BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Samuel Reimarus

1694 - 1768

 

Ein Mehreres

aus den Papieren des Ungenannten,

die Offenbarung betreffend

 

1777

 

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IV.

 

Das Alte Testament weiß von keiner Unsterblichkeit der Seele, von keinen Belohnungen und Strafen nach diesem Leben. Es sey so. Ja, man gehe, wenn man will, noch einen Schritt weiter. Man behaupte, das A, T. oder doch das Israelitische Volk, wie wir es in den Schriften des A. T. vor den Zeiten der Babylonischen [517] Gefangenschaft kennen lernen, habe nicht einmal den wahren Begriff von der Einheit Gottes gehabt. Wenn man das Volk meinet, und einzelne erleuchtetere Seelen, dergleichen die heiligen Schriftsteller selbst waren, davon ausnimmt: so kann auch diese Behauptung zu einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit getrieben werden. Gewiß ist es wenigstens, daß die Einheit, welche das Israelitische Volk seinem Gotte beylegte, gar nicht die transcendentale metaphysische Einheit war, welche itzt der Grund aller natürlichen Theologie ist. Bis zu der Höhe hatte sich der gemeine menschliche Verstand in so frühen Zeiten noch nicht erhoben, am wenigsten unter einem Volke erhoben, dem Künste und Wissenschaften so unangelegen waren, und das sich aller Gemeinschaft mit unterrichtetem Völkern so hartnäckig entzog. Bey dem wahren ächten Begriffe eines einigen Gottes, hätte dieses Volk unmöglich so oft von ihm abfallen, und zu andern Göttern übergehen können. Es würde die falschen Götter nicht des nehmlichen Nahmens gewürdiget haben; es würde den wahren Gott nicht so ausschliessungsweise seinen Gott, den Gott seines Landes, den Gott seiner Väter genannt haben. Kurz, der Einige hieß bey ihm nichts mehr, als der Erste, der Vornehmste, der Vollkommenste in seiner Art. Die Götter der Heiden waren ihm auch Götter; aber unter so vielen Göttern konnte doch nur einer der mächtigste und weiseste seyn; und dieser mächtigste und weiseste war sein Jehova. So lange es keinen Grund fand, an der Macht und Weisheit, in welchen sein Gott den Göttern aller andern Völker überlegen war, zu zweifeln: so lange hing es ihm an. [518] Kaum aber glaubte es zu erkennen, daß dieses oder jenes benachbarte Volk, durch Vorsorge seines Gottes, irgend eines Wohlstandes genoß, der ihm abging, den ihm also sein Jehova nicht gewähren konnte, oder nicht gewähren wollte: so wich es hinter ihm ab, und hurte mit den Göttern des vermeinten glücklichern Volks, von welchen es nicht eher wieder zurück kam, als bis es seine Lust gebüßet hatte, und durch den Verlust größerer Güter, durch Verwahrlosung des wesentlichern Wohlstandes gebüßt hatte. Nur als es in der Babylonischen Gefängniß seinen Verstand ein wenig mehr hatte brauchen lernen; als es ein Volk näher hatte kennen lernen, das sich den Einigen Gott würdiger dachte; als nun erst selbst die Schriften seines Gesetzgebers und seiner Propheten unter ihm gemeiner wurden; als es sahe, wie viel große unerkannte Wahrheiten in diesen Schriften lagen, oder sich hineinlegen ließen; als es erkannte, wie selbst nach diesen Schriften, seinem Jehova eine weit erhabnere Einheit zukomme, als die, welche ihn blos an die Spitze aller andern Götter setzte: ward es auf einmal ein ganz andres Volk, und alle Abgötterey hörte unter ihm auf. Wenn diese plötzliche Veränderung, die kein Mensch leugnen kann, nicht durch den veredelten Begriff zu erklären, den es sich nun von seinem eignen Gotte machte: so ist sie durch nichts zu erklären. Man kann einem Nationalgott untreu werden, aber nie Gott, sobald man ihn einmal erkannt hat.

Wie gesagt; man thue, über die Einwürfe des vierten Fragments, auch noch diesen Schritt hinaus, und füge hinzu: daß, so wie Moses selbst im Anfange seiner [519] Sendung von dem Unendlichen keinen Begriff hatte, – würde er ihn sonst nach seinen Namen gefragt haben? – sich Gott zu ihm herabließ, und sich ihm nicht als den Unendlichen, sondern blos als eine von den besondern Gottheiten ankündigte, unter welche der Aberglaube Länder und Völker vertheilet hatte. Gott ward der Gott der Ebreer; und wenn die Ebreer ihren Gott nun einmal satt hatten, was war natürlicher, als daß sie es mit einem andern versuchen wollten?

Auch so noch – wenn man dem alten Israelitischen Volke, selbst diesen großen mehr hergebrachten als erwiesenen Vorzug, den einigen wahren Gott gekannt zu haben, mit Grunde streitig machen könnte – auch so noch getraute ich mir die Wege Gottes mit ihm zu rechtfertigen.

