<<< Einführung



B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Johann Heinrich Voss
1751 - 1826
 


 






 



R e d e   b e i m
A n t r i t t e   d e s
E u t i n e r
R e c t o r a t s


1782

________________________________



Das ehrenvolle Zutraun und die ausgezeichnete Huld, womit Se. Durchlaucht unser gnädigster Fürstbischof mich an diesen Ort zu berufen gewürdiget; die Gewogenheit und Erwartung seiner erleuchteten und für die Wohlfahrt des Staats und der Kirche mit edler Sorgfalt beschäftigten Räthe, die gütigen Urtheile und das sichtbare Wohlwollen aller, denen ich mich nahete: berechtigen mich nicht nur, sondern fordern mich auf, mit freudiger Zuversicht das Amt zu beginnen, welches ich durch die thätige Aufmerksamkeit meiner Oberen unterstüzt, und durch den Beifall theilnehmender Gönner und Freunde ermuntert, nicht anders als mit dem glücklichsten Erfolge führen kann. Aber eben dies Zutraun, eben diese Aufmerksamkeit und Erwartung macht es, daß ich jezo mit schwerem Herzen, schüchtern und beschämt, vor den Augen so aufgeklärter Beobachter und Richter auftrete. Ich stehe am Eingang eines weiten, an Lage und Erdreich mannigfaltigen Feldes, welches die Kunst und der Fleiß meiner Vorweser mit blühenden Aussichten, mit reichen und fröhlichen Erndten erweitert hat. Werde ich mit gleichem Fleiße auch gleiche Geschicklichkeit verbinden? Und wenn auch der Rath erfahrener Männer mich leitet, wird Sonnenschein, Regen und Sturm meine Arbeit begünstigen?

      Es ist ein verbrauchtes Bild, die Schulen Pflanzgärten des gemeinen Wesens zu nennen: verbraucht, wie mehrere gemisbrauchte Bilder, da es in strengerer Bedeutung nur seit wenigen Jahren, und in vielleicht noch wenigern Gegenden zu gelten beginnt. Denn nach dem Zeugnisse unserer Väter und Zeitgenossen waren und sind die meisten Schulen Deutschlands so wenig Pflanzgärten des Staates, daß sie fast, wie bei ihrer ersten Gründung, nur auf die rohe Bildung scholastisch spizfindelnder und Küchenlatein plaudernder und singender Klosterbrüder abzuzwecken scheinen. So eingeschränkt nicht nur, sondern so getrennt auch von allem, was unser Zeitalter, unsre Aufklärung, unsre Sitten, Geschäfte, Wünsche und Bedürfnisse erfordern, waren und sind jene mönchischen Pflanzgärten: die grauenvollen Überbleibsel jener gothischen von Wahn und Dünkel eingezwängten Jahrhunderte, da Gelehrte, Geistliche und Schreiber noch mit Einem Worte bezeichnet wurden. Denn wie viele Stifter, Gesezgeber und Vorsteher öffentlicher Schulanstalten scheinen sich erinnert zu haben, daß ihnen zwar vorzüglich die Bildung treuer Lehrer der Frömmigkeit, aber auch die Vorbereitung redlicher Diener der Geseze, Wächter des Staats, Ärzte, Künstler und tugendhafter Bürger oblag? Wie viele, daß zwar allen Zöglingen Kenntnis der wahren Religion, aber darum nicht jede tiefsinnige Erörterung, ja selbst jede Streitigkeit über wenige wesentliche und manchmal nur auf Misverständnissen beruhende Lehrsäze zu wissen nöthig war? Wie viele endlich, daß zwar die Aufsicht der Schulen mit Recht auch einsichtsvollen Geistlichen als Gelehrten, anvertraut werde; daß aber dieser Aufsicht halber der Stand des Schullehrers nicht als ein untergeistlicher, sondern als ein eben so, wie des Gesezkundigen, des Arztes und jedes andern, für sich bestehender und unmittelbar dem Staate dienender Stand betrachtet, und als ein solcher, dem Umfang seiner Wirkung gemäß, von dem Staate geehrt und belohnt zu werden verdiene. Ich weiß, daß ein verehrungswürdiger Schulvorsteher die Klage über die verkannte und gekränkte Würde des Schulstandes mit dem Troste beantwortet, daß Tugend sich selbst belohne, und wenigstens bei Edelgesinnten auch des Schullehrers Verdienst nicht verkannt werde: eine Anmerkung, die, wenn nicht das Herz des Mannes für ihre redliche Absicht bürgte, beinah einem Scherze mit wichtigen Dingen ähnlich scheinen könnte.

