BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[3]

I.

 

Die verschiedenen Ansichten, die sich über Kaspar Hauser gebildet und geltend gemacht. Vor Herrn Eschricht's Auftreten stehen sich nur die zwei besonders von Feuerbach und Merker vertretenen Ansichten entgegen, von denen die eine in dem Findling den unglücklichen Gegenstand verbrecherischer Mißhandlungen und Gewaltthaten, die andere einen jungen Betrüger sieht, der nur die Rolle eines solchen Gegenstandes zu spielen unternommen. Eine dritte Meinung stellt neuerdings der genannte Physiolog auf, indem er in H. einen anfänglichen Idioten sieht, der von seinem blutarmen Pflegevater nach Nürnberg gebracht und daselbst ausgesetzt worden sei, sich dann aber in Folge unverständiger Behandlung und schlechter Erziehung in einen Gaukler und Betrüger verwandelt und als Selbstmörder geendet habe.

 

Ich werde vor Allem die verschiedenen Ansichten anführen, die sich über den räthselhaften Findling gebildet und geltend gemacht haben.

In früherer Zeit, d. h. vor Herrn Eschricht's Auftreten in dieser Angelegenheit, waren über Kaspar Hauser's Charakter und Geschichte nur zweierlei, das direkte Widerspiel bildende Ansichten verbreitet, und es standen sich in Publikum und Literatur nur die beiden diesen Ansichten huldigenden Parteien entgegen, deren hervorragendste Repräsentanten einerseits der berühmte Criminalist und Appellationsgerichts-Präsident in Ansbach Anselm von Feuerbach, andererseits der Polizeirath Merker in Berlin waren.

Was die erste dieser Auffassungsweisen betrifft, die sich auf dem Schauplatze der bezüglichen Ereignisse und in Folge der sich hier darbietenden unmittelbaren Anschauung und Beobachtung selbst gebildet, so glaubte [4] man in Hauser den leidensvollen und beklagenswerthen Gegenstand eines im Finstern schleichenden Verbrechens zu sehen; es schien namentlich so viel gewiß, daß er seiner Geburt nach den höheren, ja höchsten Ständen angehöre, in seiner Kindheit jedoch freventlich bei Seite geschafft, eine ganze Reihe von Jahren hindurch in heimlichem Gewahrsam gehalten, dann als ein körperlich und geistig auf's Traurigste vernachlässigter Iüngling in die Welt gestoßen und da seinem Schicksal überlassen worden sei. Die beiden Verwundungen Hauser's, an deren einer er starb, wurden, so wie er es selbst that, einem unbekannten Verfolger zugeschrieben; man dachte sich, Diejenigen, welche den Findling der ihm gebührenden Existenz und Stellung beraubt und die ihn vielleicht für lange schon todt gehalten, während er wider ihr Wissen und Wollen fortlebte und endlich sogar aus seinem Dunkel hervor mit einem Male an's Licht der Oeffentlichkeit trat, seien in eine Unruhe und Angst gerathen, die sie zu einer neuen, vollendeten Unthat trieb; sie hätten für nöthig erachtet, ihn meuchlerisch aus dem Wege zu räumen und die grausame That, nach einem mißlungenen Versuche, zuletzt auch wirklich ausgeführt.

