BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Paul Cauer

1854 - 1921

[59]

Deutsches Lesebuch für Prima

 

Erste Abteilung

 

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6.

Hauptursachen der Kolonisation.

Von Wilhelm Roscher (1817 - 1894).

 

Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung. Von Wilhelm Roscher. und Robert Jannasch. Dritte verbesserte, vermehrte und zum Teil ganz neu bearbeitete Auflage von Roschers Kolonien. (Leipzig 1885; erste Aufl. 1848.) Erste Abteilung, zweites Kapitel. [Text der 3. Auflage im Internet Archive.]

 

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Das allgemeinste Hindernis, welches sich der Kolonisation entgegenstellt, ist die instinctmäßige Anhänglichkeit jedes unverdorbenen Menschen an die Umgebungen seiner Kindheit. „Die Heimkehr eines Verbannten hat von jeher zu den mächtigsten Bildern gehört, welche die Poeten heraufbeschwören, um den höchsten Grad irdischer Glückseligkeit zu schildern.“ Ein gewisser Trieb in die Ferne um ihrer selbst willen mag sehr verbreitet sein. Der führt aber, wo er allein wirkt, nur zu Reisen, nicht zu Auswanderungen. Wo demnach die Kolonieanlage bedeutend werden soll, da müssen ebenso allgemeine Bedürfnisse zu Grunde liegen, welche in der Heimat nicht befriedigt werden können. Daß sich der Mensch nun bloß von sinnlichen Motiven bestimmen ließe, ist eine ebenso seltene Ausnahme, wie ein bloß von höheren Beweggründen geleitetes Verfahren. Alle Massenerschei­nungen in der Geschichte müssen durch ein Zufammenwirken von Eigennutz und Ideal erklärt werden. So ist auch jenes Gefühl der Anhänglichkeit an die Heimat aus zwei sehr verschiedenen Faktoren zusammengesetzt: einem höheren, der Vaterlandsliebe, und einem niederen, der Trägheit, des Klebens am altgewohnten Eigentume etc. Eben deshalb pflegt denn auch zur Auswanderung und Kolonisation ein Zusammenwirken materieller und geistiger Bedürfnisse, welche gemeinschaftlich die Heimat verleiden, erfordert zu werden.

 

A. Übervölkerung.

Gewiß eins der schwersten Übel, wovon ganze Völker heimgesucht werden können! Die übermäßige Konkurrenz der Arbeiter stürzt nicht bloß materiell durch Herabdrückung des Lohnes die große Mehrzahl der Nation ins Elend, sondern ist auch moralisch eine der gefährlichsten Versuchungen: für die Reichen zu Hartherzigkeit und Menschen­verachtung, für die Armen zu Neid, Unehrlichkeit und Prostitution. In jedem erstickenden Gedränge pflegt die tierische Natur der Menschen über die geistige die Oberhand zu gewinnen. Gerade die einfachsten, allgemeinsten und nothwendigsten Verhältnisse werden am gründlichsten vergiftet: durch die erschwerte oder unmöglich gemachte Eingehung der Ehe und die bittere Sorge für die Zukunft der Kinder. Wie bei aufblühenden Völkern die immer steigende Dichtigkeit der Population ein Hauptmittel ist, die Arbeitsteilung zu verbessern und damit auch an Reichtum, Bildung und Macht fortzuschreiten: so muß bei einer stillstehenden oder rückwärts gehenden Nation die Übervölkerung jedes Element des Verfalles beschleunigen. – In der Regel freilich ist die Übervölkerung eine bloß relative, d. h. die Menschenzahl drückt allerdings hart an gegen die Grenzen des Nahrungsspielraumes, aber diese Grenzen selbst können erweitert werden. Indessen ist eine solche Erweiterung niemals ganz leicht: man muß ein anderes System des Ackerbaues und Gewerbfleißes einführen, vielleicht den Fruchtwechsel anstatt der Dreifelderwirtschaft, den Fabrikbetrieb anstatt der Hausindustrie u. s. w.; man muß vielleicht eine Menge politischer Hindernisse beseitigen, die sich der Mobilisierung des Bodens, der Gewerbefreiheit etc. entgegenstellen. Wie oft ist hierzu der heftigste Kampf nötig! Ein Kampf, zu dem vielleicht die nötigsten sittlichen Voraussetzungen fehlen. Sobald dergleichen Schwierigkeiten größer sind, als die Anhänglichkeit an den heimischen Boden, so wird die Kolonisation erwünscht.