      Aber auch der Schein eines lauen höfischen Trostes sollte vermieden werden in einer Sache, die das Wohl der Menschheit so nahe angeht. Herzliches Mitleid durchwallt die Seele des Guten beim Anblick eines gefühlvollen Lehrers, der, durch Schulgesez und Aufsicht gefesselt, wider bessereres Wissen und Wollen, seine Schüler nicht für das Leben des Bürgers, sondern gleichsam für die Ertödtung und Abgestorbenheit des altgothischen Mönchs erziehn muß, und diesem kummervollen und niederdrückenden Geschäfte gemäß, den kummervollen Lohn und die niederdrückende Achtung seiner Mitbürger genießt. Troz allem Lichte unsers aufgeklärten Jahrhunderts, und troz den Fackeln erleuchtender Schulverbesserer, umschattet noch stets die Barbarei unsere Katheder. Noch immer schreibt sie dem Gärtner des Pflanzgartens ohne Rücksicht auf Wachsthum und Witterung vor, in welchen Stunden des Tages, und nach welcher Anleitung, er graben, begießen, gäten und schneiteln soll; und erlaube ihm kaum, in Feierstunden nach eigener Einsicht das Versäumte zu fordern, und das Verpfuschte zu bessern. Noch immer verstummt oder redet mit leiser schüchterner Stimme fast jede Wissenschaft, die den Geist aufklärt und die Seele erhebt: die Kenntnis des Menschen und der Natur, die Geschichte, die Erd- und Staatenkunde, die Zergliederung des Wahren und Schönen, das uns in den Werken des Dichters, des Redners, des Künstlers und des darstellenden Weltweisen alter und neurer Zeiten, mit hoher Empfindung entflammt. Dagegen erschallen noch häufig genug die kauderwelschen Streitübungen, wodurch man sich ehemals, und, o erleuchtetes achtzehntes Jahrhundert! noch jezo die Würde eines Meisters der sieben freien Künste erficht. Dagegen hält man, womit noch neulich auf einer namhaften Akademie der Fürst bewillkommt wurde, Reden über allerlei müßige Einfälle in römischer, griechischer, hebräischer, ja selbst in sirischer, arabischer, und in jeder fremden Sprache, die man durch Wörterbuch und Grammatik kennt; und rechnet es sich zur Ehre, seine Muttersprache nicht zu verstehn, und ihrer Meisterwerke zu spotten.

Denn fast allgemein herscht der Unfug, daß man beinahe den ganzen Schulunterricht auf dasjenige einschränkt, was die Leute lateinische Sprache nennen: auf eine Fertigkeit, deutsche Begriffe, nach deutscher Art umfaßt und geordnet, durch lateinische, aus Schriftstellern von ganz verschiednem Alter, Ton, Schreibart und Gehalt zusammengestoppelte, nach den äußerst mangelhaften, und zum Theil gar seltsamen Regeln der sogenannten Syntaxis ornata, ohne Rücksicht auf Nachdruck, Wohlklang und Zeitmaß gestellte, Redensarten auszudrücken; und Begriffe, die oft jedes Ausdrucks unwürdig sind! Die Zwecklosigkeit eines solchen Verfahrens leuchtet zu sehr hervor, um einer Rüge zu bedürfen. Aber wer seine eigne Sprache mit einigem Fleiße gelernt und ihre Geheimnisse durchforscht hat; wer da weiß, wie viele Umstände, wie viele feine Beobachtungen oft die Wahl dieses Ausdrucks vor jenem, dem der stumpfe Wortklauber den Vorzug geben würde, dieser Wendung, dieses Wortbaus, dieses Periodengangs bestimmen; wer begreift, wie schwer es einem Deutschen wird, nur die leichteste aller fremden gebildeten Sprachen, weil sie die eingeschränkteste ist, die Französische, mit der angebornen Richtigkeit und Anmut zu reden und zu schreiben; wer gehört hat, daß Theofrast in Athen selbst und unter beständigen Sprachübungen alt und grau geworden, dennoch von dem Hökerweibe des Marktes an einem zu attischem Ausdrucke für als Fremdling erkannt wurde; und daß selbst Livius mit seinem Überflusse der Sprache, der, nach Fabius Urtheile, wie Milch aus vollen Eutern hervorströmte, dem feinern Gaume des urbanen Kunstrichters noch einen patavinischen Beischmack zu haben schien: wer dies alles weiß und beherzigt, der muß doch wahrlich erstaunen, daß es Männer giebt, die, wenn auch die Sache (seltene Fälle ausgenommen) weniger zwecklos wäre, nicht einsehen können, daß sie, zumal auf dem gewöhnlichen Wege, unerreichbar sei, und daß, die von der unbedingten Nothwendigkeit und Erreichbarkeit derselben am lautesten schwazen, grade diejenigen sind, die sich in ihrer Muttersprache nicht einmal richtig; geschweige denn mit Anmut auszudrücken vermögen.

