BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Joseph von Eichendorff

1788 - 1857

 

Gedichte in zeitlicher Folge

 

1808

 

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[Raymunds Klage.]

 

Aus der Kluft treibt mich das Bangen,

Alte Klänge nach mir langen –

Süße Sünde, laß mich los!

Oder wirf mich ganz darnieder,

Vor dem Zauber dieser Lieder

Bergend in der Erde Schooß!

 

Gott! Inbrünstig möcht' ich beten,

Doch der Erde Bilder treten

Immer zwischen Dich und mich,

Und ringsum der Wälder Sausen

Füllt die Seele mir mit Grausen,

Strenger Gott! ich fürchte Dich.

 

Ach! So brich auch meine Ketten!

Alle Menschen zu erretten,

Gingst Du ja in bittern Tod.

Irrend an der Hölle Thoren,

Ach, wie bald bin ich verlohren!

Jesus, hilf in meiner Noth!

 

Entstanden 1808 oder früher, Erstdruck 1906

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[Waldhornlied.]

 

Ueber gelb' und rothe Streifen

Ziehen hoch die Vögel fort.

Trostlos die Gedanken schweifen,

Ach! sie finden keinen Port,

Und der Hörner dunkle Klagen

Einsam nur ans Herz Dir schlagen.

 

Siehst Du blauer Berge Runde

Ferne über'm Walde stehn,

Bäche in dem stillen Grunde

Rauschend nach der Ferne gehn?

Wolken, Bäche, Vögel munter,

Alles ziehet mit hinunter.

 

Golden meine Locken wallen,

Süß mein junger Leib noch blüht –

Bald ist Schönheit auch verfallen,

Wie des Sommers Glanz verglüht,

Jugend muß die Blüthen neigen,

Rings die Hörner alle schweigen.

 

Schlanke Arme zu umarmen,

Rothen Mund zum süßen Kuß,

Weiße Brust, dran zu erwarmen,

Reichen, vollen Liebesgruß

Bietet Dir der Hörner Schallen,

Süßer! komm, eh sie verhallen!

 

Entstanden 1808 oder früher, Erstdruck 1906

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Der Kranke.

 

Vögelein munter

Singen so schön,

Laßt mich hinunter

Spazieren gehn!

 

„Nacht ist's ja draußen;

S'war nur der Sturm,

Den Du hörst sausen

Droben vom Thurm.“

 

Liebchen im Garten

Seh' ich dort steh'n,

Lang mußt' sie warten,

O laß't mich gehn!

 

„Still nur! der blasse

Tod ist's, der sacht

Dort durch die Gasse

Schleicht in der Nacht.“

 

Wie mir ergraute,

Bleiches Gesicht!

Gebt mir die Laute,

Mir wird so licht!

 

„Was willst Du singen

In tiefster Noth?

Lenz, Lust vergingen,

Liebchen ist todt!“ –

 

Laßt mich, Gespenster,

Lied, riegl' auf die Gruft!

Oeffnet die Fenster,

Luft, frische freie Luft!

 

Entstanden 1808/09, Erstdruck 1826