, für Dinge zu empfinden, welche Jahrhunderte vorher [XXXII] geschehen sind, und von welchen nur die Urgroßväter noch einzelne durch Lieder fortgeführte Reminiszenzen zu berichten wissen, ist weit unwahrscheinlicher als die Annahme, der Dichter habe näher an jenen Zeiten gelebt, wo alle Gemüther noch erfüllt waren von dem frischen Eindrucke der Ereignisse. Kam dem Sänger doch in letzterem Falle auch die bessere Stimmung des Publikums zu Statten, welches leichter zur Theilnahme hinzureißen war. Zu allen Zeiten aber war und ist eine gewisse lebhafte Theilnahme für den Schaffenden unentbehrlich. Denn ohne sie würde sicherlich bald auch die lebhafteste Flamme der Begeisterung im Herzen des Dichters verflackert sein. In jenen grauen Vorzeitstagen war überdieß die freudige Begrüßung einer geistigen Leistung um so nothwendiger, als die äußere Verbreitung derselben fast einzig und allein von der persönlichen Wirksamkeit und Thätigkeit ihres Schöpfers abhing. Doch giebt es auch noch andere Gründe, welche uns geradezu nöthigen, den Homeros als Augenzeugen nach der Küste von Troja und auf die Hauptschauplätze seiner Gesänge zu versetzen.

Diese Gründe, welche ich aus der Treue so vieler Zeichnungen des Dichters herleite, sollen weiter unten angeführt werden. Vorerst muß ich auf die geistige Thätigkeit des großen Sängers zurückkommen, um weitere Aufklärung über die Art und Weise zu geben, wie er nach dem bereits Gesagten in seinem Schaffen vorschritt und der reiche epische Erzähler wurde, welchen das Alterthum wie die neuere Zeit in ihm gefeiert hat. Nachdem der kühne Poet einen ersten Griff in die troischen Begebenheiten zurückgethan und ein Ereigniß ausgewählt, dessen Beschaffenheit seiner Leier würdig schien, malte er dasselbe aus und machte es fertig. Seine Kraft versuchend und erprobend fing er an, getrieben von der allmächtigen Neigung seines Geistes: es lebte in ihm der nämliche Drang, welcher die Lerche veranlaßt singend sich in die Lüfte zu schwingen. Einen großen, wo [XXXIII] nicht den größten Theil der ihm vorschwebenden Gedanken arbeitete er stillen Nachdenkens in der Seele aus, sang das in Rhythmen Gefügte allein vor sich ab, und trat alsdann aufs Beste vorbereitet und ausgerüstet vor das Zuhörerpublikum, im Uebrigen auf die Macht seiner Begabung sich verlassend. Beifall lohnte und erfreute den Sänger. Wiederholt trug er hierauf das Gedicht oder das erzählende Liedbruchstück vor, spann es ämsig aus und vervollkommte die Rhythmen, bis das kleine Werk im Innern festgewachsen war und wie ein abgeschlossenes Bild im Gedächtnis haftete. Das ganze Geschäft erleichterten ihm unendlich jene im vorigen Kapitel auseinandergesetzten Begünstigungen, die Einfachheit der Umrisse, die Freiheit des Rhythmus und die Vortheile der Sprachbildung. Eine gewiß nicht geringe Uebung in der wohltönigen und fügsamen Muttersprache, auf kürzere freie Vorträge gerichtet, war diesem Fortschritt, diesem ersten umfangreicheren Wurfe von etlichen hundert Versen vorausgegangen.

Nachdem auf solche Weise der Anfang geglückt war, steigerte sich das Vertrauen des Dichters. Er knüpfte entweder eine Fortsetzung an oder es stellte sich ihm ein anderes Ereigniß aus dem Schatze sei's des Gesehenen, sei's des Gehörten, stoffreichen und poetischen Schmuckes fähig, vor die auflodernde Seele. Dergestalt schmiedete er in der heißen Werkstatt seiner Brust die in die Brust treffenden Geschosse seiner apollinischen Gesänge nach und nach fertig. Alle trug er vermöge seines Gedächtnisses wohlgesichert mit sich umher, während er durch die Gefilde von Hellas wanderte. Aber wie lange? Je mehr sich die Anzahl dieser Liedbruchstücke häufte und das Panorama seiner Muse erweiterte, desto mehr lief er Gefahr, das Echo der einzelnen Leierschläge in dem heiligen Schachte seines Innern theilweise zu ersticken oder nicht wiederzufinden. Denn wie konzentrirt auch die geistige Thätigkeit in jener Zeit zu sein pflegte, allzuviel durfte sie [XXXIV]

doch nimmer der Stärke des Gedächtnisses aufbürden. Daher mußte er auf Erhaltung des Gesungenen zu denken anfangen: er wählte jüngere Gehülfen, sei es Söhne, sei's Verwandte, sei's Liebhaber der Poesie und des Gesangs: diese lernten die von dem Vater Homeros ausgesonnenen herrlichen Erzählungen, um sie nicht allein vor der Vergessenheit zu schützen, sondern auch in weiteren Kreisen, zur Begeisterung der Nation, nach der Weise ihres Erfinders erklingen zu lassen. Sie traten gleichsam in die Fußtapfen des Ursängers.

Nichts indessen hindert uns anzunehmen, daß Homeros, von Jugend auf dem Ausbilden des lebendigen Sprachklanges geweiht, in früherem Alter schon die Schriftzeichen gekannt und zeitig angefangen habe, die von ihm vollendeten Gesänge, sei's ausführlich, sei's irgendwie gekürzt aufzuzeichnen. Seine Werke geben nicht die geringste Andeutung, daß er im Besitz der Schreibkenntniß gewesen, enthalten aber auch nichts, was entschieden dagegen lautet; im sechsten Buche der Ilias vielmehr scheint das σήματα γράφειν von Wolf und seinen Nachfolgern allzuängstlich ausgelegt zu sein. Durch ganz Kleinasien, wie wir heutzutag besser und besser in Erfahrung bringen, abgesehen von den Bewohnern des ägyptischen Delta's, war die Schreibkunde schon in sehr alter Zeit verbreitet; wer möchte glauben, daß sie nicht nach Griechenland, daß sie gerade nicht zu dem an Geist seinen Zeitgenossen so weit vorragenden Homeros gedrungen sei? Die krltisirenden Zweifler sollten doch der Nothwendigkeit einer Thatsache ihr Recht zugestehen, anstatt die Welt zwingen zu wollen an ein Wunder zu glauben! Und ein Wunder wäre es wahrlich gewesen, wenn von den Gesängen des Homeros eine solche Reihe sich blos durch mündliche Fortpflanzung mehrere Jahrhunderte lang forterhalten halte! Was ist, um das Auge auf die jüngere Weltgeschichte zu lenken, von den Gesängen oder Schriftwerken der alten Germanen, von der ersten gothischen Bibelübersetzung und andern [XXXV] Denkmälern übrig geblieben, obgleich in jenen Tagen die Kunst des Schreibens über das gesammte Europa verbreitet war? Höchst wahrscheinlich ist es ohnehin, daß schon in den frühsten Jahrzehnten, trotz ihrer Niederschrift, ein großer Theil der homerischen Gesänge zu Grunde gegangen ist.

Denn der Dichter hat, wie man aus der Beschaffenheit des Ueberlieferten leicht schließen kann, weit mehr gesungen, als uns überliefert worden ist. Das wohlprüfende Auge erkennt in den achtundvierzig Gesängen der Ilias und Odyssee nichts als eine Anzahl umfangreicher Bruchstücke, welche von der einstigen Gesammtsumme vielleicht kaum die Hälfte betragen! Eine Menge der wichtigsten Momente aus den troischen Geschichten und den mit ihnen zusammenhängenden Begebenheiten fehlen ganz, wie ich oben in den ersten beiden Abschnitten anschaulich gezeigt, oder sind in den erhaltenen Resten kaum berührt.

Aber, wird Jemand vielleicht einwenden, wollte denn Homeros nicht ein Ganzes zu Stande bringen, ein abgerundetes Kunstwerk, welches auf die zur Nachwelt geretteten Gesänge in wohlüberlegter Weise beschränkt war? Wollte er nicht blos die Folgen des Achilleuszornes und die Heimkehr des Odysseus wie ein Paar eingerahmte Gemälde hinstellen? Mit nichten, ist hierauf zu erwiedern. Der in der Welt umherwandernde Sänger Homeros hat niemals an das planmäßige Ganze eines Epos in derjenigen Weise gedacht, wie es etwa ein Künstler thun würde, der eine Schlacht beschreibt oder eine tragische Handlung zur wohlgeordneten Tragödie gestaltet. Homeros besang und erzählte – ein volksthümlicher Naturdichter – die einzelnen Großthaten und Schicksale der Helden, erst die troischen, dann die nachtroischen, nicht gerade in einer zusammenhängenden historischen Reihenfolge, sondern wie sie ihm als besonders merkwürdig vor die Seele traten. So warf er die [XXXVI] Gesänge einzeln hin, ihre Summe nach und nach vermehrend, wobei es allerdings nicht fehlen konnte, daß eine Anzahl derselben den nämlichen Gegenstand behandelnd hintereinander fortlief und in einem bestimmten Zusammenhange ausgeführt wurde; an diese schlossen sich alsdann andere an, mehr äußerlich als innerlich verbunden. Die unglücklichen Schlachttage der Ilias, wo der zürnende Achilleus theilnamlos in seinem Gezelte die Leier spielend saß, der Fall des Patroklos und die Aufhebung seiner Leiche, die nachherige Rache des Peleussohnes und die Tödtung des Hektor bilden derartige aus mehreren Gesängen zusammengesetzte Hauptstücke, die einzeln für sich entstanden und dann sich an einander anschlossen; desgleichen auch in der Odyssee die vor dem Könige der Phäaken erzählten Irrfahrten des Odysseus, die Reise des Telemachos, das rächerische Eintreffen des Irrfahrers auf Ithaka. Welcher von diesen und andern Hauptstoffen zuerst durch den Sänger in Worten verklärt ward, läßt sich in keinem Falle bestimmen; um von der Odyssee zu reden, konnte die Zurückkunft des Odysseus und sein Rachewerk an den Freiern ebenso gut das Erste sein, was er von dem göttlichen Dulder erzählte, als die Schilderung der früheren Irrfahrten, deren wunderbare Abenteuer seine Phantasie vielleicht hinterdrein erst allmählig zusarnmenwob.