      Glückliche Stadt, wo ein deutscher Lehrer deutscher Zöglinge vor einer deutschen Versammlung auch deutsch reden darf; glückliche unter wenigen, wo ers muß! Welchen stärkeren Beweis von der Nichtigkeit unsers so oft gerühmten aufgeklärten Zeitalters wird die klügere Nachwelt anführen können, als diesen: Jene pralerischen Nachahmer und Übertreffer der Alten, die alle Schäze der griechischen und römischen Weisheit erobert und vermehrt zu haben sich rühmten, die auf ihren Kathedern die Ursachen, warum ein Plato, Xenofon, ein Euripides, ein Cicero nicht tiefer ins Heiligthum drang, mit selbstgefälligem Mitleid entwickelten: diese zwangen und ließen sich zwingen, beim Unterricht der Deutschen, das erste, was geschehen mußte, und bey allen gebildeten Völkern geschah, das Studium ihrer Muttersprache zu verabsäumen, ja zu verspotten, und dafür in einer fremden ausgestorbenen, für eine ganz andere Masse von Begriffen, Kenntnissen und Meinungen geschaffenen Sprache zu lallen. Diese waren nicht weit entfernt, ihre so weit übertroffenen Vorbilder, die Griechen und Römer, auch deswegen zu tadeln, daß jene ihr bischen Weisheit nicht in der Sprache ihrer Lehrmeister, der Egipter und Fönizier, und die Römer hinwiederum in der griechischen und thuskischen, ihren staunenden Landsleuten vorgetragen hätten.

      Ich darf den Einwohnern Eutins und mir selbst Glück wünschen, daß Wahrheiten, die man anderswo noch predigen muß, kaum predigen darf, hier schon ausgeübt werden. Man beruft hier Lehrer fürs Leben; man forscht, ob ihnen die Wissenschaft und die Geschicklichkeit, die zur Erziehung des Bürgers erfordert wird, beiwohnen, und ob sie rechtschaffene Männer seien. Diesen giebt man, statt aller Ordensregeln, unter welchen der Mönchenlehrer seufzt, das Eine Gesez: Handle nach deinem Gewissen. Wir werden kommen, deinen Garten zu schaun. Je mehr Frucht von allerlei Art, und je frischer sie uns entgegenlacht, desto lebhafter wird der Dank deiner Mithürger, desto reicher ihre Belohnung sein: obgleich der wahre Dank und Lohn, der des Redlichen Ämsigkeit beseelt, in dem frohen Bewußtsein liegt, daß man nach seinem Vermögen das Wohl des Ganzen befördert habe, und dem Herscher des Weltalls nicht misfalle. Die Musen, Töchter des egiptischen Zeus und der Gedächtnisgöttin, aber erzogen an den Quellen des Helikon, sangen in der Schäfersprache der Griechen; und Schäfer und Könige horchten, und lernten Weisheit. Hatten Memosinens Töchter aus dem Lethe getrunken, daß auch kein Laut ihre egiptische Herkunft verrieth? Von dem Römer nach Italien geführt, besiegten sie den Sieger durch die sanftere Gewalt der Wissenschaften. Aber wie? Sie lernten die Sprache der Römer, und bildeten sie, daß sie würdig ward, zu sein was die Griechische war, Dolmetscherin der Weisheit. Nordische Barbaren eroberten Rom, östliche Schwärmer erschütterten Konstantinopel; und die Musen retteten sich in Mönchseinöden. Nach Jahrhunderten, da die erwachende Menschheit das Licht der Wissenschaften zurückwünschte, traten sie leise aus ihren Zellen hervor. Geschreckt durch die Rauhigkeit neuerer Sprachen, redeten sie anfangs Athens und Roms harmonische Töne. Aber um dem Volke, nicht blos Gelehrten verständlich zu sein, überwanden sie sich bald, auch die Sprachen der Barbaren nachzulallen; und nicht rauhes Geschnatter, sondern Gesang entströmte den Lippen der Göttinnen. So erwuchs die Sprache des melodischen Italiens, so des feinern Galliens, so des forschenden Britten, und später zwar, aber reif und stark, die tonreiche Sprache des männlichen Deutschen.