Man kann nicht sagen, daß solche Ansichten und Vermuthungen an und für sich absurd und verwerflich seien. Thatsachen, Verhältnisse, Verwickelungen und Geschichten, wie die hier angenommenen, sind denkbar und [5] mit verschiedenen Modifikationen wohl schon tausendmal dagewesen. Projektirter, jedoch vereitelter Kindermord, heimliche Rettung und Erziehung der dem Untergange Geweihten und unerwartetes Wiedererscheinen derselben, die man für längst schon todt gehalten, kommt in mythischen und historischen Ueberlieferungen häufig vor. Jeder wird sich z. B. der Kindheitsgeschichte des Cyrus erinnern, dessen sich der medische König Astyages, sein Großvater, zu entledigen beschloß und der durch doppelte Schonung und doppelten Ungehorsam vom königlichen Vertrauten bis zum Hirten herab erhalten wurde. Harpagus, der mit dem Morde zunächst Beauftragte, wollte sich dessen nicht selbst unterziehen; er übergab das Kind einem Hirten, mit dem Befehle, dasselbe in einer Bergwüste auszusetzen und umkommen zu lassen. Aber auch dieser tödtete es nicht; er ließ es auf Bitten seines Weibes, die so eben ein todtes Kind geboren, am Leben und erzog es als sein eigenes, während das todte in die Bergwüste gebracht und von den nachsehenden Dienern des Harpagus als das daselbst umgekommene fürstliche betrachtet und bestattet wurde 1). Andere Beispiele liefern die Erzählungen von Perseus, Theseus, Jon, Miletos, Agathokles, Romulus und Remus, u. s. w. und wenn solche Vorgänge im Bereiche des [6] Menschlichen und Wirklichen überhaupt liegen, werden sie sich in zeitgemäß modificirter Art und Weise nicht auch in unseren Tagen ereignen können? Die Menschen sind nicht besser geworden, als sie vor Zeiten waren; sie sind nur nicht mehr so naiv, wie früher, und gehen versteckter, heuchlerischer und künstlicher zu Werke, wenn sie solche Verbrechen üben, wie ganz besonders die Hauserische Geschichte lehrt, in deren geheimnißvolle Abgründe derjenige, der diese Blätter gelesen, einen hellen Blick gethan haben wird. Mit Unrecht jedoch hat man, wie sich zeigen wird, ein deutsches Fürstenhaus, welches nach meiner vollsten Ueberzeugung gar keinen Theil daran hat, dafür in Anspruch genommen, woran die irreführenden Gerüchte und Behauptungen Schuld, die von den wahren Verbrechern ausgestreut worden waren. Meine gewiß echteren Spuren führen auf ganz andere Punkte hin. Es ist England und seine hohe und reiche Aristokratie, worauf der schwarze Schatten eines nicht abzuweisenden, für mich durch ganz besondere Umstände und Erlebnisse begründeten Argwohnes fällt, worüber das Nähere an seinem Orte beigebracht werden soll. 2)

Handelt es sich um die Zustände, in welche jugendliche Wesen, von menschlicher Gesellschaft und Einwirkung fern, zu gerathen vermögen, und in welchen sich [7] solche bei ihrer Erscheinung in der Menschenwelt faktisch dargestellt haben, so sind zweierlei das gewohnte Maß nach entgegengesetzten Seiten hin überschreitende Abnormitäten, Extreme und Seltenheiten bemerklich zu machen, indem entweder das Phänomen positiver Verwilderung, wie es ungebundene Freiheit, Nöthigung zur Selbst­erhaltung auf eigene Faust und thierische Ge­sellschaft erzeugt, oder das der Hemmung und Un­terdrückung naturgemäßer Lebens- und Kraftent­wickelung durch Verbergung, Einschließung und Absperrung von der umgebenden Welt und Natur hervortritt.

Fälle der ersteren Art sind bekannt und besprochen genug. Es ist namentlich während der zuletzt verflossenen Jahrhunderte wiederholt von Kindern, sowohl weiblichen als männlichen Geschlechtes, die Rede gewesen, die in Wildnisse gerathen, mit wilden Thieren zusammengelebt und in Folge dessen selbst zum wilden Thiere geworden. So hat man z. B. im Jahre 1719 in den Pyrenäen ein Paar wilde Knaben gesehen, die auf den Klippen wie Gemsen herumsprangen. Das bekannte, im Jahre 1731 zu Songi in Champagne gefangene Mädchen, das die Größe eines zehnjährigen Kindes hatte und merkwürdig verwildert war, hatte ein schwarzes Ansehen, war mit einer Keule bewaffnet, besaß eine ganz ungewöhnliche Stärke und Leichtigkeit, schwang sich wie ein Eichhörnchen [8] von Baum zu Baum, war so schnell im Laufe, daß sie Niemand einzuholen vermochte, lief auf den Dächern wie ein Sperling herum, sprang in Seen, Flüsse und Teiche, um sich Fische und Frösche herauszuholen, wie sie ihm zur Speise dienten, schlug einen gegen sie losgelassenen großen Hund todt, machte mit ihren dicken, starken Fingern Oeffnungen in Mauern und Dächer, kroch auf unbegreifliche Weise durch anscheinend viel zu (kleine ?)Löcher hindurch, und war noch späterhin, nachdem man sie in ein Kloster gesteckt und da Jahre lang fast aller Bewegung beraubt hatte, so flink und flüchtig, daß sie auf freiem Felde einen Hasen einholen und fangen konnte. Sie lebte von dem, was ihr die Wildniß gab, von Blättern und Wurzeln, von dem Fleisch und Blute der Thiere, die sie sich fing – eine Lebensweise, die ihr in dem Grade zur Gewohnheit und Natur geworden, daß sie, als man sie derselben entwöhnen wollte, auf den Tod erkrankte. Es fielen ihr Zähne und Nägel aus, und unerträgliche Schmerzen zogen ihr Magen, Eingeweide und Gurgel zusammen, welche letztere in einem ausgetrockneten, lechzenden Zustande war. Nur das Einsaugen warmen Blutes, daß sie wie ein Balsam durchdrang, steuerte diesem Verfall 3). [9]