Der Vater der griechischen Poesie also schuf im Verlauf der Jahre eine Menge nationaler Heldenlieder, von vornherein an kein Ganzes dabei denkend. Woher aber wird der Kritiker fragen, rührt die spätere und heutige Einheit der Ilias sowohl als der Odyssee? Die Antwort ist leicht zu geben: aus der nachmaligen von Peisistratos anbefohlenen Sammlung der Ueberreste, für deren Erhaltung schon Solon Schritte zu thun nothwendig fand. Wie und durch welches Mittel brachte man jedoch, wird man weiter fragen, solch schönen Zusammenhang in die angeblich stückweise entstandenen Gesänge? [XXXVII]

Ueber die Berechtigung dieser Frage, über den schönen Zusammenhang wird weiter unten mehr zu sagen sein. Zuvörderst erwiedere ich darauf, daß durch ein günstiges Geschick um die Zeit des Peisistratos gerade noch so viele umfangreiche Trümmer sich vorfanden , daß ein gewisser Zusammenhang der Erzählung hergestellt werden konnte. Und daß man bei den Abschriften, die nunmehr von den Gesängen gefertigt werden sollten, auf eine möglichst angemessene und gleichsam chronologische Reihenfolge sein Augenmerk richtete, wird Jedermann natürlich erachten; denn die Natur der Sache brachte es jetzt mit sich, wo der Mund des Sängers längst verstummt war, seine Leistungen einmal äußerlich abzuschließen. Es war die höchste Zeit, daß man zu solchen Maßregeln griff, wenn die Lücken in den schon alten Ueberlieferungen nicht bis zu einem Umfange sich erweitern sollten, daß nichts als zusammenhanglose Fragmente aus dem Schatze wurden.

Bei dieser Anordnung halfen dem Peisistratos mehrere geschickte Köpfe, und das Verfahren war, wie aus der Prüfung des zwiefachen Epos einleuchtend wird, etwa folgendes. Zuerst reihte man die im Stoffe sowohl als in der Verarbeitung des ursprünglichen Meisters verbundenen Stücke an einander; man faßte Alles zusammen, was dahin gehörte, aus den Ueberbleibseln rettend, was zu retten war. Die kürzeren Trümmer anderer Stücke alsdann, so weit sie aus dem fortpflanzenden Gedächtnisse der Menschen oder aus Niederschriften aufgebracht werden konnten, fügte man als kleinere Episoden überall an derjenigen Stelle ein, welche die für ihre Aufnahme geeignetste schien. Die allzugrell hervortretenden Ungleichheiten, die in das Auge fallenden Lücken, die gleichsam verwitterten Stellen der Erzählung bemühte man sich zu bessern, auszufüllen und in einen erträglichen Einklang zu bringen. Kleinere Sätze, manche einzelne Verse, zusammengestellt im homerischen Style, schob man solchergestalt ein, [XXXVIII] wo es durchaus nöthig schien, die heilende Hand anzulegen. So gelang es der Redaktion, das Aufgesammelte in zwei Hauptschichten zu vertheilen, in die troische (Ilias) und in die nachtroische (Odyssee).

Die Spuren aber der ehemaligen Getrenntheit oder Zerrissenheit (wenn ich dieß starke Wort brauchen darf) blieben trotzdem sichtbar; denn ganz vertilgen wollte man sie nicht, wenn sie auch vertilgbar gewesen wären. Man ging absichtlich nicht weiter. Die Gewissenhaftigkeit jener einsichtsreichen Männer unter Peisistratos, ihre Pietät gegen den gefeierten Nationaldichter war zu groß, als daß man sich erlaubt hätte, hier durch Ausscheiden, dort durch Einsetzen und Hinzudichten, dort durch Glättung und vervollkommnende Ueberarbeitung die glücklich gewonnenen beiden Hauptparthien dermaßen abzurunden, daß jeglicher Mangel an Kern und Schale verschwand, gleich als wären sie von allem Anfang an, nach einem regelrechten Plane und in Einem Guße, künstlerisch entworfen und ausgeführt worden. Kurz, die Redaktoren mochten nicht ein Werk thun, wie es der oberflächliche Blick moderner Philologie einem Homer als bloßem Zusammenreiher und seichtem Ueberarbeiter vorgefundener Heldensagen zugeschrieben hat. Es lag ihnen nichts an der Herstellung eines fehlerlosen künstlerischen Ganzen, wobei die Ueberlieferung noch mehr eingebüßt haben würde; sie ließen alle jene Gebrechen stehen, an welche sich späterhin zuerst die alexandrinischen Kritiker und Scholiasten stießen. Einer aus der letzteren Klasse, wie man glaubt, Aristarchos aus Samothrazien, theilte die seither ungetheilten Liederreihen der Ilias sowohl als der Odyssee schließlich nach den Buchstaben des Alphabets ab, indem er die Gesänge der einen wie der andern Hauptparthie wohl oder übel auf vierundzwanzig Stück einschränkte; eine Anordnung, von welcher Homeros sich niemals das geringste hat träumen lassen. Die Neueren schlossen sich hierauf den Alexandrinern [XXXIX] in ihrer kritischen Sichtung an, bis der Text in seiner heutigen Gestalt zu Stande kam, sprachlich auf das sorgfältigste gereinigt, aber rücksichtlich seines vorweltlichen Urhebers bis auf diese Stunde den heillosesten und wunderlichsten Angriffen preisgegeben.

Aus der gedrängten Darstellung, die ich im Obigen versucht habe, tritt das Bild des Homeros und der Weise seines Schaffens plastisch heraus. Ich brauche keine weiteren Hülfstruppen herbeizurufen, um das schwere Geschütz zurückzuschlagen, das die modernen Gelehrten aufgefahren haben gegen die von dem Alterthum bis auf der Alexandriner Zeiten festgehaltene Einheit des Homer. Sie ist, hoffentlich für immer, gerettet. Denn die Harmonie sowohl als die Disharmonie des heutzutag vorliegenden Textes findet aus meiner hier vorgelegten Entwicklung ihre vollkommenste und allereinfachste Erklärung. Es wird künftighin überflüssig sein, nach andern Wegen spitzfündig zu suchen, um das quälende Räthsel dieser Erscheinung zu lösen. Die Harmonie einerseits anlangend, ist sie in ihrem innern Grundwesen so entschieden, wie bei jedem andern Dichter, der durch Originalität sich auszeichnet. Der Eine Geist des Homeros leuchtet uns aus all' den auf die Nachwelt gekommenen achtundvierzig Gesängen der Ilias und Odyssee mit einer Klarheit entgegen, daß es Verblendung wäre, mehr als einen einzigen Schöpfer derselben für möglich zu halten. Mit Recht hat Friedrich Schiller, ein Genius, der die Produktivität des menschlichen Geistes zu beurtheilen verstund wie Wenige, den Gedanken an einen verschiedenen Ursprung der homerischen Gesänge und an eine rhapsodische Aneinanderreihung, im Widerspruch mit Wolf, einen barbarischen genannt. Ja, Wolf selbst hat die Haltlosigkeit seiner eigenen Annahme deutlich genug gefühlt und mehr als Einmal mit unverkennbarer Bangigkeit eingestanden, wie schwer es ihm falle und wie er sich selber zürne, die so ungetrübte, denselben Meister anzeigende [XL] Gleichmäßigkeit des Tones, der Farben und der Hauptcharaktere mehr als Einem Sänger beizumessen und den Glauben an die Einheit, der ihn oft beim Lesen siegreich überwältige, historischen Gründen aufzuopfern. Gewiß ist, daß Wolf alle Bedenken auf geschickte Weise zusammengestellt, aber in der von ihm gezogenen Schlußfolgerung geirrt hat.

