Annette von Droste-Hülshoff
1797 - 1848
Gedichte
Einzelveröffentlichungen
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Sylvesterabendentstanden 1844
Am letzten Tage des JahresDa dacht' ich wie Mancher todt,Den ich bei seinem BeginneNoch lustig gesehn und roth, | |
5 | Wie Mancher am SargesbaumeGelacht unterm laubigen Zelt,Und wie vielleicht auch der meineZur Stunde schon sey gefällt.
Wer wird dann meiner gedenken, |
10 | Wenn ich nun gestorben bin?Wohl wird man Thränen mir weihen,Doch diese sind bald dahin!Wohl wird man Lieder mir singen,Doch diese verweht die Zeit! |
15 | Vielleicht einen Stein mir setzen,Den bald der Winter verschneit!
Und wenn die Flocke zerronnenUnd kehrt der Nachtigall Schlag,Dann blieb nur die heilige Messe |
20 | An meinem Gedächtnißtag,Nur auf zerrissenem BlatteEin Lied von flüchtigem Stift,Und mir zu Häupten die DeckeMit mooszerfressener Schrift.
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25 | Wohl hab' ich viele Bekannte,Die gern mir öffnen ihr Haus;Doch wenn die Thüre geschlossen,Dann schaut man nimmer hinaus;Dann haben sie einen Andern |
30 | An meiner Stelle erwählt,Der ihnen singt meine LiederUnd meine Geschichten erzählt.
Wohl hab' ich ehrliche Freunde,Die geht es härter schon an; |
35 | Doch wenn die Kette zerrissen,Man flickt sie, so gut man kann;Zwey Tage blieben sie düster– Sie meinten es ernst und treu, –Und giengen dann in die Oper |
40 | Am dritten Tage auf's neu.
Ich habe liebe Verwandte,Die trugen im Herzen das Leid,Allein wie dürfte verkümmernEin Leben so Vielen geweiht? |
45 | Sie haben sich eben bezwungen,Für andere Pflichten geschont,Doch schweben meine ZügeZuweilen noch über den Mond.
Ich habe Brüder und Schwestern, |
50 | Da gieng ins Leben der Stich,Da sind viel Thränen geflossenUnd viele Seufzer um mich;O, hätten sie einsam gestanden,Ich lebte in ewigem Licht! |
55 | Nun haben sie meines vergessenUm ihres Kindes Gesicht.
Ich hab', ich hab' eine Mutter,Der kehr' ich im Traum bey Nacht,Die kann das Auge nicht schließen, |
60 | Bis mein sie betend gedacht;Die sieht mich in jedem Grabe,Die hört mich im Rauschen des Hains –O, vergessen kann eine MutterVon zwanzig Kindern nicht eins! |