Alte Traditionen sprechen von ausgesetzten Kindern, deren sich Thiere, namentlich Wölfe angenommen und die auf solche Weise gerettet worden, wie in der Sage von Romulus und Remus und anderen, weniger bekannten, der z. B. von dem Kreter Miletos, der Fall. Dies lautet sehr fabelhaft; dergleichen Bestien, sollte man glauben, werden ein in ihre Gewalt gerathenes Kind wohl fressen, aber nicht nähren und auferziehen. Aber das historisch Wahre und Wirkliche ist nicht immer so unromantisch, die Natur nicht immer so natürlich im gemeinen Sinne des Wortes, als man zu glauben pflegt; und so hat es mit Manchem, was ganz wie ein Märchen, eine Dichtung, ein Mythus aussieht, gleichwohl seine volle Richtigkeit 4). Es hat sich herausgestellt, daß auch Ereignisse, wie jene mythisch überlieferten von wolfgenährten [10] Kindern, nicht nur möglich, sondern in Gegenden, wo sich die Wölfe stark vermehren, sogar sehr häufig sind. Der ehemalige englische Resident in Lucknow, Generalmajor Sleemann, hat eine Menge von Fällen, in welchen indische Kinder von Wölfinnen angenommen und aufgenährt wurden 5), gesammelt und amtlich constatiren lassen, und öffentliche Blätter haben sie aus seinem Werke auszüglich bekannt gemacht 6). Auch hier kommen Beispiele gänzlicher Verwilderung und thierischer Entartung der Menschennatur zu Tage. So wurde in der Nähe von Candour ein 10–lljähriger Knabe gefangen, der mit drei Wolfsjungen einer alten Wölfin folgte, auf Händen und Füßen lief und sich so schnell, wie diese Thiere fortbewegte. Er hatte widerwärtig rohe Züge, nahm keine Art von Bildung an, scheute die Menschen und war am liebsten mit Hunden und Schakals [11] zusammen, heulte und biß, brachte keinen articulirten Laut hervor, war äußerst schmutzig, duldete keine Kleider an sich, lächelte oder lachte nie, verschmähte alles Gekochte und warf sich begierig auf rohes Fleisch. Er lebte nur noch etwa drei Jahre lang; im Jahre 1850 ging er mit Tod ab.