Die an den Werken des Homer wahrnehmbare Disharmonie dagegen, woher soll sie rühren und mit jener grundfesten Harmonie sich vertragen? Aus dem Umstande, daß Homer nie den Plan eines kunstgerechten Ganzen für Ilias und Odyssee im Busen wälzte, und daß er vielleicht ein volles halbes Jahrhundert hindurch an der Gesammtzahl seiner Gesänge gesungen hat, sind augenscheinlich alle jene Gebrechen, Verschiedenheiten und Widersprüche hervorgegangen, welche schon die alexandrinischen Forscher stutzig gemacht haben. Es ist durchaus eine falsche, nicht blos unnöthige Muthmaßung, anzunehmen, die ursprünglich fleckenlosen Gesänge hätten ihre Flecken durch die Ueberlieferung, durch die Unachtsamkeit oder durch die Willkür derjenigen empfangen, die sie nach Homer's Tode öffentlich in den Städten Griechenlands und in kleineren Kreisen vortrugen. Was auf Rechnung dieser nachhomerischen Sängerschaften geschrieben werden könnte, würde höchstens darin bestehen, daß sie manchmal ein Paar Verse für den augenblicklichen Bedarf einflochten oder aus andern Gesängen einzelne Widerholungen sich erlaubten, um dem von ihnen zur Feier des Tags ausgewählten Liedbruchstücke nach irgend einer Seite hin eine erwünschtere Abrundung zu verleihen. Daraus mögen sich denn mancherlei Einschiebsel herleiten lassen, welche die heutige Kritik mit den alexandrinischen Vorgängern als unächt oder verdächtig eingeklammert hat. Das Uebrige dagegen, was die Harmonie des Ganzen innerlich oder äußerlich stört, fällt nicht jenen Rhapsoden zur Last, sondern dem Homeros selbst. Wir dürfen [XLI] ihn deßhalb weder entschuldigen, noch anklagen. Horatius hat oberflächlich geurtheilt, als er, vermuthlich im Hinblick auf mancherlei Mißverhältnisse der Erzählung, den bekannten Ausspruch that, Homeros schlafe bisweilen. Setzen wir den Fall, der große Sänger habe die Ilias sowohl als die Odyssee am Schreibtische nach einem mit Bewußtsein erfundenen Plane in Einem Zuge ausgearbeitet, wie etwa Sophokles seinen König Oedipus und seine Antigone, so würde er jede Ungleichheit, welchen Namen sie auch trage, mit Leichtigkeit im Stande gewesen sein zu vermeiden 13). Er hatte dann Muße und Gelegenheit sein Werk zu überblicken, wie Thukydides sein Geschichtswerk, und jedes Versehen gemächlich auszufeilen. Dieß aber war ein Ding der Unmöglichkeit bei einer Entstehungsweise der Gesänge, wie sie als allein glaublich und aus der Beschaffenheit ihres Wesens als unabweisbar in meiner obigen Untersuchung dargethan worden ist. Homeros reihte Schilderung an Schilderung, wie sie ihm sein Genius eingab: die in die Oessentlichkeit einmal hinauserklungenen Gesänge vermochte er nicht zurückzuziehen, wenn er auch gewollt hätte; weßhalb sie ihren ersten Stempel unverändert behielten. Fünfzig Jahre dergestalt fortsingend, verfiel er in mancherlei kleine sachliche und chronologische Widersprüche; denn im Großen und Ganzen blieb er der Große und Eine, der er war. Er lernte auch hinzu, geschult durch das Leben; seine Ansichten über Religion und Götter, über Staat und Menschheit wandelten sich [XLII] oder reiften, sein Rhythmus wechselte in manchen Stücken, selbst seine Sprache wies in einzelnen Gesängen einzelne Abweichungen auf, welche die Philologen Unebenheiten, Neuerungen oder gar Mängel zu nennen belieben, ohne sich wahre Rechenschaft über ihren Ursprung ablegen zu können 14). In der That, fünfzig Jahre sind eine lange Zeit für den Schaffenden! Die Odyssee namentlich unterscheidet sich nach ihrem geistigen Inhalte wesentlich von der Ilias, wie bekannt ist, nach formaler Seite desto weniger. Sie folgte auf die Ilias, aber welchen Grund hätte man, statt Jahrzehnte sie Jahrhunderte jünger zu machen? Die größten Geister der verschiedensten Zeitalter, so charaktervoll sie auch waren, zeigen Schwankungen in ihren Ansichten, von welchen nicht gesagt werden kann, daß sie allemal der Schwäche ihres Wesens entsprungen sind: vielmehr legen sie häufig blos Zeugniß von dem Ringen nach Wahrheit ab.

 

 

V.

Verkehrtheit der Ansichten von G. W. Nitzsch.

Zurückweisung der Schlüsse Wolfs und

der kritischen Träumereien Lachmanns.

 

Daß der schöne Zusammenhang in den homerischen Heldengedichten nicht in dem Grade vorhanden sei 15) und sein konnte, wie [XLIII] man oftmals gerühmt hat, geht aus Obigem zur Genüge hervor. Ferner auch, daß die neuere Kritik in die Luft baute, als sie zufolge der Wahrnehmung einer gewissen Disharmonie, welche jedoch keine Strahlenbrechung des Geistes war, sondern auf das formelle Gepräge sich erstreckte, den einheitlichen Homer zu einem Aggregat der verschiedensten Baustücke herabsetzte, wozu eine Mehrheit von Zimmerern und Mauerern beigesteuert. Wir wollen in der Kürze noch einige der vornehmsten Stimmen über die Streitfrage abhören.

Unter denjenigen Gelehrten, welche seit Wolf für den Glauben an Einen Homer thätig gewesen sind, treffen wir im Vordergrunde G. W. Nitzsch, der sich durch drei Bände von Anmerkungen zur ersten Hälfte der Odyssee bekannt gemacht hat, sowie durch mehrere Abhandlungen über den Dichter. Den Werth seiner Anmerkungen konnen wir eben nicht hoch anschlagen; sie bringen vielen Wust, der nicht zur Sache gehört, und zeigen nicht allein eine gänzliche Vernachlässigung der rhythmischen Seite, sondern auch eine sehr mangelhafte Auffassung, wo es gilt, poetische Einsicht zu entwickeln. Ueber seine Verurtheilung des Dichtergenius könnte man sagen, er habe mit richtiger Wahl das Richtige ergriffen, als er sich für dieses Ziel in die Schranken stellte; allein die Art und Weise, wie Nitzsch die Einheit des Homer zu schützen unternommen hat, gemahnt an einen Kämpfer, der mit sehr ungeschickten Waffen auf der Wahlstatt erschienen ist. Eine lange Scheere in der Hand, schneidert er darauf [XLIV] los, um die wahre Gestalt „der beiden von Aristoteles wegen ihrer vorzüglich schönen Einheit belobten Epopöen“ zu gewinnen. Nitzsch ist nämlich der Meinung, Homeros habe, trunken von „Sagenpoesie“, in Ilias und Odyssee ein zwiefaches wohlabgerundetes Kunstwerk geschaffene allein der wirkliche, aus schöngegliederten Gesängen abgefaßte Urtert sei verdunkelt worden durch allerhand Zusätze, welche ihm fremde Hand angeschweißt. Diese unächten Stücke, diese Zuthaten zu entdecken, zu bestimmen'und auszuscheiden, sei die Aufgabe des kritischen Aesthetikers. Von solcher Voraussetzung ausgehend, scheert er erstlich eine reichliche Anzahl kleinerer „Diaskeuen“ weg, wie er die aus irgend einem Grunde anstößigen, untergeschobenen Verse mit einem Lieblingsausdrucke betitelt: zweitens, wo diese Schnitzelei nichts fruchten würde, sperrt er die Scheere weit auseinander und schneidet mit der Zuversicht eines Meisters, der sein Handwerk gelernt hat, ganze „umfängliche Stellen“ von dem faltenreichen Mantel der Ilias wie der Odyssee herunter. Vorläufig hat er es bis auf ein halbes Dutzend solcher Kaiserschnitte in jedem von beiden Heldengedichten gebracht 16). Der Organismus, sagt er nach dieser Anstrengung, mit seinem Saft und Blut, seinem Leben und spezifischen Lebensregungen, seinem ganzen Charakter selbst scheide jene Parthien aus, die ihn umhingen wie Schmarotzerpflanzen den Stamm, aus dessen Keim und Trieb sie nicht entsprossen wären.

Aber um des Himmels willen, lieber Nitzsch, was machen Sie da? Wissen Sie, daß Sie nichts Anderes thun, als was ehedem unter dem Kommando des Peisistratos nicht geschah, was die mit Verstand ausgerüsteten Redaktoren des homerischen Textes aus Bescheidenheit nicht thun mochten? Nicht thun mochten, obgleich sie [XLV] es hätten thun können, und zwar viel geschickter als in unsern Tagen ein Gelehrter, der wohl Verse wegschneiden, Verse verdammen, aber keine machen kann. Ich würde dieß Verfahren scholastische Plumpheit nennen, wenn es nicht auf eitler Selbstüberschätzung beruhte; denn zu einer solchen Rücksichtslosigkeit gegen die diplomatische Treue gehört nicht einmal Talent, nachdem von andern Seiten die Zweifel über Aechtes und Unächtes hinlänglich erwogen, auseinandergesetzt und wieder erwogen worden sind.