      Wohlan denn, ihr meiner Führung vertrauten Jünglinge, laßt uns wandeln die Wege, die die Musen gewandelt sind. Nicht Blumen nur, wie der Unkundige wähnt, und der Gefühllose auf seinem Polster schmäht, entsprossen ihrem Fußtritt, sondern erfrischende stärkende Früchte. Lernt vor allen Dingen die Sprache eures Vaterlandes, wenn ihr eurem Vaterlande nüzen wollt. Lernt die Sprache der Ausländer, die euren Geist zu nähren, euer Herz zu bilden vermögen. Lernt die Sprache des Römers; denn sie erhellte zuerst die Finsternis, die über Europa schwebte; und noch jezo ist sie die gemeinsame Sprache der Weisen Europa's; noch jezo erfordern mancherlei Bedürfnisse eine Kenntnis ihrer verborgensten Eigenheiten und Reize, mit der sorgfältigsten Übung im Reden sowohl als Schreiben vereinigt. Faßt Mut, und entschließt euch, jener Bedürfnisse wegen, nicht bei dem gewöhnlichen Deutschlatein, das selbst in den Schriften berühmter Männer herscht, stehn zu bleiben, sondern euch, so weit als geschehn kann, dem reinen und schönen Ausdrucke des goldnen Zeitalters zu nähern: Lernt die griechische Sprache. Zwar sollt ihr sie weder schreiben noch reden: aber sie ist die Mutter der Lateinischen, und man muß ihr nicht wenig schmeicheln, wenn man die Gunst der Tochter erwerben will; auch sagt man ihr nach, sie sei weit schöner als ihre Tochter, wenigstens habe sie noch viele Schäze der Weisheit verborgen, die sie jener nicht zur Aussteuer mitgab. Seht, o Freunde, die holden Sprachgöttinnen: nicht vom Schulstaube entstellt, sondern glänzend von himmlischer Schönheit, winken sie euch lächelnd ins Heiligthum der Wissenschaften; indeß mit ernster Majestät die Sprache Kanaans dem künftigen Gottesgelehrten den Pfad zu den höhern Geheimnissen zeigt, die Gott auf Sinai enthüllte. Kommt, laßt uns fröhlich den Weg betreten! Mit Wehmut verließ ich am Ufer des Ozeans meine jugendliche Begleiter, zum Tempel der Weisheit. Ersezt mir meinen Verlust. Seid mir, was sie waren, meine Freunde!

      Groß ist die Menge der Pflichten, die mir mein Amt aufbürdet, und schwer ihre Last. Ich würde erliegen, wenn ich meinen eigenen Kräften überlassen wäre. Aber Gott ist meine Zuversicht. Er wird mich erleuchten und stärken, daß ich sehe, was recht ist, und mit Freudigkeit thue, was ich kann. Er wird mir das Zutraun und die Gnade des Fürsten, er wird mir die mächtige Unterstüzung seiner Räthe erhalten, er wird mir Freunde und Rathgeber erwecken, und meine aufrichtigen Bemühungen zur Ehre seines Namens und zum Besten des Vaterlandes mit glücklichem Erfolge segnen.
 
 
 
<<< Einführung