Es zeigt sich bei solchen Erscheinungen, wie biegsam und befähigt zu allen möglichen Verwandlungen und Gestaltungen die Natur des Menschen ist und was über sie Lage, Umgebung, Umgang, äußere Umstände und Einflüsse vermögen, so lange sie noch keine feste Bestimmtheit angenommen; wie starr und unbezwinglich aber auch die Formen sind, in welche sie sich einmal begeben, eingelebt und eingewohnt hat. Doch das ist nur die eine Seite. Das vollkommene Gegenbild dieser in's thierisch Wilde, Rohe, Unbändige übergegangenen Menschenwesen stellt sich in unserem Findlinge dar, der auf der andern Seite der bezeichneten Gruppe steht und eben so merkwürdig in seiner Art, als das Mädchen von Songi, die indischen Wolfsmenschen und so fort, in der ihrigen, ja um der noch weit größeren Seltenheit willen ein noch schätzbareres Exemplar seiner Gattung ist. Dort gab sich, bei dem größten Mangel alles specifisch-menschlichen, über die Stufe der Thierheit Erhebenden, diejenige Abhärtung gegen die Einwirkungen der umgebenden Welt und Natur auf den Organismus [12] und diejenige Uebung und Steigerung der Kräfte kund, die dem Thiere und Menschen in seinem freien und wilden Zustande eigen und die sich in ihrer Einseitigkeit und Ausschließlichkeit weit höher treibt, als in civilisirter Lage und Weise möglich ist. Bei Hauser war von so wilden Energien und Geschicklichkeiten keine Spur; es zeigte sich ganz nur das andere Extrem; es offenbarte sich namentlich eine so beispiellose Reizbarkeit der Nerven und eine so enorme Empfindlichkeit für Dinge, die auf andere Menschen gar keinen Eindruck machen; ein so großes Unvermögen, seine Glieder zu gebrauchen; ein so großer Abscheu vor anderer Nahrung, als Wasser und Brod; eine so eigenthümliche Beschaffenheit der Augen, für die es keine Nacht und keine Finsterniß gab; eine so ungemeine Sanftmuth, Zartheit und Reinheit der Seele; eine so auffallende Unbekanntschaft mit den allergewöhnlichsten Erscheinungen in Natur und Menschenwelt; ein so unverhältnißmäßiger Mangel an den Kenntnissen, die jungen Leuten selbst durch den dürftigsten Unterricht zu Theile werden und doch dabei so bedeutende geistige Anlagen und Befähigungen, eine so leidenschaftliche Lernbegierde und ein so außerordentliches Gedächtniß, daß man, auch abgesehen von seinen, die gleiche Vermuthung begründenden Aussagen, nur auf eine vorausgegangene langwierige Einschließung an einem dunklen Orte, an einen damit verbundenen [13] ausschließlichen Genuß von Wasser und Brod und eine auf diese Weise bewirkte fast gänzliche Unterdrückung natürlicher Lebensentwickelung schließen mußte und wohl auch jetzt noch und ewig schließen muß. Sollte eine solche Gefangenhaltung zu beispiellos und unglaublich scheinen, so fehlt es an beizubringenden analogen Fällen auch hier nicht; ja es giebt deren, die von noch weit grausamerem und empörenderem Charakter sind, als der Hauserische. Ich kann aus ohngefähr derselben Zeit, wo Hauser auftrat, zwei ähnliche nennen. Von dem einen derselben spricht Graf Stanhope in seinen „Materialien.“ „Mehrere Personen,“ sagt er, „haben mir erzählt, wie in dem nämlichen Jahre, in welchem H. zu Nürnberg erschien, der Advokat Fleischmann daselbst starb, und daß man bei ihm in einer Hinterstube seinen bereits 38 Jahre alten Sohn fand, der von seinem 12. Jahre an, bis zu jener Zeit immer darin gelebt, und sich aus Gewohnheit in diese Abgezogenheit gefügt hatte 7).“ Auch mir, nur nicht mehr mit solcher Bestimmtheit im Einzelnen, ist diese Geschichte erinnerlich, die damals am Orte ebenfalls viel zu reden gab, indem man in dem so lange von der Welt zurückgehaltenen, ihr völlig entfremdeten und nun plötzlich in sie eingeführten [14] Manne einen zweiten Kaspar Hauser sah. Wenn dieser Fall übrigens milder und menschlicher erscheint, als der Hauserische, so ist dagegen der folgende von um so roherer und gräulicherer Art. Dr. Horn sah in dem Krankenhause zu Salzburg ein 22jähriges, nicht häßliches Mädchen, das bis in sein 16. Jahr in einem Schweinestall und unter Schweinen auferzogen worden war und viele Jahre darin mit übereinandergeschlagenen Beinen gesessen hatte. Das eine Bein war ganz verbogen; sie grunzte wie ein Schwein und betrug sich in menschlichem Anzuge ungebärdig. 8) Hier kam zu dem Vergehen der Einschließung und der Absperrung von Welt und Leben, das an Hauser begangen wurde, das aber doch nur negativer Art war und an Leib und Seele Nichts positiv verdarb und zu Grunde richtete, die letztere vielmehr so unverdorben und engelrein erhielt, als sie von Gott geschaffen war, noch überdies eine sowohl innere als äußere Entwürdigung und Entstellung des Menschlichen hinzu, die nicht tiefer und scheußlicher zu sein vermochte. Solche Thatsachen weist noch die neueste Menschengeschichte auf! Was will da Zweifel und Unglaube, was die superkluge Verachtung und Verhöhnung derjenigen, welche annehmen, daß Etwas der Art [15] „in einem der civilisirtesten Länder Europa's und im neunzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung“ zu geschehen vermöge! 9) Gegen Gräuel, wie der zuletzt erwähnte, ist das Verbrechen, das der in Rede stehenden Voraussetzung gemäß an dem Nürnberger Findling begangen worden war, so viel als gar Nichts.