Fast allen Auswanderungen unserer Tage, nach Amerika, Australien etc. liegt als Hauptmotiv eine solche relative Übervölkerung zu Grunde; und zwar sind in England von 1827 bis 1848 die stärksten Auswan­derungsjahre immer diejenigen gewesen, die zunächst auf die Jahre der stärksten Mißernte, Gewerbskrise etc. folgten. Dasselbe wissen wir von den Kleruchien des blühenden Athens, wo der Staat im Auslande Grundstücke erwarb, und diese nun zur Erleichterung des Pauperismus unter die einheimischen Proletarier verloste. Die alten Italiener haben nicht selten durch das s.g. ver sacrum eine förmliche Auswande­rungskonskription aus der jungen Mannschaft vorgenommen, um den Zurückbleibenden mehr Platz zu schaffen. Auch bei den Kolonisationen der späteren römischen Republik, seit den Gracchen, wurde Ableitung des überzähligen Proletariats, Entschädigung des Soldatenpöbels etc. beabsichtigt. So hat z. B. Cäsar an 80,000 Menschen als Kolonisten über's Meer gesendet, namentlich auch zur Wiederaufrichtung von Korinth und Karthago. Selbst die alten Karthager scheinen mit der Anlage der Ackerbaukolonien auf Sardinien und mitten unter ihren nomadischen Nachbaren ähnliche Zwecke verfolgt zu haben. In solchem Falle kann begreiflicher Weise meist nur eine Ackerbaukolonie Hilfe bringen.

Daß sich das leidende Volk im ganzen von einer solchen Operation keine zu großen Hoffnungen machen darf, wird uns tiefer unten klar werden.

Um so günstigere Folgen pflegt die Kolonisation für den einzelnen Auswanderer zu haben. Wer nur rüstige Glieder hat, und betet und arbeitet, der wird in einer jungen Ackerbaukolonie schwerlich verderben. In einer Wildnis, die urbar gemacht werden soll, müssen die meisten unserer proletarischen Sünden wie von selbst wegfallen. Zu Neid und Diebstahl ist hier gar keine Gelegenheit; zu Trunk, Spiel, Unzucht, Prügeleien wenig; man muß schon fleißig sein, und der Fleiß hat seine Belohnung dicht vor Augen. Die unbegränzte Möglichkeit, seine Lage zu verbessern, ist der wohlthätigste Sporn zur Sparsamkeit. Man kann beinahe nicht umhin zu heiraten; und die Kinder, weit entfernt eine Last zu sein, bringen alsbald Unterhaltung in die Einsamkeit und späterhin Beistand zu den Arbeiten. Am sichersten verbessert sich derjenige Kolonist, welcher dem kleinem Mittelstande angehört. Bis er selber sich behaglich fühlen kann, dazu freilich bedarf es vieler und mühevoller Jahre; aber seine Kinder, die im Mutterlande vielleicht dem Proletariate anheim gefallen wären, dürfen mit Zuversicht auf eine wohlhabende Zukunft rechnen. Das kleine Kapital des Vaters, welches daheim schon die Erziehungskosten verschlungen hätte[n], wird hier das Samenkorn für eine Menge begüterter Haushaltungen. Es ist sehr zu beachten, daß die nach Nordamerika ausgewanderten Irländer zwar eine schlimme Neigung haben, massenweise in den großen Städten zu bleiben, wo sie dann ihre übelsten Rasseeigenschaften, Liebe zum Trunke und zu Raufhändeln, Wohnungsbarbarei etc. festhalten und ihrer neuen Heimat wenig Segen bringen; daß aber die kleine Quote, die sich im Lande zerstreuet und dem Ackerbau widmet, sowohl sittlich wie ökonomisch viel besser gedeihet. Dagegen spielt der feingebildete Auswanderer (Lateinfarmer, wie er bei den nordamerikanischen Deutschen heißt) in Ackerbaukolonien gewöhnlich eine trübselige Rolle.