Aber Nitzsch wird einwendend sagen, er sei ein großer Kritiker und habe dieses Resultat durch lange und ängstliche Forschungen, durch Scharfsinn und „ämsige Betrachtung“ mühsam erzielt! Fürwahr, seine ellenlangen Darstellungen scheinen eine horrible, eine berghohe Gelehrsamkeit zu beweisen; denn sie sind gespickt mit einer Legion von Citaten, mit Betrachtungen der Kykliker, Epiker, Dramatiker, Rhapsoden und allerlei andern Volks. Allein in der Wirklichkeit dreschen diese scheingelehrten, in einem schauerlichen lateinisch-deutschen Jargon verfaßten Schreibereien leeres Stroh; den Leser durch langweilige Dornengestrüppe hinzerrend, muthet er uns den ganzen häßlichen Prozeß seines Denkens zu, anstatt das Gedachte abgeschlossen und genießbar darzubieten. Doch war ihm dieß nicht möglich; denn Schulgelehrte dieser Gattung können nicht anders als geschraubt sich ausdrücken, da sie Geschraubtheit der Darstellungsweise für das Zeichen wahrer Gelehrsamkeit halten. Untersucht man ihre Schale, so findet sich leider selten ein Körnchen. Nichts Oberflächlicheres unter anderm kann es geben, als die von Nitzsch aufgestellte „Poetik“ Homer's, welche drei Kapitel in seinem Werke über die Sagenpoesie der Griechen 17) ausfüllt; dabei tritt er am Schlusse [XLVI] der Vorrede selbstgefällig hin, um diese seichteste aller Auseinandersetzungen „der Achtsamkeit des kundigen Lesers besonders zu empfehlen.“

So viel steht sicher, wie Nitzsch hat Homer nicht ausgeschaut! An keinen Kritiker gemahnt er uns, an keinen Aesthetiker, sondern, wie gesagt, an einen Scholastiker mit sehr untergeordnetem Talent. Es kann zu nichts führen, das Gewand des Homer mit der Scheere oder dem Taschenmesser zu zerschneiden ; je weiter man schneidet, desto weiter wird man zu schneiden gezwungen sein, „nimmer“ aber zu einem sichern Ziele gelangen. Denn die Auswüchse sind, wie aus so vielen Anzeichen erhellt, mit dem ächten Fleische unausscheidbar verwachsen.

Friedrich August Wolf hat all dieß Unheil angerichtet. Sein« berühmte Untersuchung (die Prolegomena ad Homerum) stieß den alten seither von Wenigen angefochtenen Glauben an den Ursprung und die Schicksale des epischen Nachlasses, welcher den Namen des Homeros führt, über den Haufen. Die von ihm zuerst gewürdigten historischen Zweifel, neben einer gründlichen Zusammenstellung desjenigen, was ich kurz die Disharmonie des äußeren Gepräges genannt habe, waren von so ungeheuerem Gewicht, daß es allen Anschein gewann, selbst diejenigen müßten irren, welche die durch Ilias sowohl als Odyssee durchweg hinziehende Harmonie fort und fort für das nachdrücklichste Zeugniß ansahen, nur die Schöpferkraft einer einzigen Meisterhand sei im Stande gewesen solche Dichtungen hervorzubringen. Wolf seinerseits wußte sich nicht anders aus dem Irrgarten zu retten, in welchen ihn seine Forschung verlockt hatte, als dadurch, daß er die Vermuthung aufstellte, ein Chor von Rhapsoden habe den Grund zu dem hellenischen Epos gelegt. Diese Rhapsoden [XLVII] wären zugleich produktive Schöpfer und Darsteller ihrer Produkte gewesen; ihnen gehöre, wie Bernhardy das Ergebniß zusammenfaßt, die unter Homer's Namen begriffene Dichtung an, die sie vereinzelt und ohne stetige Verknüpfung, in der Gestalt kleiner zufälliger Körper und mit Befugniß zur willkürlichen Abänderung und Erweiterung, in die Oessentlichkeit gebracht hätten. Dabei hätten sie weder Plan und Einheit der Gruppen gekannt, noch künstlerische Berechnung eines Ganzen, welches alles bei weitem das jugendliche Vermögen jener Zeiten überstiegen habe und nicht einmal in den panegyrischen Versammlungen geweckt worden sei, da diese mit jedem Bruchstück des Mythos vorliebgenommen. Nach Verlauf mehrerer Jahrhunderte hätten alsdann Künstler eines vorgerückten Zeitalters Ordnung und maßvollen Zusammenhang gestiftet und die Spuren rhapsodischer Zerrissenheit, bis auf manche widerstrebende Auswüchse und mit Ausnahme der Schlußgesänge, noch vor der Einwirkung des Peisistratos täuschend weggetilgt. Homer gelte also nur als Kollektiv jener vielen geheimnißreichen Werkmeister, als Ausdruck des einmüthig wirkenden, durchaus episch gesinnten ionischen Stammes 18).

So hat Bernhardy die Wolfische Schlußfolgerung ungefähr zusammengefaßt, ohne ihr jedoch beizustimmen. Wie unter Andern selbst Göthe hin und herschwankte (er gelangte im spätern Alter auf die Einheit gläubig zurück), so auch Gottfried Hermann, der bald dieses in der Wolfischen Ansicht zugab, bald jenes widerlegte, bis er denn zuletzt in der Ansicht stillstand, daß (ich fahre mit Bernhardy fort) Homer nicht der einzige Dichter auf jenem Felde könne gewesen sein, daß seine glänzende Wirksamkeit viele Nachfolger und wetteifernde Bearbeiter auf der einmal gewiesenen Bahn herbeiziehen [XLVIII] und den Ruhm des Meisters recht begründen, sogar über alle bisherigen Namen erheben müssen, daß endlich die jetzigen Bestände der Ilias eine reiche Liedermasse voraussetzten, welche mehr als die enge Aufgabe vom zürnenden Achilleus eingeschlossen, im Gegentheil mancherlei Theile des Krieges umfaßt habe 19). Drei Elemente sonach, wie Bernhardy weiter bemerkt, unterschied Hermann innerhalb des heutigen Homer, Vorhomerisches, Homerisches, Nachhomerisches, zwischen denen die Interpolation als bindendes Prinzip schwebe 20). Zuletzt sei noch eine Redaktion erfolgt, um zu leidlicher Totalität zu gelangen. Kurz und gut, Hermann sehe ein Abkommen nur in der Hypothese, daß in alten Zeiten der eine Dichter zwei nicht große Gesänge von Achilleus und Odysseus geschaffen, die fortwährend gesungen. vermehrt und beliebt den Namen Homer verherrlicht und zum Uebergewicht über sämmtliche Epiker und epische Stoffe gebracht hätten, so daß Homer selbst für den Inbegriff aller heroischen Poesie genommen [XLIX] worden sei und die Neigung für andere Objekte als die seinigen verdrängt habe, bis durch diesen wachsenden Ruhm bewogen endlich Redaktoren (die mithin in den noch vorhandenen Dissonanzen nur äußerlich verfahren wären) den ganzen Anwuchs zusammengefügt hätten.

Auch den Folgerungen Hermanns stimmt Bernhardy nicht bei; mehr scheint er sich zu der Theorie von Karl Lachmann zu bekennen, der die Forschungen Hermanns am fruchtbarsten fortgesetzt habe, oder aber zu den Vermuthungen Dissen's. Der letztere meint, es habe ein Auseinandersingen fertiger und organisch gefugter aber kleinerer Gesänge stattgefunden; Lachmann dagegen träumt, in einem großen Theile beider Gedichte steckten Aggregate von einzelnen Liedern, die bald durch das vorangehende Stück hervorgerufen wären und einen mehr oder minder versteckten Parallelismus bildeten, bald ohne solche Rücksicht sich angesetzt und eingedrängt hätten, als ob sie von neuem anheben und ohne den Anspruch auf innere Uebereinstimmung nur die Sage fortleiten wollten. Ueber Dissens Voraussetzung sagt Bernhardy, sie fordere ein Zusammenbringen und Verknüpfen in ursprünglicher Einheit, das Unternehmen einer $Ilias post Homerum%, welches auf die Odyssee wenigstens keine Anwendung bekäme; wie denn die Odyssee von ihm geradezu einem andern und zwar jüngeren Verfasser beigelegt wird. Dem Lachmannschen Traume giebt er eine weit größere Bedeutung; bei dem Principe dieses Kritikers bleibe Sichten und Trennen des Wesentlichen von jüngeren Zusätzen ein notwendiges Geschäft, „das auch gewiß über Werth und Stellung des Einzelnen besser aufklären und zu fruchtbareren Ergebnissen führen werde, als die in Hohes und Breites auslaufenden allgemeinen Theorien über Entstehung der beiden Epen und ihrer Stoffe!“

An den fruchtbaren Ergebnissen einer solchen Sichtung und Trennung erlaube mir Bernhardy einige gelinde Zweifel zu äußern. [L] Die Annahme kleinerer Lieder, die zuletzt sich zu einem großen Ganzen von solchem Zusammenhange krystallisirten, ist ein übernatürliches Wunder, welches nicht nur wider alle historische Erfahrung streitet, sondern überhaupt die größte Unkenntniß von dichterischer Produktion anzeigt. Daß ein Volk als Volk, als vielköpfige Masse Gedichte schaffe, ist eine der vielen Phantasien unserer modernen Kritiker. Jedes Volksgedicht, wenn es originell ist, hat einen originellen Verfasser aufzuweisen, wenn man auch seinen Namen nie gekannt hat. Poetische Werke, die in Rücksicht auf innern Werth sowohl als äußere Rundung sich ganz gleich sind, werden allezeit von demselben Autor herrühren, so lange die Natur sich nicht ändert, welche den Italiänern Einen Dante, den Engländern Einen Shakspeare, den Deutschen Einen Göthe geschenkt hat. Bleiben wir bei gesunden Ansichten von poetischer Zeugungskraft und Originalität stehen; sonst verlieren wir allen Halt der Forschung und gerathen auf die blinde Fiktion hinaus, gewisse Volkslieder wären dadurch entstanden, daß ein Mann aus der Menge, mit dichterischem Gefühle begabt, hingetreten sei und einen Vers gesungen habe, dem ein Anderer nach Monden in gleicher Begeisterung einen zweiten, ein Dritter nach Jahren einen dritten zugesetzt, bis endlich ein großes und gleichmäßiges, allbewundertes Volksgedicht zusammengewachsen sei, wie der Krystall in der uralten Berggrotte. Dergleichen Hirngespinste sind so wunderlich, daß sie gar keine ernsthafte Widerlegung verdienen.