In einem Nürnberger Blatte 10) war unter dem Titel: „Das stille Pfarrhaus“ eine Geschichte zu lesen, die zwar in etwas romanhaftem Style vorgetragen, jedoch als eine wahre Begebenheit bezeichnet ist, was freilich noch keine Gewißheit begründet. Sie ist auszüglich die folgende. Eine alte Kirche nebst Pfarrhaus liegt am Ende eines Dörfchens auf einer Anhöhe. In dem Hause wohnt ein alter, wahnsinniger Pfarrer mit seiner Haushälterin. Die Seelsorge der Gemeinde ist einem ebendaselbst eingezogenen jungen Kaplan übertragen. Im Hintergrunde eines Ganges befindet sich eine alte gothische Thüre, durch welche das Pfarrhaus in Verbindung mit der Kirche steht und welche niemals geöffnet wird. Der wahnsinnige Alte führt seltsame, Verdacht erweckende Reden. Auch vernimmt der junge Geistliche zuweilen von jener Pforte her klagende und [16] heulende Töne, erblickt auch einmal bei Nacht eine weibliche Person, die durch die Pforte geht. Er folgt nach und sieht, wie die Haushälterin einige Lebensmittel in einen kerkerartigen Behälter schiebt, worin eine verwilderte menschliche Gestalt erscheint. Er veranlaßt sofort eine Untersuchung, und es ergiebt sich, daß das eingekerkerte Wesen ein junger Mensch und Sohn des alten Pfarrers und der Haushälterin ist. Man hatte das Kind in jenen Winkel geborgen und gehofft, es werde mit Tod abgehen. Die Haushälterin wurde zur Strafe gezogen, den Alten traf im Gefängnisse der Schlag. Was den jungen Menschen betrifft, so wurde er zwar aus seinem Behältnisse befreit und menschlich behandelt; er konnte jedoch die veränderte Lebensweise nicht ertragen und starb. Dichte, struppige, wildverwachsene Haare bedeckten ihm Kopf und Schulter, die abgemagerten Glieder waren wie mit einem bräunlichen Leder umzogen, die Nägel an Händen und Füßen glichen den Krallen des Raubthieres. Ist diese Geschichte wirklich mehr als Erfindung, so liegt hier ebenfalls ein viel abstoßenderer Fall, als der Hauserische vor. Ich zweifle nicht daran, daß dergleiche Dinge schon hundertmal dagewesen, aber nicht zu Tage gekommen oder nicht geschichtlich überliefert worden seien; sie sind unter gewissen Umständen zu natürlich, als daß sie fehlen könnten, und schon Feuerbach bemerkt, daß Fälle der Art in gewissen Gegenden [17] gar nichts Seltenes seien. Es ist somit, wie schon gesagt, an der Vorstellung und Annahme, daß Hausers Erscheinung auf ähnlichem Grunde beruhe, durchaus nichts Ungereimtes, Ausschweifendes und Unglaubliches. Der streitige Punkt kann nur dieser sein, ob dieselbe in Beziehung auf den vorliegenden speciellen Fall statthaft und stichhaltig sei.

Und da fehlte es allerdings nicht an Solchen, die in der ganzen, so viel Aufsehen machenden Erscheinung nichts weiter als einen pfiffig ausgeführten Gaunerstreich und Betrug erblickten. Eine Geschichte, wie die Hauserische sein sollte, kam ihrem einseitig verständigen, nur an gemeine Spitzbübereien gewöhnten und glaubenden Sinne zu phantastisch und romanhaft vor, und der mächtig wirkende, jeden Zweifel und Argwohn niederschlagende Eindruck, den Hauser's persönliche Erscheinung in den ersten Zeiten zu machen pflegte, fehlte bei ihnen. Sie hielten daher den jungen Menschen für einen bösen Buben, der sich auf Gaunerei und Gaukelei gelegt, und dem es geglückt, die Rolle eines Unglücklichen zu spielen, an welchem man ein empörendes Verbrechen begangen. Die Verwundungen, die ihn erst so tödtlich niederwarfen, dann sogar in's Grab stürzten, wurden ihm selbst zur Last gelegt. Es sollten Nichts weiter, als eigene Erfindungen und listig berechnete Mystisikationen sein, welche ein erneutes Aufsehen und [18] eine verstärkte Theilnahme an der Persönlichkeit des jungen Menschen zum Zwecke gehabt. In Beziehung auf die tödtliche Wunde, an der er starb, behauptete man, er habe sich tiefer gestochen und schwerer verletzt, als seine Absicht gewesen und sei wider seinen Willen zum Selbstmörder geworden.