 

B. Überfüllung mit Kapital.

Wie in altbewohnten Ländern fast jeder Fortschritt der Kultur die Grundrente erhöhet, so pflegt er auch, als Folge des vermehrten Angebots von Kapitalien, den Zinsfuß zu erniedrigen. Dieß ist für die Kapitalisten, also den größten Teil des städtischen Mittelstandes, eine ganz ähnliche Plage, wie für die niederen Klassen die Übervölkerung; um so mehr, als ja auch der Arbeitslohn des Mittelstandes so ungemein häufig mit der Verzinsung seiner Kapitalien fast untrennbar verbunden ist. Man denke namentlich an den sogenannten Unternehmergewinn! Eine übermäßige Konkurrenz der Kapitalien ist auch in sittlicher Beziehung ebenso verderblich, wie die der Arbeitanbietenden. Die bedrängte Selbstsucht wird sich dort besonders zu feineren Eigentumsverletzungen, Schwindeleien etc. versucht fühlen. Nun hält es aber, mit Ausnahme vielleicht der allergrößten Kapitalisten, ungemein schwer, auf dem gewöhnlichen Wege des Privatkredites einen Kapitalabfluß in fremde Länder zu bewerkstelligen. Wie wenige sind im Stande, jenseit des Oceans die Kreditwürdigkeit einzelner Schuldner, einzelner Geschäfte zu beurteilen! Wie gefährlich wird es sein, unter fremden Gesetzen, vor fremden Gerichten, in fremder Sprache sein Recht zu verteidigen! Hier ist offenbar eine Kolonie das beste Aushilfsmittel: wo also zutrauenswerthe Landsleute sich an den Ort der Kapitalanlage selbst verfügen, und bei aller Entfernung doch mittelst tausend politischer und sozialer Bande an die Heimat des Kapitalisten geknüpft bleiben. Natürlich führt dieß Bedürfnis am nächsten zu Handels-, allenfalls auch Pflanzungskolonien. Die Kreditoren, meistens Kaufleute im Kolonialhandel, gewinnen hier, außer dem natürlich hohen Zinsfuße, noch dadurch, daß ihre Schuldner sie insgemein mit dem Vertriebe ihrer Produktion beauftragen. Mit Recht behauptet Brougham, wenn Völker von Kapitalüberfluß bedrängt werden, so pflegen sie zuerst sehr ferne Zweige des eigenen Handels zur Kapitalanlage zu benutzen, sodann eigene Kolonien; in dritter Reihe die Kolonien fremder Völker, wo ihnen gleichfalls ein hoher Zinsfuß winkt; zuletzt endlich die benachbarten Märkte fremder Mutterländer. Hätte Holland den Kolonialbesitz erhalten, den es zu Anfang des 17. Jahrhunderts inne hatte, namentlich Brasilien und Neuyork, so würde es nicht nötig gehabt haben, fremden Völkern so gewaltige Kapitalvorschüsse zu machen. So aber sind z.B. die dänisch-westindischen Kolonien fast ausschließlich mit holländischem Kapital gegründet worden.

 

C. Politische Unzufriedenheit.

So dunkel im Allgemeinen auch der Ursprung von Karthago ist, so viel scheint doch gewiß, daß innere Unruhen der Mutterstadt, Unterdrückung einer Partei und Auswanderung der Mißvergnügten den Anstoß dazu gaben. Die Niederlassungen der Äolier und Ionier in Vorderasien und auf den Inseln des ägäischen Meeres sind auf ähnliche Weise von den alten Herren des Peloponnes begründet worden, als sie dem Einfalle der heraklidischen Ritter aus Nordgriechenland weichen mußten. Die Äolier insbesondere wandten sich nach der Gegend hin, wo ihre Väter während des troischen Krieges so unvergänglichen Ruhm erworben hatten (Herodot, V, 94). Als einige Jahrhunderte später durch Besiegung der Messenier die Allmacht der lakedämonischen Aristokratie vollendet war, da zogen es wiederum die kräftigsten Bestandteile der unterworfenen Stämme vor, jenseit des Meeres eine neue, freie Heimat aufzusuchen. Lakedämon selber scheint dieß begünstigt und geleitet zu haben. So ist Tarent z. B. durch die sogenannten Parthenier gestiftet worden, spartanische Jünglinge aus unebenbürtigen Ehen, welche man nach dem Siege nicht mehr als vollberechtigt anerkennen wollte. Ähnlich wird es mit den epizephyrischen Lokrern gegangen sein. Von Kroton und Sybaris halte ich es wenigstens für sehr wahrscheinlich, daß sie lakedämonischen Periöken, also Halbbürgern, ihren Ursprung verdanken. Die Gründung von Syrakus wurde unmittelbar durch den Archias veranlaßt, einen hochstehenden Mann aus der korinthischen Herrscherfamilie der Bakchiaden, welcher sich durch die unseligen Folgen einer Liebesgeschichte zu sehr kompromittiert hatte, um ferner in Korinth bleiben zu können. Die unterdrückten Messenier haben zu wiederholten Malen in Rhegium und Messana eine Zuflucht gefunden. Besondere Erwähnung verdienen hier noch die Tejer und Phokäer, welche nach der persischen Invasion ihr schönes Kleinasien insgesamt verließen, um jene in Abdera, diese in Massilien ein neues Vaterland zu gründen.