Wie den Homer, so hat Lachmann auch das Nibelungenlied zerpflückt, welches zwar ebenfalls in einer Zeit, wo der lebendige Gesang blühte, entstanden zu sein scheint, aber unbezweifelt unter ganz andern Culturverhältnissen zur Welt gekommen ist. Ob er mehr Recht zur Zersplitterung des deutschen Werks hatte, liegt mir nicht ob, an diesem Orte zu untersuchen. Ueber den Homer müssen seine [LI] in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesenen Abhandlungen 21) jeden sinnigen Betrachter, der nur ein Paar Abschnitte aufmerksam durchlaufen hat, mit Unwillen erfüllen: von so flachem, von so engem und beschränktem Gesichtspunkte aus beurtheilt er die gesammte Verflechtung, Ton und Charakter der Gesänge. Trotz ihrer jugendlichen Fassung, und wie kühn sie auch immer mögen zusammengeschoben worden sein, haben diese Ueberreste eine weit tüchtigere Bindekraft, als daß man sie durch Angriffe zerstören könnte, die in der Hauptsache sich lediglich an gewisse losere Aeußerlichkeiten anklammern, welche der kindlich epische Ton und die von mir nachgewiesene Berechnung des Ganzen für mündlichen Vortrag hervorgerufen hat. Was Lachmann im zweiten Abschnitt sehr naiv bemerkt, er wolle die Manieren der epischen Poesie lernen, bevor er noch über manche Dinge aburtheile. veranlaßt mich zu dem Ausspruch, daß er dieß Lernen sich und seinen Lesern schuldig geblieben ist 22): die Art und Weise seiner kritischen Richtung, vermöge welcher sein Auge im Ganzen immer nur Stückwerk sieht, verhinderte ihn an dem eigentlichen Eindringen in das Wesen der Poesie, vorausgesetzt, daß er die natürliche Fähigkeit dazu hatte, was ich bezweifle. [LII] Denn wodurch hätte er diese beurkundet? Aus Liebe zur Wahrheit kann ich nicht umhin, einem Gelehrten, der unter sehr günstigen Zeitumständen seine Ruhmesärnte eingetragen hat, einen Theil davon, den unverdienten, abzuzwacken.

Gab es ja in Hellas kleine epische Lieder von völliger Uebereinstimmung in Ton, Farbe und Charakter, so konnten sie auch, aus menschlichem Vermögen zu schließen, nur Einen Verfasser haben, und zwar einen, der selbst Ton, Farbe und Charakter hatte. Lachmann hat sogar die Uebereinstimmung der von ihm herausgeschälten Lieder abgeläugnet, theilweise sie Verfassern zuschreibend, die von einander nichts wußten. Gestände die zersetzende Kritik wenigstens die Uebereinstimmung zu, so könnte man allenfalls eine Sichtung im Lachmann'schen Sinne vornehmen, die einigen Nutzen verspräche. Allein selbst auf diesem Wege würden wir in aller Ewigkeit zu keiner vernünftigen Erklärung kommen, wie so umfangreiche und in sich so harmonisch gedachte Poesiestücke geboren wurden, einheitlich trotz aller Widersprüche, gleichförmig trotz aller Unebenheiten, gleich originell im Allgemeinen und überall fast von gleicher Genialität 23). Denn wo der göttliche Athem dem Dichter gleichsam auszugehen scheint, wo sein Flügel eine Art Ermattung zeigt, da kann man fast [LIII] allerwärts die Spuren wahrnehmen 24), daß die ursprüngliche Schöpfung verwittert ist, und schon verwittert war, ehe ihre Trümmer gesammelt wurden.

Seltsam sind die Schlüsse, welche Bernhardy aus diesem verschiedenen Gebahren der Kritiker zieht: ob er sich nicht in einem Kreise von Widersprüchen befindet? Hier weist er erst die Wolfischen, dann die Hermann'schen Folgerungen als mit dem Grundwesen der homerischen Dichtungen unversöhnbar oder als nicht stichhaltig ab; dort geht er mit den Lachmann'schen Oberflächlichkeiten, die scheinbar tiefsinnig den Homer in kleine Fetzen zerstückeln, Hand in Hand. Und doch sind alle die von Wolf, Hermann, Dissen und Lachmann ersonnenen Theorien, wie verschieden sie auch unter einander scheinen, aus dem nämlichen Boden hervorgeschossen und fast mit denselben Fehlern behaftet: keine von ihnen erklärt die harmonische Seite des epischen Nachlasses. Vollends sieht man aber nicht ein, wie Bernhardy den Widerspruch lösen will, wenn er die Forschung nach Lachmannschen Liedchen anempfiehlt, und gleich darauf den Homeros „als den Genius jener Kunstfertigkeit betrachtet, welche, nachdem die Sage sich in unzählige Lieder vereinzelt hatte, ein großes zusammenhängendes Ganze mit Absicht und Einheit unternommen habe.“ Wahrlich, ein sonderbarer Genius von Kunstfertigkeit, welchem Lachmann dergestalt zuzusetzen die Erlaubniß hat! Zugleich soll [LIV] dieser Genius des Homer, wie Bernhardy weiter sagt, nichts als ein „emyklopädischer“ Geist sein. Aber dieser encyklopädische Geist, dem so große Dinge gelungen sein müssen, ist wiederum so beschaffen, daß derselbe Gelehrte die Aeußerung nachbringt: „In der ganzen Reihe von Thatsachen scheine die Gewißheit zu liegen, daß unser Homer, wenn gleich seine wesentlichen Züge von Einem ordnenden Geiste scharf und unverlierbar gebildet sind, als Erzeugniß einer nicht in demselben Sinne wirkenden Gesellschaft aus mehreren Jahrhunderten gelten dürfe, daß keine letzte Hand daran kam, welche so starke Unebenheiten in epischer Komposition, in Vers und Sprache zu überglätten und harmonisch zu verschmelzen wagte.“ Was hat denn nun der Vater Homeros eigentlich gethan? Ist er ein Genius oder ein bloßer encyklopädischer Geist? Ein geschickter Zusammenflicker, der doch – ungeschickt genug verfahren ist?

Doch will ich mich nicht länger an der Verlegenheit weiden, in welcher Bernhardy gesteckt haben mag, als er es für nothwendig fand, seinen Lesern ein Resultat vorzulegen. Bei dergleichen Sätzen, wie die von ihm eben angeführten, flimmern dem Unterzeichneten jedesmal die Augen. Es ist mir unmöglich, im Labyrinth dieser Bernhardy'schen Annahmen, Verwerfungen, Rathschlägc und Beschränkungen einen leitenden Faden zu erspähen. Ich habe aber gerade ihn als Litterarhistoriker über die verschiedenen Resultate reden lassen, um an seinem Beispiele darzuthun, wie verzweifelt und verwirrt es um den Standpunkt aussieht, den die Streitfrage bis auf die Gegenwart eingenommen hat. Jeder Anfänger glaubt in unsern Tagen, Alles sei an dem Homer erlaubt, nachdem ihm so viele Hände so übel mitgespielt. Diesem geistlosen Treiben, wodurch dem wahren Verständnisse des Urbildes auf namenlos nachtheilige Weise entgegengearbeitet wird, möchte ich eine Gränze gezogen wissen. Meines [LV] Erachtens ist es aus Obigem für den Unbefangenen klar, daß auf den seither eingeschlagenen Wegen nicht das geringste gewonnen wird. Weder durch Nitzschische Bcschneidung, noch durch Lachmann'sche Auflösung, weder durch Wolfische Rhapsodenvereine, noch durch Hermann'sche Erweiterungstheorien werden wir je zu einer Perspektive gelangen, aus welcher unserm Blick der gewaltige Dichtergeist entgegentritt, dessen Schöpferkraft wie eine alleinige Sonne durch die sämmtlichen Gesänge der Ilias und Odyssee leuchtet. Der mühsamste Fleiß des Einen oder des Andern, der spitzfindigste Scharfsinn, welcher die außerhomerischen epischen Reste, Sagen und Geschichten des Hellenenvolks vergleichend durchwandelt und die historischen Momente möglichst erwägt, wird nun und nimmer ausreichen, die Entstehungsweise von Dichtungen aufzufinden, die in jeder Beziehung nur aus sich selbst erklärt werden können, da sie einerseits wegen ihrer Originalität mit nichts Anderem vergleichbar, andererseits die ältesten sind. Denn sie gehen über die historisch bestimmbaren Zeiten hinaus, Alles was um sie war ist verschollen, und was ihnen im Epos nachgefolgt, hat sich nie über die Stufe gewöhnlicher Nachäfferei erhoben.