Auch diese Art, die Sache zu betrachten, ist nicht schon im Allgemeinen und von vorn herein albern und ungereimt. Betrug, und das zum Theil sehr schlau angelegter und sehr glücklich ausgeführter, wird in der Welt genug gespielt; es giebt Naturen und Charaktere, die dazu ganz besonders aufgelegt und geeignet sind, und solche Genie's im schlimmen Sinne des Wortes bringen es zuweilen in noch sehr jungen Jahren erstaunlich weit. Wer nun vielfach und fortwährend, wie jener Berliner Polizeimann, mit solchen Fällen und Subjekten vertraut, dem mochte leicht auch jener unglückliche Jüngling mit seiner harmlosen und unschuldvollen Kinderseele ein so durchtriebener Schlingel scheinen. Wer jedoch die von Feuerbach und mir aufgezeichneten physiologischen und psychologischen Thatsachen kennt und zu würdigen versteht, wer das gewichtvolle Zeugniß des Gefängniswärters Hiltel 11) und die ausführlichen Gutachten der Nürnberger Aerzte, von welchen H. untersucht [19] und behandelt worden ist, in Erwägung zieht 12)

und die unendliche Schwierigkeit der Rolle bedenkt, welche H. zu spielen übernommen und Jahre lang so glücklich durchgeführt hätte – die Rolle rein kindlicher Unschuld, Unwissenheit und Bewußtlosigkeit und des allmähligen naturgemäßen Erwachens aus diesem Zustand zu Leben und Bewußtsein in höherem Sinne des Wortes 13) – dem wird jene Auffassung als eine ganz unmögliche erscheinen. In hohem Grade erzwungen und unwahrscheinlich ist besonders die über Hauser's Verwundungen und gewaltsames Ende aufgestellte Meinung, und es sprechen diese blutigen Thatsachen vielmehr mit größtem Nachdrucke für die Ansicht, die in ihm einen verbrecherisch Mißhandelten, Verfolgten und Gemordeten sieht. 14) Wer zumal ihn selbst gekannt und sich namentlich seiner grenzenlosen Furchtsamkeit und Scheu vor jeder Art von Verwundung und Verletzung erinnert, von der er sich nie in seinem kurzen Leben losgemacht hat 15), der kann die Behauptung, daß er sich erst einen so stark blutenden und so gefährliche Folgen für ihn habenden Schnitt in die Stirn gegeben und sich dann sogar mit einem Dolche tödtlich in's Herz gestochen, nur lächerlich finden. [20]

Das sind nun die beiden, vornehmlich durch Feuerbach und Merker repräsentirten Ansichten, die früher allein hervortraten und sich geltend machten. Eine dritte aufzustellen, war erst der jüngsten Zeit und ihrer fortgeschrittenen Wissenschaft und Intelligenz vorbehalten. Es geschah durch den Königl. Dänischen Etatsrath und Professor der Physiologie an der Universität zu Kopenhagen, Herrn Dr. Eschricht, der nun endlich, nachdem bisher Alle nur gefaselt und gefabelt hatten, den Nagel auf den Kopf getroffen und uns mit superiorer Einsicht und diktatorischer Bestimmtheit folgende Aufschlüsse gegeben hat.

