BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Jacob Grimm

1785 - 1863

 

Von der Poesie im Recht

 

1815

 

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§. 6.

[Beweis aus einzelnen poetischen rechtswörtern.]

Von der poesie der form komme ich nun zu der, welche schon in einzelnen rechtswörtern liegt. die deutschen gesetze enthalten eine menge der schönsten, in denen jedesmal die bedeutung der sache innerlichst, mit einem reinen bild erfaszt und ausgedrückt wird.

Verwandte oder magen heiszen statt: männliche und weibliche schwert- und spindel- (spill-) magen, nach einer durchaus tiefen und poetisch bewährten ansicht. ‚das erbe geht vom schwert auf die kunkel‘ (hereditas ad fusum a lancea) gibt weit lebendiger einen satz, als ihn unsere juristensprache ausdrücken könnte. verwandte werden auch nagelfreunde 1) genannt, weil nagel ein haltendes band, eine noth aussagt, und enthält nur viel frischer das nämliche, was nothfreunde (necessarii); grade, welche nach und nach unter ursprünglich gleich bedeutigen wörtern unterschieden werden, kümmern uns hier nicht. wenig wörter haben einen so vielsinnigen rechtsgebrauch als die einfache verbindungen ausdrückenden: band, schoos, busen, mund. weil die begriffe geschlecht, schoos, stamm und baum sich untereinander nah liegen; geboren werden, entsprieszen, wachsen, keimen das nämliche besagen, so erklären sich daraus mancherlei zusammensetzungen. schooskind heiszt eigentlich nichts anders, als was kind 2), jüngstes und der mutter liebstes; busenfreund eigentlich nichts als freund, d. h. verwandter, aus demselben busen und stamm. allein schoossitzkinder (skotsätubarn) sind dem nordischen recht wieder sonderlich: die legitimierten kinder, die vor der hochzeit geboren, während dem kirchensegen der mutter im schoos sitzen und dadurch ächt gemacht werden. an die todte hand, handschlag, handkauf und ähnliche will ich blosz erinnern. peinliche leibliche strafen heiszen solche: über haut und haar, oder über leib und haut, ähnlich dem altlateinischen jus de tergo vitaque (Liv. II, 15.). treue ist eid, und weil der eid gestabt wird, steht: ‚seine treue an stab geben‘  3) für das einfache schwören. im personenrecht sind immer die meisten poetischen wörter, ein adoptiertes kind wird, wie im lateinischen wunschkind (önskbarn) auch kürsohn genannt, denn wünschen ist wählen, wie optio wahl; ferner heiszt es im nordischen gesetz knäsettingr, und kniesetzen ist adoptare, der fremde mann der sich seiner annimmt, und es auf sein knie 4) nimmt, verheiszt ihm dadurch schutz. vormund bezeichnet den mann, der das waise vertritt, für es spricht und ihm gleichsam seinen mund leiht; nebenbei aber auch: der es schützt, weil in mund zugleich schutz und macht liegt. balemund daher auch nicht blosz ein böser vormund, sondern überhaupt ein böser vertreter, sachwalter. noch schöner ist gerhab, das oberdeutsche, annoch in Österreich volksgänge, im landrecht schon ausgemerzte wort: einer, der das vaterlose kind im schoos (geren) hält (hat, habt), es mit seinem mantel oder rocksaum zudeckt, also genau wieder am grund die idee von tutus, bedeckt, tuitus, aber wie viel lebendiger ausgesprochen! schutzesbedürftige sind geborgen, sobald sie die königin unter den mantel nimmt (wird in altdeutschen gesängen ausgedrückt: unter des mantels ort, d. i. rand, saum). jene nordischen skotsätubarn heiszen im deutschen recht auch mantelkinder und die mutter, sie frei und ehrlich zu machen, wirft zur kirche den mantel über sie 5). bei uns im hanauischen und vermutlich andrerorte herscht noch die sitte, dasz der gemeine mann während der trauung den mantel um die braut, die er also unter seine obhut nimmt, herschlägt und das symbolische verhüllen und bedecken der ehleute ist bekannt. einen verschwender nennt unser recht mundtodt, er kann sich selbst nicht mehr schützen und ist wieder unmündig, macht- und sprachlos geworden. morgengabe, einkindschaft, lacherben und viel andere wörter, die ich hier unmöglich ausheben kann, haben sämmtlich etwas poetisches, frisches an sich und sind der sitte und sache durchaus angemessen gebildet. noch viel reicher daran sind die nordischen gesetze, weil sie sich länger in der muttersprache erhalten und das römische recht auch seinem inhalt nach dort schwerern eingang gefunden hat. wie dichterisch ist rishöfdi (waldhaupt 6)) ein im reiszig, wald erzeugtes kind landesflüchtiger eltern. die verbannung wird skoggang (waldgang) darum genannt, weil solche verbrecher in wälder und wüsten flohen 7), von raub und mord lebten; ich kann beweisen, dasz es eine weit verbreitete, auszer dem norden zu spürende idee ist, welche die wörter räuber, wilddieb, waldwohner, wolf (vargr) und mörder stets untereinander verbindet. mit einem andern, gleichpoetischen ausdruck nennt das deutsche recht einen geächteten vogelfrei, preiszgegeben den vögeln unter dem himmel, unter schutz und dach der menschen nicht mehr aufzunehmen. eine witwe, die schalten und walten darf, vidua sui domina heiszt: sängiufast enkia, wörtlich eine bettfeste; bett und tisch  8) stehen häufig für den inbegriff der ganzen hausgewalt. die Römer, wann sie ihre götter erzürnt glaubten, beschwichtigten sie durch lectisternien (Liv. V, 8.) indem sie durch öffentliches aufschlagen ihres sitzes, thrones oder lagers deren obergewalt in der stadt anerkannten. so kommt auch bett und bank vor in der germanischen dichtung und ganz folgerecht wird von der zum zweiten ehbett schreitenden witwe gesagt, dasz sie ‚ihren stuhl verrücke‘ sich gleichsam neben einem neuen gemahl niederlasse  9).

 

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1) im nord. gesetz kommt ein zeitwort nagelfara vor (Ihre h. v.). die bemerkung, dasz die verwandtschaftsgrade mit den einzelnen theilen des menschlichen leibs zusammenhangen, ist zwar richtig und doch die erklärung jenes worts durch: jura consanguinitatis usque ad septimum gradum rimari (bis auf den letzten nagel) nicht allein befriedigend. bedeutend aber, dasz das wunderbare schiff der Edda Naglfari heiszt.  

2) vergl. kinan, die alte form für kiman, keimen. 

3) urk. von 1491 bei Siebenkees a.a.O. I, 219.  

4) wer kann hier verkennen, wie die idee in der einfachen sprache liegt: γόνυ, genu , knie verwandt mit γένος, genus und kne (altd. geschlecht) stamm und schoos.  

5) s. Du Cange v. pallio cooperire. 

6) insofern man höfdi aus höfud, höfd (haupt) erklären darf. andere haben es von häfda (schwängern) ableiten wollen. 

7) das westgothländische gesetz sagt vom skogarman poetisch: sein frühmahl iszt er zu haus, wenn das gericht gesprochen wird, aber sein nachtmahl musz er schon im walde nehmen.  

8) man denke hierbei an die scheidung von tisch und bett. in der Edda steht ‚ein bett sich zusammenmachen‘ für vermählen; im recht ebendafür: ‚die decke beschlagen‘.  

9) drückt die poesie anders das gleiche recht und die gleiche gewalt der ehleute (bettgenossen) aus? Ilias I, 611.