Mit freiem Blicke habe ich daher den Vater Homeros wieder in seine alten Rechte eingesetzt, als einen reichbegabten, durch Thätigkeit ausgezeichneten und seinem Zeitalter weit vorauseilenden Genius, der die um ihn her liegende Welt in seinen Gesängen lebensvoll abspiegelte, phantasiereich Wirklichkeit mit Sage und Götterglauben verband, die Natur kannte und die Tiefen der Menschenseele ausgemessen hatte, wie kein Hellene vor ihm, wie wenige Menschen nach ihm. Können wir einem solchen Poeten zutrauen, er habe fremde Lieder verarbeitet oder alten Sagen in stiller Häuslichkeit nachgesungen? Schon die hohe Gabe, daß er uns nach Jahrtausenden noch unmittelbar in sein Reich hineinzuziehen weiß, wie kein Anderer, spricht für seine selbstschöpferische Originalität, welche ihn zur Fundgrube [LVI] für alle späteren Lyriker und Tragiker gemacht hat. Sie spricht zugleich lautzüngig dafür, daß er das Meiste was er gesungen selbst gesehen und erlebt hat, erstlich die mit einer wunderbaren Anschaulichkeit gezeichneten troischen Kämpfe, die nie so wahrheitsgetreu bis auf den letzten Lanzenstich ausgemalt werden konnten, wenn die Phantasie allein späterhin die Quelle war, aus welcher er schöpfte. Nirgends kamen in den nächsten Jahrhunderten nach Ilios Zerstörung, so viel die Geschichte meldet, ähnliche Heerhaufen zusammen, daß er an ihrem Anblicke jene Gleichnisse von blitzartiger Wirkung absehen können. Ein Kampf dagegen, den er offenbar nicht mit eigenen Augen geschaut, war jener im Pallaste des Odysseus auf Ithaka; daher auch diese Freierschlacht, wie gelungen sie immer ist, keineswegs solche Lebendigkeit hat als die meisten Schlachtvorfälle der Ilias.

Wie Homer ferner das Meer (was Niemand bezweifelt) in seinem wildesten Sturme und in seiner sanftesten Ruhe gesehen hat, so muß er zweitens auch die meisten Oertlichkeiten zu Lande, die er beschrieben, aus eigener Anschauung gekannt haben. Schon Friedrich Thiersch ist auf diesen Gedanken gekommen, obwohl dieser Gelehrte das Wunder der Genauigkeit, womit so viele Gegenden vor das Auge des Lesers gerückt sind, Sängern beimißt, welche in jenen Landstrichen „einheimisch gewesen und sogleich nach dem trojanischen Kriege“ die Grundform ihrer Lieder gebildet hätten. Der Unterzeichnete kann wegen der greifbaren Originalität der homerischen Darstellung nicht anders als diese örtliche Kenntniß dem Homer selbst zuerkennen. Wenn sich dieß auf einfache Weise aus dem langjährigen Wanderleben des Dichters ergiebt, welches ihn die Geographie der griechischen Lande lehrte, so sieht man zugleich, wie wiederum seine aus persönlicher Anwesenheit geschöpfte Kenntniß der Erde sich beschränkt. Inseln und Landstriche, die er offenbar nicht mit Augen erblickt hatte, [LVII] nehmen in seiner Darstellung sofort die seltsamsten Umrisse an, einen freien Spielraum für die Phantasie eröffnend, den er auch benutzt, um diese Reiche mit den wunderlichsten Gestalten zu bevölkern. So Sicilien mit den umliegenden Küstenstrichen, so das Eiland der götterentstammten Phäaken, welches gleichsam wieder hinter den Horizont verschwindet, so andere von unsterblichen Zauberinnen bewohnte, meerumflossene Einöden. Durch Schifferberichte konnte er wohl mancherlei Beschreibungen von den in der Odyssee berührten fernen Erdflecken gesammelt haben; möglich, daß eine Schilderung des Havens im Pontos Euxeinos, wo heutzutag Balaklava liegt, ihm Veranlassung bot, die Schiffe des Odysseus in einer solchen felsenumragten Bucht zu Grunde gehen zu lassen. Niemand von seinen Zuhörern wußte, ob der irrende Griechenheld nicht wirklich an dergleichen Orte gekommen sei, Niemand fragte danach: gläubig nahm man die Wunder der in der Ferne verschwimmenden Märchenwelt hin. Ganz anders stand es mit der Zeichnung jener Oertlichkeiten, welche dem Fuß der Hellenen zugänglicher waren, ja, die sie vielleicht täglich betraten: wären diese verzeichnet gewesen, so hätte man sicherlich sofort Anstoß genommen und dem Volksdichter gerathen, solche Dinge zu ändern, oder ihm wohl gar minder beifällig zugelächelt. Diese und ähnliche Wahrnehmungen, die leicht den Stoff zu langen Abhandlungen liefern würden, machen die Annahme, daß Homer gleich nach den Zeiten des trojanischen Kriegs aufgetreten, mehr als wahrscheinlich. Historische Bedenken anlangend, ist es von äußerst geringer Bedeutung, wenn Herodotos sagt, Homer scheine vierhundert Jahre, aber nicht länger, vor ihm gelebt zu haben, also etwa im neunten Jahrhunderte vor Christus. Ueberhaupt war der Zeitmesser der damaligen Hellenen ein sehr unsicherer, er blieb es selbst in lichteren Epochen ihrer Geschichte; auf sein δοκέω möchte daher nicht der geringste Werth zu legen sein, wenigstens kein größerer als [LVIII] wenn Jemand (wie es wohl vorkommt) von irgend einem alten Manne vermuthungsweise sagt, er dünke ihn, etwa sechzig Jahre alt und nicht mehr. Zeigt ihm dieser den Taufschein vor, so mag er dann leicht achtzig Jahre nachweisen können. Ebenso scheint es auch hier vergönnt anzunehmen, daß Herodotos um ein reichliches Jahrhundert sich getäuscht, und daß Homer ein gutes Stück früher gelebt hat. Rücken wir nun die Zerstörung Troja's ein Jahrhundert unserer Zeitrechnung näher (was leicht thunlich ist, da kein Geschichtszeugniß mit Bestimmtheit das Jahrhundert dieses Ereignisses anzusetzen vermag), so ist Alles in Ordnung gebracht und die historische Frage mit leichtem Flügelschlage überstiegen.

Die sprachliche Frage dagegen, welche sogenannte Philologen sehr mürrisch vorbringen werden, macht mir eben so geringen Kummer. Ihre etwanige Behauptung, gleich nach Troja's Untergang habe die hellenische Sprache noch keine so hohe Vollendung besitzen können, wie sie bei dem Homer vorliege, steht ebenso unsicher da wie die gewöhnliche historische Annahme. Erstens ist sie unnachweisbar und auf nichts gegründet; zweitens war Homer der beredsame Bildner seiner Muttersprache, der ein halbes Jahrhundert lang fortsang, den Fortschritt seines Gesangs bei der Gestalt der damaligen Weltlage nur langsam und allmählig verbreitete und im Laufe der nächsten Jahrhunderte erst allgemeinere Geltung durchsetzte, bis sich an ihn die Litteratur produktiv durch gute Talente anknüpfte. Wie viel an seiner Form war überdieß schon von den alten Griechen selbst nachgefeilt worden! Drittens müßte man auch von den Urliedern, welche Lachmann als die ächten und als die frühzeitigsten aus der Ilias herausklaubt, diese erstaunliche Vollendung voraussetzen, in sprachlicher Hinsicht wie in sachlicher.

Aber Lachmann setzt ja den Ursprung dieser Lieder, wird ein Lachmannianer entgegnen, viel später an? Für außerordentlich alt [LIX] erklärt er sie selbst, wenigstens die nach seiner Ansicht originellsten und besten! Er stellt sich ja ein Paar Dutzend Meister vor, die nach und nach aufgetaucht wären? Schade, daß dergleichen viele Meisterschaften hinter- und nebeneinander von der Natur nicht ausgespendet werden! Gute Köpfe pflegt sie allenfalls in Menge hervorzubringen, aber mit Meistern geht sie haushälterisch um, wie die Litteraturgeschichte aller Völker bezeugt. Sie braucht sich indessen nicht zu übernehmen: ein einziger Meister reicht aus, um so große Dinge zu bewirken, wie die Literaturgeschichte ebenfalls bestätigt. Einem Phänomen vergleichbar, steigt er am Himmel auf, strahlenreich, lange leuchtend, aber verlöscht er wieder, so hat er oft lange keinen ebenbürtigen Nachfolger. Homer sang besser als seine Zeitgenossen, als seine Vorgänger und Nachfolger insgesammt; demungeachtet blieben an seinen Leistungen gewisse Mängel, und diese Mängel sind es, wovon die Philologen ausgehen, um den großen Epiker zu tödten!

Dergleichen Ansichten sind freie Vorstellungen, aber in Einklang mit einer vernunftgemäßen Entwickelung der urhellenischen Periode, über welche in dieser Hinsicht kaum etwas mehr als Schulweisheit vorliegt. Möchte der Unterzeichnete einen festen Schritt nach dem Ziele gethan haben, daß wir den Homer wieder als etwas Ganzes, als einen der Geister anerkennen, auf deren Besitzthum die an ihrem Genius oft zweifelsüchtige Menschheit stolz sein kann. Die mit dem bloßen Mikroskop bewaffnete Schulkritik, welche die winzigen Schwächen des uralten epischen Styles zu Elephanten gemacht hat, soll uns nicht verhindern, fernerhin gleich dem Alterthum Einen großen Homer zu verehren: gleich dem hellenischen Alterthum, welches, wie Bernhardy so schön sagt, mit voller Hingebung ein Vermächtniß poetischer Herrlichkeit ehrte, dessen Werth ohne Einschränkung gefaßt wurde, so lange die Nation irgend schöpferische Kraft besaß. [LX]

 

 

VI.

Schlußwort zur Verdeutschung.