Was die neueren Völker betrifft, so ist Island von Norwegen aus durch unzufriedene Aristokraten, Stammes- und Familienhäupter, kolonisiert worden, um solchergestalt der im Mutterlande immer wachsenden Königsmacht und Zentralisierung auszuweichen. So bemerkt Lappenberg, daß die Auswanderung der Normannen nach Apulien die Normandie, nach Benevent Apulien, und nach England später ganz Frankreich vor inneren Zerrüttungen geschützt habe. So haben in Nordamerika die englischen Unruhen zu Anfang des 17. Jahrhunderts mehr als alles andere die Kolonisation von Neuengland und Maryland weiter gefördert. Unter Cromwell wurde Barbadoes durch ausgewanderte Royalisten bevölkert, Jamaica nach der Stuart'schen Restauration durch Republikaner, Neujersey durch schottische Mißvergnügte während der letzten Jahre Karls II. und unter Jacob II. Wie sehr noch heutzutage die Auswanderungen nach Amerika auf der politischen Unzufriedenheit Europas beruhen, auf der Hoffnung, jenseit des atlantischen Meeres ein gelobtes Land der Freiheit und Gleichheit vorzufinden, ist hinreichend bekannt. Würden nicht die meisten sonst die weit bequemere Übersiedelung in die unteren Donauländer vorziehen?

Kolonien haben vor alten Ländern den großen Vorzug, daß sie jeder stürmischen Kraft Spielraum genug öffnen, ohne doch die bürgerliche Gesellschaft dadurch zersprengen zu lassen. So war Talleyrand in Nordamerika höchlich erstaunt, die Wogen des großen Bürgerkrieges 10 bis 15 Jahre hernach schon so vollkommen beruhigt zu finden. Nach großen inneren Kämpfen fühlt jedes Volk das Bedürfnis der Kolonisation am lebhaftesten, weil es da am meisten wilde Kräfte abzuleiten giebt, am meisten brotlose Verarmte da sind, viele nur ungern im Vaterlande bleiben, wo sie sich kompromittiert haben, wo ihre Lieben vielleicht hingerichtet sind etc. Daher Talleyrand um 1797 gerade aus solchen Gründen die Eroberung und Kolonisierung von Ägypten dringend anempfahl. – Jede große Staatsveränderung erzeugt in dieser Hinsicht ähnliche Bedürfnisse; man könnte dabei von geistigen Produktionskrisen sprechen, wo sich die Nachfrage plötzlich umgestaltet, eine Menge vorhandener Kräfte überflüssig werden, und daher einen neuen Markt aufsuchen müssen. Würden sich wohl in Spanien zur Zeit der Balboa, Cortez, Pizarro so viele Conquistadores von der äußersten Kühnheit, Abhärtung und Disciplin, Männer zum Teil von dem glänzendsten Feldherren- und Herrschertalente gefunden haben, wenn nicht kurz vorher Beendigung der Maurengefahr, Sicherstellung des Landfriedens etc. die Mehrzahl der Granden zur Entlassung ihrer Kriegsgefolge bewogen hätte? Als in England jener große Kaperkrieg, den Elisabeth gegen Spanien führte, mit der Thronbesteigung Jacobs I. plötzlich aufhörte, mußten die Koloni­sationspläne wesentlich gefördert werden. In ähnlicher Weise hat die Vernichtung der griechischen Freiheit seit Philipp von Makedonien zu den Eroberungskolonien im Oriente mächtig beigetragen. Während früher nur mäßige Scharen hellenischer Miethsoldaten nach Osten gezogen waren, sehen wir jetzt eine förmliche Massenauswanderung, die z.B. in Syrien allein vier hellenische Großstädte entstehen ließ.

