Adolf von Düring
1880
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Die Canterbury-Erzählungen
Fragment VII
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Erzählung der Priorin.Vers 453 - 690
Herr, unser Herr! wie weithin ist gedrungenDurch alle Lande auf dem ErdenrundDein heil'ger Name. Dir wird Lob gesungenVon würd'gen Männern, und es macht der MundDer jungen Kinder Deine Güte kund.Zu Deinem Preise lallt oft unbewußtBereits der Säugling an der Mutter Brust. | |
460 | Drum sei, soweit mir Kraft dazu gegeben,Erzählt die folgende Begebenheit,Dich und die weiße Lilie zu erheben,Die Dich gebar als unbefleckte Maid;Mehrt auch mein Lob nicht ihre Herrlichkeit;Denn sie ist nach dem Heiland, ihrem Sohne,Der Güte Wurzel und der Ehre Krone.O, Maid und Mutter! Flammenbusch des Moses,Im Feuer lodernd, und doch unversehrt!Du, der die Gottheit durch ein makelloses |
470 | Empfängniß ihren heil'gen Geist gewährt,Wodurch des Vaters Weisheit Dir bescheert,Als er erleuchtet Deine reine Seele;O, helfe mir, daß ich Dein Lob erzähle!O, Jungfrau, keiner Zunge kann gelingen,Je Deine Demuth, Tugend und GeduldUnd Herrlichkeit und Güte zu besingen.Oft kommst Du uns zuvor in Deiner Huld,Noch eh' wir bitten, und Du führst aus SchuldDurch Dein Gebet mit gütereichem Sinn |
480 | Zu Deinem lieben, theuren Sohn uns hin.O, Segensherrin, wie soll mir es glücken,Zu preisen Deine Würde, wie Gewalt?Ich bin zu schwach. Mich wird die Last erdrücken,Denn wie ein Kind, das kaum zwölf Monat' alt,Anstatt zu sprechen, unverständlich lallt,So geht es mir. Drum, bitt' ich Dich, gewähreMir Deinen Beistand, daß mein Lied Dich ehre!In einer Stadt von christlichen AsiatenLag einst ein Judenviertel, welches zwar |
490 | Geduldet ward vom LandespotentatenAus Wucherei und Goldgier; doch es warVerhaßt bei Gott und seiner Christen Schaar.Man konnte durch die Gasse gehn und reiten,Die offen war und frei nach beiden Seiten.Zu einer kleinen Schule, die dort in derErwähnten Gasse ganz am Ende stand,Ward Jahr für Jahr ein Haufen junger KinderAus christlichem Geblüte hingesandt,Und lernte dort, was Sitte war im Land, |
500 | Und das besagt: zu singen und zu lesen,Wie stets bei Kindern dieses Brauch gewesen.Zu dieser Schule pflegte, unter andern,Auch einer Wittwe siebenjähr'ger SohnAls kleiner Zögling Tag für Tag zu wandern;Und vor dem Bild der Jungfrau beugte schon,Wenn er vorüber ging, mit DevotionDer Knabe, wie man ihm gelehrt, das Knie,Und betete: Gegrüßt sei'st Du, Marie.Die theure Mutter Christi zu verehren, |
510 | War von der Wittwe schon ihm eingeprägt;Und er vergaß es nicht, da frühe LehrenEin schlichtes Kind leicht zu behalten pflegt.Jedoch in mir erwacht hierbei und regtSich an St. Niklaus die Erinnerung,Der unsern Herrn gepriesen schon so jung.Mit seinem ABCbuch saß fortwährendDer Knabe in der Schule auf der Bank,Wenn man, den Kindern die Response lehrend,Daselbst das Alma redemptoris“ sang. |
520 | Er lauschte, näher rückend, oft und langAuf Worte, wie auf Noten eifrig hin,Und rasch blieb ihm der erste Vers im Sinn.Doch die Bedeutung war ihm noch verschlossen.Er war zu jung, Lateinisch zu verstehn.Drum bat er einstmals einen SchulgenossenAuf seinen Knieen unter heißem Flehn,Als Uebersetzer ihm zur Hand zu gehn,Das Lied in seiner Mundart ihm zu lehren,Und den Gebrauch desselben zu erklären. |