Kaspar Hauser war kein Gegenstand eines durch Andere an ihm verübten Verbrechens, wie Feuerbach will, aber auch kein von vorn herein als solcher auftretender Lügner und Betrüger, wie Merker behauptet. Die wahre, dem jetzigen Standpunkte der Wissenschaft gemäße und von aller Welt mit ehrfürchtigem Beifall aufzunehmende Ansicht der Sache ist diese, daß er im Anfange durchaus nichts weiter als ein einfacher Idiot, ein von Natur und Geburt d. h. in Folge einer diesen Zustand mit 'Nothwendigkeit bewirkenden fehlerhaften Gehirnorganisation, so und nicht anders beschaffener Schwächling an Körper und Geist gewesen, in diesem jämmerlichen Zustande nach Nürnberg gebracht, hier aber sich plötzlich entwickelt und in den großartigen [21] Komödienspieler und Streichemacher verwandelt habe, zu welchem ihn, und in Beziehung auf diese Lebensperiode mit vollem Recht, die Merker'sche Ansicht stempelt. Der „blutarme“ Mann, bei dem er aufwuchs und der ihn aus großer Dürftigkeit mit Wasser und Brod nährte, wußte mit einem so stumpfsinnigen, geistesschwachen, in jeder Rücksicht untauglichen Burschen Nichts anzufangen; er fiel ihm nur zur Last, und so suchte er sich denn desselben durch eine Art von Aussetzung zu entledigen, wie sie zu Nürnberg bewerkstelligt wurde. Die neue, ganz ungewohnte Lage, in die sich der idiotische Knabe auf diese Weise versetzt sah, machte einen solchen Eindruck auf ihn, daß seine schwachen, bis zum 16–17 Lebensjahre in dumpfer Unthätigkeit gebliebenen Kräfte mit einem Male rege wurden, jedoch eine falsche, unmoralische, nur auf Lug und Trug ausgehende Richtung nahmen, woran die ganz ungemeine und unverzeihliche Thorheit und Tollheit Schuld, womit der junge Mensch zu Nürnberg, namentlich von dem damaligen Bürgermeister Binder und seiner Gattin, und noch bei Weitem mehr von mir, in dessen verderbliche Pflege und Lehre man ihn gab, beurtheilt und behandelt wurde. Es war auf diese Weise Nichts natürlicher, als daß der anfängliche, nun aber so glücklich und unglücklich zugleich metamorphosirte Tölpel und Schwachkopf mehrere Jahre hindurch die wunderbarste Rolle spielte und eine Anzahl von Menschen jeden Standes [22] und jeden Charakters, Militärpersonen, Polizeimänner, Juristen, Geistliche, Aerzte, Aufseher, Lehrer und Erzieher, wissenschaftliche Denker und Forscher, praktische Weltleute aus dem Mittelstand und Bürgerthum, hohe Regierungsbeamte und fürstliche Personen am allerschmählichsten Narrenseile zog, bis endlich einer von seinen kecken Anschlägen und Streichen zufälliger Weise so übel ausfiel, daß er ein blutiges Lebensende zur Folge hatte.

Diesen Behauptungen ein Prädikat beizulegen, enthalte ich mich, aus Furcht, die Schranken des schriftstellerischen Anstandes zu überschreiten, über die ich nicht zu weit hinausgehen möchte, wiewohl Herr Eschricht bei so viel Anmaßung, Bosheit, Uebermuth und Grobheit, wie zu gleicher Zeit sein Werk enthält, nicht die mindeste Schonung verdient. Der erstaunte Leser mag es selbst versuchen, für ein solches Phänomen den entsprechenden Ausdruck in seinem Sprachschatze zu finden. Hätte Herr E. seine Meinung nur wenigstens mit einiger Bescheidenheit vorgetragen, gäbe sich in ihm nur wenigstens der ruhige, leidenschaftslose, nicht auf Kränkung und Herabsetzung Anderer geflissentlich ausgehende Forscher und Wahrheitsfreund zu erkennen, so wäre die Sache nicht ganz so monstros und unerhört; sie erschiene dann nur kopflos und unsinnig, und nicht auch moralisch-indignirend und bösartig. Aber auf welche Weise und mit welchen Mitteln wird hier zu Werke gegangen! [23]Unverstand und schlechte Erziehung“ ist das arrogante Buch überschrieben, das ich inskünftige der Abkürzung wegen und weil erst auf diese Weise der rechte Sinn herauskommt, nur Herrn Eschricht's „Unverstand“, so wie die darin vorgetragene, den unglücklichen Jüngling, der Herrn Eschricht an natürlichem Werth und Verstand weit überlegen war, zum Idioten stempelnde, selbst aber kaum eine Spur von Intelligenz verrathende Hypothese und Theorie, die „idiotische“ nennen werde. Wie man in dem unartigen Buche selbst traktirt wird, das ist z. B. aus folgenden schmeichelhaften Titulaturen und Phrasen zu ersehen: „Gelehrte Narren, die zu narren selbst ein Kind Talent genug besitzt“ – „Gerüchtefabrikanten, Enthusiasten, narrenhafte Professoren und Sonderlinge aus allen Ständen 16) – – „Ungereimte Vermuthungen“ – [24]Un­gereimte Leidensgeschichte“ – „Alberne Hätsche­leien“ – „Epidemisch herrschende Verblendung“ – „An Wahnsinn grenzende Verirrungen“ – „Wahnsinnige Gaukeleien“ u. dergl. Dazu kommt noch die in dem Machwerke herrschende Unredlichkeit der Darstellung und Beweisführung, indem die Angaben theils ganz falsch, theils mit perfider Auswahl und Vorliebe aus unsicheren und verdächtigen Quellen geschöpft, die der aufgestellten Theorie zu sehr widerstrebenden Thatsachen ignorirt und die für dieselbe unlösbaren Probleme umgangen sind.