Als ein Extrem gewissermaßen der eben verhandelten Richtung müssen noch die Strafkolonien erwähnt werden. Deportation der Verbrecher in fern gelegene, öde Gegenden haben die Staaten, welche Gelegenheit dazu besaßen, immer gern angewandt. Es schien damit, außer der Strafe und Abschreckung, die Heimat am gründlichsten von ihren gefahrdrohenden Elementen befreit, und nebenher noch der Vorteil der Kolonisierung erreicht zu werden. Wie die Engländer vormals Nordamerika und jetzt Australien hierzu gebraucht haben, so die Portugiesen lange Zeit Brasilien, heutzutage Mozambique, die Schweden unter Gustav Adolf Ingermanland, die Franzosen in einzelnen Fällen Guyana, neuerdings Neukaledonien. Auf dem Cap war die erste weibliche Bevölkerung den holländischen Arbeitshäusern entlehnt. In Preußen ward lange Zeit der niedrig kultivierte Kreis Oletzko als eine Art von Sibirien für Vagabunden benutzt. Schon unter Alerander d. Gr. kommen Strafkolonien für aufrührerische Soldaten vor, sowie auch China schon seit langer Zeit bedeutende Strafkolonien jenseits der großen Mauer besitzt. Als die Russen im 16. Jahrhunderte Sibirien eroberten, wurde gleich durch die erste Gründung dieser Kolonie ihr späterer Charakter als Strafkolonie vorgedeutet. Die tapferen Kosaken nämlich, welche das Unternehmen durchführten, waren nicht bloß durch Abenteuersinn und Bekehrungseifer, nicht bloß durch Golddurst und Handelsgeist, sondern ganz vornehmlich auch durch den Wunsch getrieben, ihren Monarchen Iwan IV. durch Heldenthaten wieder zu versöhnen. Ihre Häupter, insbesondere Jermak, waren früher wegen Räuberei in contumaciam zum Tode verdammt worden, und wollten nun eine ehrenvolle Rückkehr in ihre Heimat möglich machen. – Auch die Seeräuberkolonien gehören hierher. So ist im Altertume der erste Grund von Messana durch kumäische Piraten gelegt; neuerdings sind die Urkolonisten von Mauritius Seeräuber gewesen. Das bekannteste Beispiel übrigens bieten die Buccanier auf St. Domingo dar, an welche sich die ganze französische Niederlassung auf jener großen Insel anknüpft. Die Flibustiere sind aus denselben Elementen ihrer Länder hervorgegangen, wie die Conquistadores aus spanischen: die tapfersten, aber auch zügellosesten Menschen. Nur daß jene schon alles von den Spaniern besetzt fanden, und sich deshalb nur im Seeräuberkampfe gegen diese austoben konnten.

 

D. Religiöse Begeisterung.

Unter allen Gefühlen ist die Religion sonder Zweifel dasjenige, welches sich am meisten auf allgemein menschliche Interessen bezieht, und dadurch über die Beschränktheiten des Localpatriotismus am meisten emporhebt. Sie spielt eben deswegen auch bei der Kolonisation eine besonders wichtige Rolle. Vorzugsweise natürlich muß diese Triebfeder zu Eroberungs-, allenfalls auch Handelskolonien führen.