 

Der obigen Auseinandersetzung möchte ich nur wenige Worte noch hinzufügen. Ich habe nicht allein die Angriffe derjenigen Kritiker abgewiesen, welche, wie Wolf, die persönliche Eristenz des Homer überhaupt bestritten, sondern auch die traumhaften Vorstellungen derjenigen beleuchtet, welche bald einen Homer annahmen, bald wieder keinen annahmen, also hin- und herschwankten zwischen originellen Grundlagen und späteren Überarbeitungen, zwischen einem Urhomer und einem Posthomer, während wiederum der Urhomer kein Urhomer, der Posthomer kein Posthomer gewesen. Auch die Faselei von Nitzsch, der mit seiner schwachen Wünschelruthe darauf ausgegangen war, den vergrabenen Schatz des Homer aus seinem Verstecke herauszubeschwören, entweder einen klügeren Redakteur als Peisistratos war oder einen zwar spät aufgestandenen, aber äußerst übersichtigen Posthomer spielend, – auch diese Faselei habe ich mit dem Zauberworte der Erlösung nach allen vier Winden auseinandergescheucht. Den Einen habe ich positive Gründe, gegenübergestellt, dem Posthomerspieler seine arrogante Ohnmacht wie ein Medusenangesicht vorgehalten.

Wie soll aber nun der Homer von uns gelesen werden? Sollen wir bei den mancherlei Steinen des Anstoßes, die er uns entgegenwirft, die Augen blindgläubig verschließen und geduldig darüber hinwegstolpern? Sollen wir lediglich aus hergebrachter Pietät gegen das Antike Alles für vollkommen halten, auch das Unvollkommene?

Es genügt zu erwiedern, daß wir die Dichtungen des Homer gerade so lesen sollen, wie sie von den alten Hellenen selbst gelesen wurden, welche in den Tagen ihrer Größe und Freiheit den Sonnenschein [LXI] poetischer Erzeugnisse zu schätzen und zu genießen wußten. Eine vortreffliche Leistung empfanden sie nach ihrer Vortrefflichkeit, ohne vorhergehende Mäkelei, welche schon richtet, ehe sie verstanden hat. Ihrem Beispiele müssen wir, die Jünger in der Kunst, bescheiden nachfolgen, die wahre Schönheit des aus grauer Urzeit entstammten epischen Styles erforschen, die leichte Verknüpfung der einzelnen Trümmer, die Sprünge, die Widersprüche und Ungleichheiten aus den eigenthümlichen Verhältnissen, welche dem Werk seine Entstehung gegeben haben, wie aus einer Naturnothwendigkeit erklären und gleich den Zuhörern, die einst der sangreiche Verfasser selbst vor sich hatte, nicht sofort nach dem modernen Buchzusammenhange fragen, sondern zufrieden mit dem was er sagt nicht nach dem verlangen, was er verschweigt oder was lückenhaft geblieben ist. Bei dem Homer läßt sich wie bei einem Märchen nicht Alles beweisen, man rechnet nicht Alles von Heller zu Pfennig nach, um zu mathematischer Genauigkeit zu gelangen; jeder wahre Poet darf mit Recht fordern, daß man seinem Genius vor allen Dingen sich geduldig beuge. Ist doch auch des hier Gegebenen so viel, daß Jedermann daran zur Genüge haben kann.

Kommen wir dergestalt dem Dichter entgegen, so werden wir jedenfalls „die Manieren des epischen Styles lernen“ und vielleicht in den Ozean der homerischen Poesie so tief hinabtauchen, daß es uns sogar gelingt, wiederum zur ehemaligen Bewunderung des unermeßlichen Schatzes emporzusteigen. Eine derartige Aufrichtung der Seelen wäre heilsam, besonders der norddeutschen Kritik gegenüber, welche seit manchem Jahrzehnt schon alles Große und Schöne, was zum Tageslichte dringt, mit ihrem ätzenden Gifte anspeit, um Wipfel und Stamm bis auf die letzte Faser zu vernichten.

Doch genug von solcher Afterkritik. Der von mir im dritten Abschnitte zum ersten Male ausgeführte, hoffentlich unumstößliche [LXII] Beweis, daß die Gesänge des Homeros lediglich für den mündlichen Vortrag berechnet waren (vorher also auch schwerlich am Schreibtische niedergeschrieben) äußert einen mächtigen Einfluß nothwendig auch auf die Uebersetzungsweise des lebensvollen Dichters. Schon in der Vorrede zur Ilias habe ich gezeigt, daß Friedrich August Wolf auf falschem Wege umherirrte, und daß die Kräfte von Johann Heinrich Voß nicht zulänglich waren, was die Versuche ihrer Verdeutschung anbetraf: die neueren Uebersetzer vermochten nicht eigene und bessere Bahnen zu gehen. Anderwärts habe ich dargethan, daß Wolf, im Streite gegen Voß, sich in Widersprüche verwickelte, als er die von ihm früher gelobte Vossische Übertragung, ihrer Mängel wegen, mit Entschiedenheit angriff. Gegenwärtig mache ich darauf aufmerksam, daß der deutsche Uebersetzer alle Ursache haben dürfte, eine metrische Nachdichtung nicht nur so einzurichten, wie ich in dem Vorworte zur Ilias angedeutet, sondern auch auf die von mir jetzt entwickelte Stylweise des Urbildes durchgreifende Rücksicht zu nehmen. Ein Nachsingen ist nothwendig, nicht ein elendes und todtes, wenn auch glatt aussehendes Zusammenstoppeln der Verse.

Die Gründe, weshalb ich vorerst die Prosa wählte, sind an ebenjener Stelle angegeben worden: ich wollte ein sicheres Fundament legen für das Verständniß des Gedankeninhalts, bis sich ein geeigneteres Versmaß finde, als der deutsche Hexameter. Die Weise, wie ich die von mir gewählte Form der Prosa durchgeführt, hat den allseitigsten Beifall erlangt: der Ausdruck erschien einfach und naiv, der reichen homerischen Farbenpracht angemessen 25). Zugleich aber [LXIII] bin ich von nah und fern, öffentlich und privatim aufgefordert worden, den Homer auch in Versen zu verdeutschen. Von denjenigen, die mich öffentlich dazu anfeuerten, erwähne ich vornehmlich Gustav Kühne, einen Kritiker von ausgezeichnetem Talent, von Scharfsinn und gediegener Anschauungsweise, einen Mann, der sich längst von den Vorurtheilen der Zopfgelehrten wie von den einseitigen Ansichten falscher Genialität frei gemacht hat. Fußend auf die zur Ilias angefügte Probe, „Hektor's Abschied“, erklärte er, ich könne zuversichtlich die so gearbeitete Form des Hexameters beibehalten. Unter denjenigen ferner, die privatim das nämliche Verlangen an mich stellten und zugleich die gewichtvollste Stimme für mich haben mußten, steht der tiefsinnige August Böckh und der ehrwürdige, Natur und Menschengeist unermüdlich durchforschende Alexander von Humboldt oben an. Der letztere namentlich, der kürzlich erst, auf dieser hohen Stufe des Alters, seine Theilnahme mir liebreich zugewandt, sprach die Meinung aus, ich solle mich, nach meiner in Hexametern mitgetheilten Probe, trotz meiner Zweifel „auf das Gebiet des Wahrscheinlichen wagen“ und den deutschen Sechsmesser zur Bewältigung des homerischen Gesangs wählen.

Obwohl nun jene Probe meinen eigenen Ansprüchen noch nicht ganz genügt, würde ich doch vielleicht einer Humboldtischen Stimme Gehör geben und den Kampf des deutschen mit dem hellenischen Hexameter noch einmal jugendkräftig aufnehmen, in der Hoffnung, [LXIV] einen weiteren sprachlichen Fortschritt für die Nation zu begründen. Allein äußere Umstände und Weltverhältnisse zwingen mich von einem solchen Unternehmen abzustehen. Das deutsche Publikum, wie ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht zu meiner Freude erfahren habe, ist in unsern Tagen dergestalt von dieser und der wahrhaft poetischen Litteratur überhaupt abgewandt, daß ich nicht die geringste Aussicht auf irgend einen Lohn, auf irgend ein Beifallszeichen für eine solche langathmige Bemühung vor mir erblicke. Die ehemalige Theilnahme für jedes geistige Ringen, wo es sich immer zeigte, die helle Begeisterung, die in den Tagen von Jena und Weimar herrschte, und von welcher unsere Väter so Schönes zu rühmen wissen, ist seit langem erloschen und verraucht. Gewarnt durch diese Lage eines deutschen Schriftstellers, möchte ich daher meine persönliche Wohlfahrt nicht dem fernen ungewissen Hoffnungstraume aufopfern, dermaleinst Anerkennung zu finden bei einem besseren Geschlecht: ein Anderer wird nach mir kommen, der dasjenige thut, was ich meines Orts nur wünschen konnte.

 

Leipzig, den 20. September 1855.

 

Johannes Minckwitz.

 

――――――――

 

1) Daß der am Schreibtisch Arbeitende ebenfalls Anakoluthien macht, besonders in der Prosa, ist damit nicht verneint; bei diesem aber sind meist rhetorische Gründe die Veranlassung, wo nicht gar Ungeschicklichkeit im Satzbau. 

2) Der Zuhörer hatte dabei überdieß den Vortheil, daß er in dem Falle, wo er ein wichtiges Wort des Auftrags nicht genau gehört hatte, bei der Wiederholung der Worte Gelegenheit erhielt, das Ueberhörte nachzuholen. 