Eine nähere Charakterisirung und Beleuchtung dieser Erscheinung folgt im Nachstehenden. Da hiebei so unglaubliche Dinge zu berichten sind, und es daher leicht den Anschein gewinnen könnte, als lüge und entstelle ich, so werde ich mich eines sorgfältigen Citirens besagten „Unverstandes“ befleißigen und jede daraus gezogene Einzelheit mit der bezüglichen Seitenzahl bezeichnen.

 

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1) Herodot I. 107 ff. 

2) S. unten Cap. XII. ff. 

3) Vergl. Herders Ideen zur Philos. der Gesch. der Menschheit, Buch III. Nr. vi. und die daselbst angezeigten Schriften. 

4) Ich will nur zwei Beispiele nennen, die tönende Memnonssäule und die goldenen Aepfel der Hesperiden. „Erweiterte Erfahrung,“ sagt Schelling in seinen „Gottheiten von Samothrace S. 86,“ „lehrt Manches begreifen, was unbegreiflich erschien, und ertheilte schon Warnungen genug. So was die tönende Memnonssäule betrifft. Mancherlei Thatsachen, wie das periodische Aufhören und Wiederkommen des Tons, auch daß offenbar mehrere solcher Säulen waren, hinderten nicht, Priesteranstalt zu vermuthen. Nun kommen die gewiß unverdächtigen Franzosen, und siehe noch jetzt tönen beim Aufgange der Sonne die Granitblöcke des thebäischen Thals!“ Die goldenen Aepfel der Hefperiden, welche die älteste Sage an die Enden der Erde, den Okeanosstrom und den äußersten Westen setzt, kennt Jedermann als ein mythologisches Märchen und Dichterphantom. In der Südsee aber findet sich eine eigenthümliche Art wirklich goldfarbiger, apfelartiger Früchte, Spondias dulcis, welcher Forster den Vorzug vor jedem anderen Obste giebt. 

5) „In den Wolfshöhlen findet man sehr oft die Schmucksachen, welche von aufgefressenen Kindern herrühren; es steht aber auch über allem Zweifel fest, daß die Wölfinnen der Kinder schonen und sie mit ihren Jungen aufwachsen lassen.“ 

6) So bei uns die „Frankfurter Familienblatter“ vom 8. April 1858. 

7) Stanhope, Materialien zur Geschichte Kaspar Hauser's. Heidelberg 1835. S. 31 f. 

8) S. des Genannten Reisen durch Deutschland, Feuerbach's Kaspar Hauser und die Gött. gel. Anz. Juli I831. S. 1097. 

9) Eschricht, „Unverstand und schlechte Erziehung.“ Berlin, 1857. S. 67. 

10) Friedens- und Kriegscurier vom 28. Dec. 1833. 

11) S. unten Cap. V. und Anhang Nr. V. 

12) Einen kurzen Auszug daraus s. ebendaselbst im Anhange.  

13) Vergl. Krug und Eschricht ebendaselbst.  

14) S. unten Cap. VII.  

15) Vergl ebendaselbst.  

16) „Sonderlinge aus allen Ständen“ ist ein sich selbst widersprechender Begriff. Leute, die sich in allen Ständen finden und bei einer einzigen Gelegenheit in solcher Anzahl zur Hand sind, nennt man nicht Sonderlinge, da sie nichts Besonderes sind. „Leute aus allen Ständen“ zu sagen, ging freilich nicht an; denn das hätte dem Leser den Gedanken erweckt: „Wie war es möglich, daß ein von Natur so stumpfer und intelligenzloser Mensch, wie H. gewesen sein soll, Leute aus allen Ständen zum Besten hatte?“ Diesem Gedanken vorzubeugen, wurde die unsinnige Phrase erfunden, die von deutschen Blättern gleichwohl ehrfurchtsvoll nachgeschrieben und wiederholt worden ist. Sie kam ja vom Ausland und diente, wie die ganze Schrift, zur Schmach des Vaterlandes!