Daniel Stoppe
1697 - 1747
Neue Fabeln oder Moralische Gedichte,der deutschen Jugend zu einemerbaulichen Zeitvertreibe aufgesetzt.
Theil II1740/45
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[3.25] |
Der Knabe.
Ein kleiner Knabe stieg auf einen großen Berg.Hier sah er um und um, mit herzlichem Vergnügen,Sechs Dörfer wenigstens zu seinen Füssen liegen.Er war zwar selber noch, dem Ansehn nach, ein Zwerg;Doch weil er höher stund: So hielt er sich für groß,Und glaubte, daß sein Maaß weit über andre gehe,Indem er von des Berges HöheAuf seine eigne Länge schloß.Er schien sich nun mit einem maleEin großgewachsner Mann zu seyn;Hingegen schienen ihm hier andre Leute klein.Den größten Samson in dem ThaleSah sein allhier entstandner WahnFür einen kleinen David an.Und kurz, der Knabe sah gleich unten an dem BergeDen langen Maulwurffänger gehn;Dem winkt er mit der Hand, er sollte stille stehn,Er meynt, es sey der kleine Görge,Der mit ihm in der Schul auf einer Banke saß,Noch mit der Kreide schrieb, und noch im Psalter las;Dem hatt er was zu hinterbringen,Drum kam er auch in vollem Springen,Den steilen Berg herab in größter Eil geflogen,Und fand sich unverhofft in seinem Wahn betrogen.Der Maulwurffänger war noch da.Hört! sprach er, sagt mir doch, wo ist der kleine Görge,Den ich dort oben auf dem BergeVor kurzer Zeit hier gehen sah?Ich war es, sprach der Mann, denn sonst war niemand hier.Das kann nicht möglich seyn, erwiederte der Knabe;Der, den ich hier gesehen habe,War lange nicht so groß, als ihr.
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Auch die Erwachsnen selbst äfft oft ein falscher Schein.Wie nun? macht Berg und Thal nicht wirklich groß und klein?Man muß die Leute näher kennen.Nicht alle, die hoch stehn, sind darum groß zu nennen;Weil auch bey denen sich die wahre Größe finde,Die in dem Thale wohnhaft sind. |