530 | Der Bursche, welcher älter war an JahrenAls jener, sprach: Die heil'ge Jungfrau preistMan durch dies Lied, soweit ich es erfahren.Es ist ein Gruß, doch ein Gebet zumeist,Das hülfreich sich in Todesnoth erweist,Doch viel versteh' ich nicht von diesen Dingen.Ich lerne nicht Grammatik, sondern Singen.“Wie?“ – frug die kleine Unschuld – ist zum PreiseDer Mutter Christi dieses Lied gemacht?Dann will ich Alles thun, mir Wort und Weise |
540 | Noch einzuprägen vor der heil'gen Nacht.Ja, würde täglich dreimal eine TrachtVon Prügeln mir beim ABC gegeben,Ich lern' es doch, die Jungfrau zu erheben.“Nun lehrte auf dem Schulweg alle TageIhm sein Gefährte heimlich den Gesang,Bis er die Worte nebst der Töne LageWohl aufgefaßt, und es mit reinem KlangAus voller Kehle täglich zweimal sang,Heim von der Schule und zur Schule hin; |
550 | Denn Christi Mutter lag ihm stets im Sinn.Wie schon erwähnt ist, mußte nothgedrungenZur Schule durch das jüdische QuartierDer Kleine gehn, und heiter ward gesungenVon ihm auch Alma redemptoris“ hier.Sein ganzes Herz war so erfüllt von ihr,Daß unwillkürlich er den Weg entlangZur Mutter Christi betete und sang.Der Urfeind, Satan, aber, diese Schlange,Die sich zum Wespennest der Juden Herz |
560 | Erkoren hat, schwoll auf und sprach: Wie lange,Ebräer, duldet ihr den frechen Scherz,Daß durch die Gassen auf- und niederwärtsZu Eurem Hohn ein Bube solche LiederZu singen wagt, die dem Gesetz zuwider?“Den unschuldsvollen Knaben zu ermorden,Verschwor die Judenschaft sich alsobald.Es lag ein Mörder, der gedungen worden,In einer Gasse schon im Hinterhalt.Der Knabe kam. – Ihn packte mit Gewalt |
570 | Und schnitt ihm seine Gurgel ab der BubeUnd warf den Leichnam in die nächste Grube.Ja, in ein Senkloch, wo des Koths entludenSich die Ebräer, warf er ihn hinein.O, Ihr Herodesse! Verfluchte Juden!Was wird die Strafe solches Frevels sein?Mord will heraus – und hier zumal wird schreinDas Blut zum Himmel, damit Gottes EhreSich auf der Welt verbreite und vermehre.O, Märtyrer, der unbefleckt geblieben, |
580 | Du gehst nunmehr dem weißen Lamm voran,Und stimmst – wie dies in Patmos aufgeschriebenVom großen Evangelisten St. Johann –Ein neues Lied im Himmel vor ihm anMit jenen Auserwählten im Verband,Die nimmerdar ein fleischlich Weib erkannt.Die ganze Nacht durchwachte, harrend immer,Die arme Wittwe. – Doch ihr Kind blieb fort.Und bleich vor Furcht ging sie beim TagesschimmerZur Schule hin und suchte rings im Ort |
590 | Nach ihrem Kleinen emsig hier und dort.Und so erfuhr sie schließlich durch ihr Spähen,Daß man im Ghetto ihn zuletzt gesehen.Im Mutterbusen Leid und Jammer hegend,Und halb von Sinnen, ging die Wittwe dannAuf Suche aus, jedweden Ort erwägend,Wo sie den Kleinen etwa finden kann,Und rief die güt'ge Mutter Christi an;Bis sie, entschlossen, nach ihm das verfluchteQuartier der Juden noch zuletzt durchsuchte. |
600 | Dort hub sie an, zu fragen und zu flehen,Und ging in jedes Judenhaus hineinUnd bat zu sagen, ob sie nicht gesehenIhr kleines Kind? Und Alle sprachen: Nein!Doch gab ihr Jesus den Gedanken ein,Nach ihm zu rufen nahe bei der Stelle,Wohin geschleppt ihn jener Mordgeselle.O, großer Gott! zum Herold Deines RuhmesMachst Du der Unschuld Mund. Sieh'! Deine MachtWird von dem Glanzrubin des Märtyrthumes, |
