Annette von Droste-Hülshoff
1797 - 1848
Das geistliche Jahr
in Liedern auf alle Sonn- und Festtage
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Am fünften Sonntagin der Fasten.
Evang.: Die Juden wollen Jesum steinigen. [Joh. 8, 46-56]
Die Propheten sind begraben!Abraham ist todt!Millionen, Greis und Knaben,Und der Mägdlein roth, | |
5 | Viele, die mir Liebe gaben,Denen ich sie bot,Alle, alle sind begraben!Alle sind sie todt!
Herr, du hast es mir verkündet, |
10 | Und dein Wort steht fest,Daß nur der das Leben findet,Der das Leben läßt.Ach, in meiner Seele windetEs sich dumpf gepreßt; |
15 | Doch, du hast es mir verkündet,Und dein Wort steht fest!
Aber von mir selbst bereitet,Leb ich oft der Pein,Alles scheint mir wohl geleitet, |
20 | Und der Mensch allein,Der dein Ebenbild bedeutet,Jammervoll zu seyn;Sieh, so hab' ich mir bereitetNamenlose Pein.
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25 | Hab ich grausend es empfunden,Wie in der NaturAn ein Fäserchen gebunden,Eine Nerve nur,Oft dein Ebenbild verschwunden |
30 | Auf die letzte Spur:Hab' ich keinen Geist gefunden,Einen Körper nur!
Seh ich dann zu Staub zerfallen,Was so warm gelebt, |
35 | Ohne daß die Muskeln wallen,Eine Nerve bebt,Da die Seele doch an AllenInnig fest geklebt,Möcht ich selbst zu Staub zerfallen, |
40 | Daß ich nie gelebt!
Schrecklich über alles DenkenIst die dumpfe Nacht,Drinn sich kann ein Geist versenken.Der allein gedacht, |
45 | Der sich nicht von dir ließ lenken,Helle Glaubensmacht!Ach, was mag der Finstre denkenAls die finstre Nacht!
Meine Lieder werden leben, |
50 | Wenn ich längst entschwand.Mancher wird vor ihnen beben,Der gleich mir empfand.Ob ein Andrer sie gegeben,Oder meine Hand! |
55 | Sieh, die Lieder durften leben,Aber ich entschwand!
Bruder mein, so laß uns sehenFest auf Gottes Wort,Die Verwirrung wird vergehen, |
60 | Dies lebt ewig fort.Weißt du wie sie mag entstehenIm Gehirne dort?Ob wir einst nicht lächelnd sehenDer Verstörung Wort,
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65 | Wie es hing an einem Faden,Der, zu hart gespannt,Mit entflammtem Blut beladensich der Stirn entwand?Flehen wir zu Gottes Gnaden, |
70 | Flehn zu seiner Hand,Die die Fädchen und die FadenLiebreich ausgespannt. |