BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Jacob Grimm

1785 - 1863

 

Von der Poesie im Recht

 

1815

 

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§. 2.

[Beider ursprung gemeinschaftlich.]

Dasz recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren, hält nicht schwer zu glauben. in ihnen beiden, sobald man sie zerlegen will, stöszt man auf etwas gegebenes, zugebrachtes, das man ein auszergeschichtliches nennen könnte, wiewol es eben jedesmal an die besondere geschichte anwächst; in keinem ist blosze satzung noch eitle erfindung zu haus 1). ihr beider ursprung beruhet auf zweierlei wesentlichem, auf dem wunderbaren und dem glaubreichen. unter wunder verstehe ich hier die ferne, worin für jedes volk der anfang seiner gesetze und lieder tritt; ohne diese unnahbarkeit wäre kein heiligthum, woran der mensch hangen und haften soll, gegründet; was ein volk aus der eignen mitte schöpfen soll, wird seines gleichen, was es mit händen antasten darf, ist entweiht. glaube hingegen ist nichts anders als die vermittlung des wunders, wodurch es an uns gebunden wird, welcher macht, dasz es unser gehört, als ein angeborenes erbgut, das seit undenklichen jahren die eltern mit sich getragen und auf uns fortgepflanzt haben, das wir wiederum behalten und unsern nachkommen hinterlassen wollen. nur die gerechtigkeit ist dem volke recht und untrüglich, die aus ‚der ältesten frommer kundschaft‘ genommen wird; nur solche sagen behagen ihm eigentlich, die es mit der milch eingesogen und bei sich unter einem dache wohnen gesehen hat. man darf also mit vollem fug das herkommen oder die gewohnheit des gesetzes wie des epos in eine unausscheidliche mischung himmlischer und irdischer stoffe stellen; dunkel musz uns ihr anheben sein, allein weil sie längst bei unserm geschlechte gewohnt haben und mit ihm hergekommen sind, so wissen wir auch gewisz und klar, warum wir es mit ihnen halten und ihnen zugewandt bleiben. was aber aus einer quelle springt, das ist sich jederzeit auch selbst verwandt und greift in einander; die poesie wird folglich das recht enthalten wie das gesetz die poesie in sich schlieszen. unseren vorfahren wenigstens würde eine andere ansicht fremd, ja unverständlich gewesen sein. die heutige Wissenschaft pflegt alles haarklein zu spalten, sie aber trennten nichts, sondern genossen alles aus einem vollkommen zureichenden grund; alles war ihnen nur für die geradeste, lebendigste anwendung vorhanden, eben deshalb auch alles gemeines gut und eigenthum jedermanns. keinem dichter gehörte das lied; wer es sang wuste es blosz fertiger und treuer zu singen; eben so wenig gieng das ansehen des gesetzes aus von dem richter, der kein neues finden durfte; sondern die sänger verwalteten das gut der lieder, die urtheiler verweseten amt und dienst der rechte. unbedenklich also müssen die poesie und das recht der alten zeit als für einander beweisend und gültig angenommen werden und beide als mit sitten 2) und festen des volks eng zusammenhangend. die feier und form der ehen und leichen kann hierzu das überzeugendste beispiel liefern: das kirchenrecht überhaupt scheint mir aus dieser mitte zwischen geistlichem glauben und weltlichem recht eigentlich entsprungen. insgemein ist alles recht, gleich der sage, an seinem ort selbstgewachsen und in der regel unentliehen, so viel gleiche, überraschende züge der gesetzgebung auch durch jedes volk hingehen. können diese aber noch in ihrer einfachheit und poesieähnlichkeit erkannt werden, so müssen sie zur unmittelbaren wiederfindung und aufdeckung mancher, im wust der späteren wissenschaft vielleicht untergegangener oder verhüllter rechtsbegriffe dienen.

 

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1) es ist die würdige, wahre ansicht, die der sammler des Sachsenrechts in den bekannten worten ausdrückt:

‚dies recht hab ich nicht erdacht,

es habens von alter uf uns bracht

unsere gute vorfahren.‘ 

2) daher wir in den 12 tafeln die leichengesetze gegen das beweinen und goldmitbegraben (auszer: si cui auro dentes vincti escint) und allen zierrath (rogum ascia ne polito) als hauptsächliche finden.