BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Annette von Droste-Hülshoff

1797 - 1848

 

Gedichte

 

1844

 

Fels, Wald und See

 

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Der Säntis

entstanden 1835/36

 

Frühling

Die Rebe blüht, ihr linder Hauch

Durchzieht das thauige Revier,

Und nah' und ferne wiegt die Luft

Vielfarb'ger Blumen bunte Zier.

 

5

Wie's um mich gaukelt, wie es summt

Von Vogel, Bien' und Schmetterling,

Wie seine seidnen Wimpel regt

Der Zweig, so jüngst voll Reifen hing.

 

Noch sucht man gern den Sonnenschein

10

Und nimmt die trocknen Plätzchen ein;

Denn Nachts schleicht an die Gränze doch

Der landesflücht'ge Winter noch.

 

O du mein ernst gewalt'ger Greis,

Mein Säntis mit der Locke weiß!

15

In Felsenblöcke eingemauert,

Von Schneegestöber überschauert,

In Eisespanzer eingeschnürt:

Hu! wie dich schaudert, wie dich friert!

 

Sommer

Du gute Linde, schüttle dich!

20

Ein wenig Luft, ein schwacher West!

Wo nicht, dann schließe dein Gezweig

So recht, daß Blatt an Blatt sich preßt.

 

Kein Vogel zirpt, es bellt kein Hund;

Allein die bunte Fliegenbrut

25

Summt auf und nieder über'n Rain

Und läßt sich rösten in der Glut.

 

Sogar der Bäume dunkles Laub

Erscheint verdickt und athmet Staub.

Ich liege hier wie ausgedorrt

30

Und scheuche kaum die Mücken fort.

 

O Säntis, Säntis! läg' ich doch

Dort, – grad' an deinem Felsenjoch,

Wo sich die kalten, weißen Decken

So frisch und saftig drüben strecken,

35

Viel tausend blanker Tropfen Spiel;

Glücksel'ger Säntis, dir ist kühl!

 

Herbst

Wenn ich an einem schönen Tag

Der Mittagsstunde habe Acht,

Und lehne unter meinem Baum

40

So mitten in der Trauben Pracht:

 

Wenn die Zeitlose über's Thal

Den amethystnen Teppich webt,

Auf dem der letzte Schmetterling

So schillernd wie der frühste bebt:

 

45

Dann denk' ich wenig drüber nach,

Wie's nun verkümmert Tag für Tag,

Und kann mit halbverschlossnem Blick

Vom Lenze träumen und von Glück.

 

Du mit dem frischgefall'nen Schnee,

50

Du thust mir in den Augen weh!

Willst uns den Winter schon bereiten:

Von Schlucht zu Schlucht sieht man ihn gleiten,

Und bald, bald wälzt er sich herab

Von dir, o Säntis! ödes Grab!

 

Winter

55

Aus Schneegestäub' und Nebelqualm

Bricht endlich doch ein klarer Tag;

Da fliegen alle Fenster auf,

Ein Jeder späht, was er vermag.

 

Ob jene Blöcke Häuser sind?

60

Ein Weiher jener ebne Raum?

Fürwahr, in dieser Uniform

Den Glockenthurm erkennt man kaum;

 

Und alles Leben liegt zerdrückt,

Wie unterm Leichentuch erstickt.

65

Doch schau! an Horizontes Rand

Begegnet mir lebend'ges Land.

 

Du starrer Wächter, lass' ihn los

Den Föhn aus deiner Kerker Schooß!

Wo schwärzlich jene Riffe spalten,

70

Da muß er Quarantaine halten,

Der Fremdling aus der Lombardei;

O Säntis, gib den Thauwind frei!