Auf die Göttlichkeit der Bücher des A. T. ist aus dergleichen Dingen wenigstens gar nichts zu schliessen. Denn diese muß ganz anders, als aus den darinn vorkommenden Wahrheiten der natürlichen Religion erwiesen werden. Wahrheiten, die allerdeutlichsten, die aller­erhabensten, die allertiefsten von dieser Art, kann jedes andere eben so alte Buch enthalten, wovon wir itzt die Beweise haben; Beweise, welche so manchen gelehrten Sorites [Kettenschluß] für die Göttlichkeit der Bibel fehlerhaft machen, in welchem die allein in dem A. T. gelehrte Einheit Gottes ein Glied ist. Die heiligen Bücher der Braminen müssen es an Alter und an würdigen Vorstellungen von Gott mit den Büchern des A. T. aufnehmen können, wenn das Uebrige den Proben entspricht, [520] die uns itzt erst zuverlässige Männer daraus mitgetheilet haben. Denn obschon der Menschliche Verstand nur sehr allmälig ausgebildet worden, und Wahrheiten, die gegenwärtig dem gemeinsten Manne so einleuchtend und fasslich sind, einmal sehr unbegreiflich, und daher unmittelbare Eingebungen der Gottheit müssen geschienen haben, und als solche auch damals nur haben angenommen werden können: so hat es doch zu allen Zeiten und in allen Ländern privilegirte Seelen gegeben, die aus eignen Kräften über die Sphäre ihrer Zeitverwandten hinausdachten, dem größern Lichte entgegen eilten, und andern ihre Empfindungen davon, zwar nicht mittheilen, aber doch erzählen konnten.

Was sich also von dergleichen Männern herschreiben kann, deren noch itzt von Zeit zu Zeit einige aufstehen, ohne daß man ihnen immer Gerechtigkeit widerfahren läßt, das kann zu keinem Beweise eines unmittelbar göttlichen Ursprungs gebraucht werden. Kann es diesen Ursprung aber nicht erweisen, da wo es vorhanden ist: so kann es diesen Ursprung auch nicht widerlegen, da wo es mangelt; und Bücher können gar wol von Gott seyn, durch eine höhere Eingebung Gottes verfaßt seyn, ob sich schon nur wenige, oder gar keine, Spuren von der Unsterblichkeit der Seelen und der Vergeltung nach diesem Leben, darinn finden. Diese Bücher können sogar eine seligmachende Religion enthalten; das ist, eine Religion, bey deren Befolgung sich der Mensch seiner Glückseligkeit so weit versichert halten kann, als er hinausdenkt. Denn warum dürfte eine solche Religion sich nicht nach den [521] Grenzen seiner Sehnsucht und Wünsche fügen? Warum müßte sie nothwendig erst die Sphäre dieser Sehnsucht und Wünsche erweitern? Freylich wäre eine solche seligmachende Religion nicht die seligmachende Christliche Religion. Aber wenn denn die Christliche Religion nur erst zu einer gewissen Zeit, in einem gewissen Bezirke erscheinen konnte, mußten deswegen alle vorhergehende Zeiten, alle andere Bezirke keine seligmachende Religion haben? Ich will es den Gottesgelehrten gern zugeben, daß aber doch das Seligmachende in den verschiednen Religionen immer das Nehmliche müsse gewesen seyn: wenn sie mir nur hinwiederum zugeben, daß darum nicht immer die Menschen den nehmlichen Begriff damit müssen verbunden haben. Gott könnte ja wol in allen Religionen die guten Menschen in der nehmlichen Betrachtung, aus den nehmlichen Gründen selig machen wollen: ohne darum allen Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nehmliche Offenbarung ertheilt zu haben. –

Unter einem gewissen Zirkel von Freunden ist vor einiger Zeit ein kleiner Aufsatz in der Handschrift herum gegangen, welcher die ersten Linien zu einem ausführlichen Buche enthielt, und überschrieben war: die Erziehung des Menschengeschlechts. Ich muß bekennen, daß ich von einigen Gedanken dieses Aufsatzes bereits wörtlich Gebrauch gemacht habe. Was hindert mich also, oder vielmehr, was ist also schicklicher, als daß ich den Anfang desselben in seinem ganzen Zusammenhange mittheile, der sich auf den Inhalt unsers vierten Fragments [522] so genau beziehet? Die Indiscretion, die ich damit begehe, weiß ich zu verantworten; und von der Lauterkeit der Absichten des Verfassers bin ich überzeugt. Er ist auch bey weitem so heterodox nicht, als er bey dem ersten Anblicke scheinet, wie ihm auch die schwierigsten Leser zugestehen werden, wenn er einmal den ganzen Aufsatz, oder gar die völlige Ausführung desselben, bekannt zu machen, für gut halten sollte. Hier ist indeß, wie gesagt, der Anfang, – des verwandten und genutzten Inhalts wegen.