BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 – 1791

 

Ideen zu einer Ästhetik

der Tonkunst

 

Die Geschichte der Tonkunst

 

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Augsburg.

 

Seit dem diese Stadt ein bischöflicher Sitz geworden, seit dem blühte sonderlich die Kirchenmusik daselbst – freylich unter den Schauern der Abwechslung, aber doch immer so, daß es den Bischöfen Ehre machte.

Augsburg war der dritte Ort, welcher den Kirchengesang einführte. Durch mehrere Jahrhunderte hindurch sind die Vespern und Chöre daselbst trefflich besetzt gewesen. Noch jetzt werden dort Stücke aus jenen ehrwürdigen grauen Zeiten aufgeführt, welche das Ohr und Herz des Kenners ganz füllen. Himmelerhebende Andacht flammt in diesen Chören, der Gesang ist meist enharmonisch; aber die Orgel, oder ein im Chor angebrachtes Rukpositiv, gibt dem Gesang Mannigfaltigkeit und Fülle.

Die Reformation spaltete diese Stadt bekanntlich in zwey Theile, und brachte die so genannte Parität hervor. Die Lutheraner führten, wie ihre übrigen Glaubensgenossen, den deutschen Kirchengesang ein, und zwar mit solchem Eifer, daß er mit den besten deutschen Städten verglichen werden kann. In der Barfüsserkirche hört man noch heut zu Tage diesen Gesang in einer ursprünglichen Lauterkeit. Ein gut besoldeter Musikdirector, unter welchem Cantoren und Stadtmusiker stehen, lenkt die Choral- und Figuralmusik der Protestanten. Zu diesen Directoren haben die Augsburger immer sehr tüchtige Männer gewählt.

Seyffert, gehört unstreitig unter die trefflichen Musiker unsers Jahrhunderts. Er bildete sich in der Schule des großen Hamburger Bachs und des Berliner Orchesters unter den Augen Grauns. Darauf begab er sich nach Venedig, erwarb sich daselbst durch seine weitgreifenden harmonischen Kenntnisse allgemeinen Beyfall; und kam mit dieser gründlichen Bildung in sein Vaterland zurück, wo er als Musikdirector im drey und dreyßigsten Jahre seines Alters starb, Er war nicht nur einer der gründlichsten deutschen Clavierspieler: so daß ihn selbst Bach unter seine ersten Schüler zählte; sondern legte sich auch mit so glücklichem Erfolg auf die Composition, daß in der kurzen Zeit seines Lebens, der Nahme Seiffert, durch ganz Europa scholl.

Er war ganz zum Musiker geboren: wo er ging, da pfiff er, und suchte Melodien; daher wurde er so außerordentlich melodienreich. Er schrieb viel, aber wiederhohlte sich nie, sondern blieb immer neu. Gründlichkeit und Anmuth vereinigte Seyffert in einem hohen Grade. Er war jedem Style gewachsen; denn er pflegte zu sagen. „Wer nicht alles kann, kann nichts.“ Seine Meisterstücke sind:

1. Eine italiänische Oper, welche er in Venedig componirte, und die noch jetzt daselbst alle Jahre einmahl aufgeführt wird. Das Sangmäßige dieser Oper, die liebliche Instrumentenbegleitung, die Neuheit ihrer melodischen Gänge, die Richtigkeit der Harmonien, und das Ueberraschende der Modulationen, haben ihr diesen allgemeinen Beyfall in Italien erworben. – Seyffert verrieth damahls viel Neigung zum Komischen; das Tragische gewann jedoch nachher ein sehr merkliches Uebergewicht in seinem musikalischen Charakter.

2. Ein Passions-Oratorium, nach Krauses Poesie. Dieß Oratorium wimmelt von Geniezügen. – Welch ein Einfall, wenn er den Judas verzweifeln, und sich zu Tode rasen läßt! Der Chor: Das Herze blutet mir, u.s.w. gehört unter die vortrefflichsten musikalischen Chöre, die wir aufzuweisen haben. Jede Theilnehmung des Hörers; jedes Steigen und Fallen des fluthenden Blutes; jedes zarte innige Gefühl der Andacht – ist hier mit unbeschreiblicber Kunst und Einsicht bemerkt. Das Belauschen der geheimsten Empfindungen ist kaum irgend einem Musiker besser gelungen als ihm. Aus Begierde neu zu seyn, fiel er indeß doch zuweilen ins Tändelnde. Er ließ zum Beyspiel in diesem Oratorium, Christum mit sortinirten Trompeten zu Grabe begleiten: aber er wischte diesen Flecken sogleich weg, und verbesserte ihn mit einem ganz ins Gräberdunkel gemahlten Chore. Die Stimmen ächzen und singen nicht mehr; die Instrumentenbegleitung ist mit tiefem Verstande bearbeitet. Nur verfällt er zuweilen in der Wahl ins Bizarre. So führte er Anfangs in einer gewissen Arie sogar Triangel ein: kaum bemerkte er aber, daß es ins Lächerliche ging, so hob er den Uebelstand.