Ich erinnere im Mittelalter an die Eroberungskolonien der Kreuzfahrer, in unserer Zeit an die friedlichen Siege der Missionäre. Wie die Quäker in Pennsylvanien ihr Reich der Bruderliebe verwirklichen wollten, das im Mutterlande nur Hohn und Verfolgung gefunden hatte; so betrachteten sich auch die puritanischen Kolonisten von Neuengland als ein Volk Gottes, welches „Ägypten mit seinem Götzendienst und seinen Fleischtöpfen“ verlassen, und in den Urwäldern Amerikas das gelobte Land aufsuchen müßte. – Nichts, ist interessanter, als das Zusammenspiel der verschiedenartigen Triebfedern aufzudecken, welche die spanische und portugiesische Kolonisation bewirkt haben. Das wiederauflebende Studium der alten Klassiker hatte in Columbus Seele die ersten Ideen entzündet. Die portugiesischen Seefahrten knüpften sich unmittelbar an die alten Maurenkriege an, diese letzten Ausläufer der Kreuzzüge. In der Ausführung selbst gehen der Golddurst des erwachenden Mercantilsystems und der ritterlich fromme Bekehrungseifer des damaligen Katholicismus wunderbar parallel. Schon Coligny hatte die Kolonisation Floridas hauptsächlich deswegen beabsichtigt, um den Hugenotten daselbst eine Zufluchtsstätte zu verschaffen; und der Anbau von Surinam ist wirklich großenteils durch französische Refugiés erfolgt. Columbus Hauptidee, namentlich in seinem Alter, war religiöser Art: die Weissagungen der Bibel, der Kirchenväter etc. zu erfüllen, und Geld herbeizuschaffen zur Eroberung des heiligen Grabes. Ursprünglich hoffte er, in drei Jahren so viel Geld gesammelt zu haben. Auch das vermeintliche Recht, die Eingeborenen zu Sklaven zu machen, stützte schon Columbus darauf, daß man ihnen das Christentum brächte. Cortez Fahnen enthielten ein Kreuz mit der Umschrift: hoc signo vinces! Seine erste Ansiedelung in Mexico wurde genannt: La villa rica de la Vera Crux. So zeigte er auch nicht selten, z. B. in Zempoalla und Tlascala, seinen Bekehrungseifer, seinen Götzenhaß in einer Zeit und Weise, die politisch höchst unvorsichtig heißen muß. Man kennt die Rede, welche der Caplan des Pizarro an den peruanischen Inka hielt, gleich bei ihrer ersten Zufammenkunft, und deren unbefriedigende Beantwortung ein so furchtbares Blutbad rechtfertigen mußte. Der priesterliche Diplomat fing mit Erschaffung der Welt an; er sprach vom Sündenfalle und von der Erlösung, vom Primate Petri und seiner Stellvertreter, um so zuletzt auf die päpstliche Schenkung an den König von Spanien zu kommen, welche dem Inka Unterwürfigkeit zur heiligsten Pflicht machte. Die ganze Argumentation gilt bei vielen für ein Meisterstück der unverschämtesten Heuchelei; indessen zweifle ich nicht, daß sie großenteils in gutem Glauben ist geführt worden. Sie enthält nämlich bloß eine weitere Entwickelung dessen, was 1509 eine Commission spanischer Juristen und Geistlichen als officielle Instruction und Rechtfertigung für die Besitznahme aller neuen Entdeckungen ausgearbeitet hatte.

Selbst im Altertume ist es nicht viel anders gewesen. Ich halte es für mehr als wahrscheinlich, daß die ältesten Kolonien der Hellenen, die äolischen nämlich im nordöstlichen Winkel des ägäischen Meeres, auf das Innigste zusammenhängen mit dem Zuge der Argonauten und späterhin dem troischen Kriege. Wie nun das ganze heroische Zeitalter von Griechenland die größte Analogie darbietet mit unserm Ritterwesen, so insbesondere jene abenteuerlichen Seefahrten mit den Kreuzzügen der neueren Völker. Der ritterliche Gehalt des Helenamythus liegt vor Augen; es scheint aber auch ein religiöser Gehalt damit verbunden zu sein 1). Die Sage vom goldenen Vließ bezieht sich nach den besten neueren Untersuchungen keineswegs nur auf irdische Reichthümer, sondern vornehmlich auf ein heiliges Sühnungswerk, das eine Wallfahrt nach dem Morgenlande erforderte. – Die griechischen Kolonien sind besonders in zwei Hauptmassen unternommen worden: die eine zwischen 1120 und 1000 nach Osten zu (Kleinasien etc.), die andere zwischen 750 und 650 v. Chr. nach Westen (Sicilien, Unteritalien). Bei diesen letzteren, mehr historischen hat nun fast immer ein Orakel entweder den ersten Anstoß, oder die letzte Weihe gegeben. Quam Graecia coloniam misit sine Pythio, aut Dodonaeo, aut Hammonis oraculo? (Cicero, De divin. I, 1). Als ein besonders merkwürdiges Beispiel verweise ich auf die Gründungvon Kyrene. (Herodot IV, 148ff.)