3) Auf der andern Seite ließe sich selbst das häufige Verschweigen des Hauptsubjektes oder der plötzliche Wechsel mit demselben zum Beweise anführen, indem der frei sprechende Dichter voraussetzt, sein Hörer weile immer, wie er, bei den Hauptpersonen zunächst und vorzugsweise, so daß er in ihnen nicht irren könne. Zugleich liegt unendlich viel, was das Verständniß und die Beziehung erleichtert, in dem lebendigen Tone der Stimme. Doch gehört dieß eigentlich mehr in den oben ausgeführten Abschnitt von der Einfachheit der Vorstellung des mündlich aus dem Kopfe Erzählenden. 

4) Vergl. meine Anmerk. zu Il. I, 407 und III, 209. 

5) So beginnt αὐτὰρ Od. XXII, 454 schon den nächsten Satz wieder, obgleich der vorhergehende mit αὐτὰρ eingeleitete nur aus zwei Trimetern bestand. Gleich häufig treten ἀλλά, ἔνθα u. s. w. auf. Nur der laute Gesang, welcher die Worte langsamer an dem Ohre vorbeiführt, wendet das sonst Anstößige ab. 

6) Die Existenz des äolischen Digamma soll übrigens hiermit keineswegs geläugnet sein. 

7) Es ist daher z. B. dem Dichter vollkommen gleichgültig, ob er Od. III, 327 λίσσεθαι δέ μιν αὐτόν, ἵνα νημερτὲς ἐνίσπη oder III, 19 αὐτὸς ὅπως νημερτὲς sagt. 

8) Daher mit Recht Wilhelm Dindorf z. B. εἵος für ἕως im Texte aufgenommen hat. 

9) Recht wohl konnte er V. 514 sagen: ἀλλὰ πρὸς Τρώων καὶ Τρωϊάδων κλέος εἶναι, und V. 434 Τρωσί τε καὶ Τρωῆισι. Die Rhythmik der dutschen Sprache dagegen ist weit mehr an den gewöhnlichen Accent gebunden, wird sich auch, wie ich in meinem „Lehrbuch der Verskunst“ §. 156 u. f. gezeigt habe, nie davon in ähnlicher Weise lossagen. 

10) Ob daher in der Il. VII, 314-315 βοῦν ἱέρευσεν ἄναξ ἄνδρων Ἀγαμέμνων ἄρσενα πενταέτηρον steht, oder in der Od. XIX, 420 εἰσάγαγον βοῦν ἄρσενα πενταέτηρον die Beiwörter unmittelbar hinter ihrem Hauptworte folgen, war für das hellenische Ohr völlig gleichgültig geworden. 

11) Diese Kunstfertigkeit hat dem Homeros unter den Späteren namentlich Aeschylos abgesehen; wie denn überhaupt die griechischen Dramatiker und Lyriker, vor den Dichtern anderer Nationen, ihre Werke für den lebendigen Vortrag berechneten. 

12) S. die Anmerkung von Fäsi zu Od. XVIII, 238 und IX, 377. 

13) Wenn Fäsi in seiner Einleitung zur Odyssee (S. VI) die Meinung äußert, selbst in diesem Falle „sei kaum zu zweifeln, daß gewisse Verschiedenheiten in einem Gedichte von so großem Umfange und bei der auf den Hauptgegenstand gerichteten Aufmerksamkeit des Dichters sich müßten eingeschlichen haben,“ so muß ich dieses Muß für ein sehr absonderliches erklären. 

14) Ich könnte Beispiele zum Belege genug hier anführen, wenn es mir nöthig deuchte, den Philologen dieser Gattung einen Beweis zu geben, daß ich von ihrem Handwerk auch etwas verstehe. Der Anschein, daß manche Gesänge jünger sind, hat also seinen guten Grund; nur sind sie nicht um so viel jünger, als G. Hermann und Andere vermuthet haben. Denn aus ihrer rhythmischen Form schloß Jener leichthin, daß Abschnitte der Ilias sowohl als der Odyssee von Homeriden herrührten. 

15) Von der Ilias sagt Bernhardy (Grundr. d. Griech. Litterat. II. S. 89): „Viele Stücke derselben konnten willkürlich rhapsodirt und aus den Fugen gerissen werden.“ Die Odyssee dagegen erscheint ihm fester gekittet, was im Allgemeinen richtig ist, aber dem Zufall zu verdanken sein dürfte, daß die drei großen Parthien dieses Gedichts, bei allen immer noch sichtbaren Lücken, von den althellenischen Sammlern inniger und leichter verschmolzen werden konnten. 

16) S. G. W. Nitzsch, Sagenpoesie der Griechen, Erste Abtheilung, Braunschw. 1852. S. 131. 

17) S. 105–124 der ersten Abtheilg. Auf das Schlagwort „Sagenpoesie“ legt Nitzsch, nebenbei gesagt, ein besonderes GenHcht, wie auf eine Erfindung, die wer weiß was alles erkläre. Als ob die Dichter nicht eine Menge Sagen gemacht hätten! 

18) Ueber das Hirngespinnst, daß ein ganzes Volk episch gesinnt sei und durch sich schaffe, siehe die weiter unten folgenden Bemerkungen. 

19) Ein Punkt, der merkwürdig genug an meine eigene obige Divination streift. Die Hermannsche Ansicht in dieser Beziehung war mir unbekannt geblieben, als ich meine Schlüsse zog; doch ist sie auch in sofern bedeutend abweichend, als ich Einem Verfasser diese reiche Liedermasse zuschreibe und das Gleiche für die Odyssee voraussetze. 

20) „Homerisches streite dort mit Vorhomerischem, wo das Objekt Homer's, der Zorn und die Genugthuung des Achilleus, hingehalten werde von allgemeineren Darstellungen, Einzelkämpfen und anderen Weiterungen des trojanischen Krieges, wo die Komposition locker und fast monographisch in einer Fülle von entfernten und nicht aus der Hauptperson strömenden Motiven sich verliere. Nachhomerisches aber hätten diejenigen längeren Fugen und eingeschobenen Massen eingenommen, welche von des Dichters Objekt ab- und beiseit springend, selbst querdurch sich lagernd den strengen Zusammenhang stören oder zerreißen, also Variationen und Beiwerke von selbstständigem Ansehn mitten im Werke“, s. Bernhardy, S. 92. Dabei kann sich leider Niemand enträthseln, wie weit der Homer seine Wurzeln erstrecke. 

21) Betrachtungen über Homer's Ilias von Karl Lachmann mit Zusätzen von Moritz Haupt, Berlin 1847. Daß M. Haupt, Lachmanns Nachtreter, seinem Vorgänger zustimmt, wird Niemand verwundern; seine Zusätze zu diesen Betrachtungen aber sind so bedeutungslos, daß es eine wahrhaft komische Wirkung hat, wenn er sich in diesen Nachträgen beeilt dem Vorgänger durch etliche Sylbenstechereien es gleichzuthun. 

22) Für wirkliche Bescheidenheit darf man es nicht halten, daß Lachmann vom „Lernen“ gesprochen hat; es war auf Effekt berechnet. Seine eigentliche Herzensmeinung spricht er im dreiundzwanzigsten Abschnitte (S. 54) aus, wo er unter anderm sagt: „Wer nicht begreift, wie die Sage sich vor, mit und durch Lieder bildet, der thut am besten sich um meine Untersuchung ebenso wenig zu bekümmern als um epische Poesie, weil er zu schwach ist etwas davon zu verstehen.“ Nicht minder naiv lautet, was er (S. 34 a. a. O.) der gelehrten Versammlung gegenüber geäußert, in welcher er diese Kritteleien vorlas. In der Akademie der Wissenschaften freilich hatte er wohl keine ernsthaften Einwendungen unmittelbar zu besorgen. 

23) Daß Lachmann (S. 80) außer andern Ausstellungen die sieben letzten Bücher der Ilias für schlechter, ja für sehr schlecht ansieht, darf nach dem bereits Gesagten nicht wundern. Ob der Stoff aus die Darstellung einwirke und sie theilweise bedinge, davon weiß er nichts. 

24) Nachweisbar in manchen Anfängen, manchen Schlüssen, manchen Uebergängen der Erzählungen, selbst in manchen Redegüßen sprechender Personen. Aus dieser Verwischung erklärt sich auch die Wahrnehmung, daß von mancher Heroenfabel nur ein Bruchtheil zur Erwähnung kommt, welches nicht recht genügt. Umgekehrt wollen darin manche Kritiker ein Zeichen finden, daß dem Homer selber schon das tiefere Verständniß manches Sagentheils entschwunden gewesen sei! 

25) Kleinigkeiten mißfallen dem, mißfallen jenem: Jeder hält seinen Geschmack für den besten. So bin ich gefragt worden, warum ich τιμήσειε und τίσειε unterscheide, jenes durch „gnädig ehrte“, dieses blos durch „ehrte“ ausgedrückt habe: dieß beruht auf rhythmischen Gründen, von welchen ich in der Vorrede zur Ilias gesprochen. Aus den gleichen Gründen mußte z. B. auch Od. XXII, 209 ὅς σ’ ἀγαθά ῥέζεσκον übersetzt werden durch: der ich dir Gutes erwies. Druckfehler habe ich nur wenige bemerkt, namentlich ein Paar ausgefallene Beiwörter; auch ist in der Anmerkung zu Il. XXIV, 268 (Zeile 5 v. u.) die Paranthese weggeblieben: „da ἐννεάπηχυ leicht geändert werden könnte.“