3. Ramlers Ino. Dieses poetische Meisterstück hat Seyffert unter allen Tonkünstlern unstreitig am besten getroffen. Die goldene Schale der Kritik, die den Dichter und Musiker abwägen wollte, würde gewiß hier im Gleichgewicht schweben. Er verstand seinen Dichter so ganz, als man ihn nur verstehen kann. Ramler selbst, und noch mehr der große Bach, setzten dieses Stück unter die ersten Producte der Musik. Wie unübertrefflich ist ihm nicht der Sturz der Ino ins Meer gelungen! wie göttlich, die ersten Empfindungen ihrer Götterschaft! – wie einfach ist alles und wie groß alles! Die Declamationen und Recitative haben nichts über sich; und seine Bässe sind so vortrefflich beziffert, daß der junge Tonkünstler darnach zeichnen sollte, wie der Mahler nach Antiken zeichnet. Sein Gesang hat eine Schönheit, für die wir in unsrer Sprache noch kein Wort haben. Herzlichkeit ist wohl der Hauptcharakter; aber noch verschönert seine Melodien eine gewisse Glorie, die unter jeder Beschreibung verliert. Hätte Seyffert über ein großes Orchester zu gebiethen gehabt, so würde er ganz gewiß Epoche in der Tonkunst gemacht haben. Er schlug Heere mit Bataillons; was würde er erst mit Heeren selbst gewirkt haben? – So schielend der Blick ist, den in Augsburg die Katholiken auf die Protestanten werfen; so lockte ihnen doch dieser Seyffert Ehrfurcht und Bewunderung ab. Sie gestanden einmüthig, daß er unter ihnen seines Gleichen nicht hätte, und bezahlten

4. die Messen, so er ihnen setzte, mit schwerem Gelde. Diese Messen sind im großen tiefsinnigen Style geschrieben; nur hier und da haben sie aus Gefälligkeit für seine Zeitgenossen, eine Modemasche.

5. Die Clavierstücke dieses Meisters gehören unter die ersten dieser Art. Sie sind mit großem Verständniß des Instruments, voll Arbeit für beyde Fäuste, reich an neuen Modulationen, und in den lieblichsten Melodien geschrieben. Schade, daß seine Clavierstücke noch nicht alle gedruckt sind! Er selbst spielte in Bachischer Manier, und war einer der ersten Clavier-Virtuosen seiner Zeit.

6. Seine Symphonien empfehlen sich durch Neuheit und Harmoniefülle vor tausend andern. Man hat eine Symphonie von ihm, unter dem Nahmen: ,,Reiß Teufel, reiß bekannt, die als Symphonie betrachtet, schwerlich ihres Gleichen in der Welt hat. Wenn man den Doctor Faust aufführte, so würde sie in dem Augenblicke, da ihn der Teufel hohlt, eine schreckliche Wirkung thun.

Kurz Seyffert gehört nach dem allgemeinen Zeugniß, unter die Häupter der deutschen Tonkunst: nur war sein Gebieth für seinen großen Geist viel zu eingeschränkt.

Cursini. Ein trefflicher Kopf, der erste Componist unter den Katholiken in Augsburg. Seine Messen werden noch heutiges Tages in dieser Stadt, zu Neapel, und anderwärts mit hinreißendem Beyfalle aufgeführt. Pater Martini setzt sie unter die ersten der Welt. Der vortreffliche Charakter dieses edeln Mannes schimmert aus all seinen Sätzen hervor: Wärme des Herzens, Liebe für Gott und seinen Sohn athmen seine Gesänge. Den Psalmenflug eines Seyfferts erreicht er bey weitem nicht; aber seine demüthige Herzenssprache, sein sanft schwärmendes Religionsgefühl, seine ruhigen Harmonien, die klar wie der Pison über Goldsand hinrieseln – machen seineKirchenmusiken allen empfindsamen Seelen äußerst schätzbar. Die klagende Gottesmutter unter dem Kreuze zu zeichnen, das zuckende Leben ihres Herzens unterm Schwertstoß auszudrücken, das Hinschmachten der frommen Seele in Himmel; die Ruhe der Todten, die in dem Herrn sterben: – alle diese Empfindungen liegen im Kreise seines Genies. Mit einem Wort, er gehört in die Classe der rührendsten Componisten, die jemahls gelebt haben.

Dümmler, ein musikalischer Luftpassagier, der aber wahres Talent für Composition besitzt. Er spielt die Orgel und das Clavier mit Geschmack, und hat einige Messen und Hauptstücke von Bedeutung gesetzt, welche den Kopf verrathen. Allein er spinnt sich in Reichsstädtische Behaglichkeit ein, und ist todt für die Welt. Er kann seyn, was er will; aber will nicht seyn, was er kann.

Stain, ein vorzüglicher musikalischer Kopf, mechanisch und psychologisch betrachtet. Sein Geschmack ist vortrefflich. Er spielt selbst nach Bedürfniß nicht übel, und kennt alles Große, besonders was das Clavier- und Orgelspiel betrifft: als Mechaniker aber hat er schwerlich seines Gleichen in Europa. Seine Orgeln, Flügel, Fortepiano's und Clavikorde, sind die besten die man kennt. Stärke mit Zartheit, Tiefsinn mit Hoheit, Dauer mit Schönheit gepaart, – diesen Stämpel drückt er allen seinen Instrumenten auf. Dieß ist jedoch noch das wenigste. Stain ist auch der Erfinder des göttlichen Instruments Melodika. Dadurch setzte er den Künstler in den Stand, das Schweben der Töne, das Mezzotinto, oder vielmehr, das Steigen und Sinken jedes Tons, äußerst genau auszudrücken. Wenn das Geheimniß dieses herrlichen Instruments einmahl allgemein ist, so wird der Clavierspieler dicht an den Sänger gränzen, und wie Orpheus die Bäume tanzen machen.