Man sieht auf der Stelle ein, wie die von mir besprochenen vier Hauptbeweggründe zur Kolonisation mit einiger Vollständigkeit auf die vier Hauptgebiete des menschlichen Lebens Bezug haben: Familie, Eigentum, Staat, Kirche. Schon der alte Seneca hat etwas Ähnliches beobachtet: Nec omnibus eadem causa reliquendi quaerendique patriam fuit. Alios excidia urbium suarum, hostilibus armis elapsos, in aliena, spoliatos suis, expulerunt; alios domestica seditio submovit; alios nimia superfluentis populi frequentia, ad exonerandas vires, emisit; alios pestilentia, aut frequens terrarum hiatus, aut aliqua intoleranda infelicis soli eiecerunt; quosdam fertilis orae et in maius laudatae fama corrupit; alios alia causa excivit domibus suis (Cons. ad Helv. 6). – Auf den niederen Kulturstufen ist freilich die Überfüllung mit Arbeitern und Kapitalien minder drückend, als auf den höheren; dagegen werden sie häufiger und rücksichtsloser durch religiöse Beweggründe influiert, und die Anhänglichkeit an den heimischen Boden ist geringer bei ihnen. Schon aus materiellen Ursachen, weil nicht so viele Kapitalien und Arbeitsresultate mit dem Boden verbunden sind; man steht dem Nomadenleben, wie historisch, so auch wirtschaftlich noch näher. Dann aber ist es auch eine sehr allgemeine Erfahrung, daß die eigentliche Vaterlandsliebe bei den meisten Völkern erst am Ende ihres Mittelalters bedeutend wird. Wie schon Thukydides bemerkt (I, 3), so hatten die Griechen der homerischen Zeit noch gar keinen gemeinschaftlichen Namen ihres Volkes, also natürlich auch kein Gefühl eines gemeinschaftlichen Vaterlandes. Ähnlich bei allen Völkern auf derselben Entwickelungsstufe. Der Staat ist da nicht so sehr Ein großes Ganzes, mit Einem Gesamtzwecke, sondern vielmehr ein ziemlich loses Conglomerat von einer Menge kleiner Bündnisse, welche für sich die verschiedenartigsten Zwecke verfolgen. Läßt also die Auswanderung nur alle Glieder eines solchen kleinen Bündnisses ungetrennt, so entschließt man sich zur Absonderung vom Ganzen verhältnismäßig leicht. – Übrigens versteht sich von selbst, je unfreundlicher die Natur der neuen Heimat ist, desto stärkerer Motive bedarf es, um sich von der alten loszureißen. Die spanische Regierung mußte im 16. Jahrhundert der Auswanderung gegenüber mehr den Zügel, als den Sporn anwenden. In Neuengland hingegen wollte die Kolonisation erst seit den religiösen Unruhen des Mutterlandes recht Wurzel schlagen. Die ersten Ansiedler der sogenannten Plymouth-Compagnie, sowohl 1607 als 1608, ließen sich gar bald durch den harten Winter etc. nach England zurückschrecken. Vorher waren nur einzelne Fischerfahrzeuge von Bristol daselbst gelandet. Manches natürlich ist hier relativ: Island z. B. hatte für Norweger, und Grönland wiederum für Isländer nicht so viel Abschreckendes, wie ein Deutscher darin finden würde. Welch ungeheuern Wanderstrom bis zu den Antipoden hin die Auffindung ergiebiger Goldseifen bewirken kann, ist durch die jüngsten Vorgänge in Californien und Australien Jedermann geläufig.

 

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1) Helena, Σελήνη, Tochter des Zeus, Schwester der Dioskuren, offenbar also eine Lichtgottheit, die aus barbarischer Gefangenschaft befreit werden soll.