610 | Der Keuschheit reinstem Demant und Smaragd,Selbst mit zerschnittner Kehle kund gemacht!Denn laut und deutlich durch den Platz erklingt,Wie er sein Alma redemptoris“ singt.Da dieses alle christlichen Genossen,Die durch die Straßen gingen, Wunder nahm,So sandten sie sofort zu dem ProfoßenDer augenblicklich auch zur Stelle kam,Und Christ, den Himmelskönig lobesam,Mit seiner allverehrten Mutter pries, |
620 | Und dann die Juden schleunigst binden ließ.Emporgehoben unter JammerklagenWard dann das Kind, das stets mit lautem TonSein Lied noch sang, und zur Abtei getragenIn großer, feierlicher Procession.Ohnmächtig lag die Mutter bei dem Sohn,Und schwer nur schien den Leuten zu gelingen,Die neue Rahel von ihm fortzubringen.Durch einen Tod, der voller Schimpf und Qualen,Ließ der Profoß sofort die Judenbrut, |
630 | Die darum wußte, für den Mord bezahlen.Zu dulden war nicht solcher Frevelmuth;Und den trifft Uebel, welcher Uebel thut.Nach dem Gesetze ward von wilden PferdenDas Pack geschleift, um dann gehängt zu werden.Die kleine Unschuld lag auf seiner Bahre,Und, ehe man die Leiche beigesetzt,Sang mit den Klosterbrüdern vorm AltareDer Abt die Messe; und dann ward zuletztDas Kind mit heil'gem Wasser noch benetzt. |
640 | Doch kaum fiel der geweihte Tropfen nieder,Sang es: O, Alma redemptoris“ wieder.Der Abt, ein Mönch von heilig frommen Sitten,Wie Mönche oft – wenn auch nicht immer – sind,Beschwor den Kleinen und hub an zu bitten:Bei dem dreiein'gen Gotte, sag' geschwind,Was ist Dir widerfahren, liebes Kind?Durchschnitten ist Dir – seh' ich – Deine Kehle.Was ist der Grund, daß Du noch singst? Erzähle!“Bis auf den Wirbel ist mein Hals durchschnitten!“ |
650 | – Sprach dieses Kind – Längst hätt' ich nach der ArtDer Menschenkinder schon den Tod erlitten,Doch Christus – wie die Schrift Euch offenbart –Will, daß sein Ruhm für ew'ge Zeit gewahrt,Und läßt mich, mein Gebet ihr darzubringen,Der theuren Mutter, noch: ‚O, Alma‘ singen.“Die Mutter Gottes, diese Gnadenquelle,Hab' ich verehrt aufs Höchste lebenslang.Sie war bei meiner Todesnoth zur Stelle,Und hieß mich singen ihren Lobgesang. |
660 | Doch schien es mir, als ich im Tode rang,Und ich das Lied sang, wie ich immer pflegte,Daß sie ein Korn mir auf die Zunge legte.“Und deßhalb muß ich singen, immer singenZur Ehre dieser segensreichen Magd,Bis von der Zunge dieses Korn zu bringenGelungen ist.“ Ich will“ – hat sie gesagt –Dich nicht verlassen, sei nur unverzagt,Mein lieber Sohn. Ich hole Dich bestimmt,Wenn man das Korn von Deiner Zunge nimmt.“ |
670 | Gleich nahm der heil'ge Mönch, der Abt vom Kloster,Das Korn von seiner Zunge, und sodannSchied von der Erde friedlich und getrost er.Starr sah', indem wie Regen niederrannSein Thränenstrom, der Abt dies Wunder an,Und fiel in Ohnmacht, und wie angekettetLag er bewußtlos auf der Flur gebettet.Und weinend sanken alle Mönche niederUnd priesen Christi Mutter im Verein.Und hinterher erhoben sie sich wieder, |
680 | Und in ein Grab von weißem MarmelsteinVersenkten sie des Märtyrers Gebein.Dort ruht er sanft. Und möge Gott uns segnen,Daß ihm im Himmel einst auch wir begegnen!O, junger Hugh von Lincoln, uns entrissenNicht minder durch verfluchter Juden HandIn jüngstvergangnen Zeiten, wie wir wissen,Sei für uns Sünder voller UnbestandDein Fürgebet zum gnäd'gen Gott gesandt,In uns die Gnadengabe zu vermehren, |
690 | Maria, seine Mutter, zu verehren! |