BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Philipp Moritz

1756 - 1793

 

Anton Reiser

 

2. Theil

 

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Titelkupfer des zweiten Teils

 

 

Der Umstand, wodurch Anton Reisers Schicksal unvermuthet eine glücklichere Wendung nahm, war: daß er sich auf der Straße mit ein Paar Jungen balgte, die mit ihm aus der Schule kamen, und ihn unterweges geneckt hatten, welches er nicht länger leiden wollte; indem er sich nun mit ihnen bei den Haren herumzaußte, kam auf einmal der Pastor M... daher gegangen – und wie groß war nun Reisers Beschämung und Verwirrung, da ihn die beiden Jungen selbst zuerst aufmerksam darauf machten, und ihm, mit einer Art von Schadenfreude den Zorn vorstellten, den nun der Pastor M... auf ihn werfen würde.

Was? – ich will einst selbst solch ein ehrwürdiger Mann werden, wie daher kömmt – wünsche, daß mir das itzt schon ein jeder ansehen soll, damit sich irgend einer findet, der sich meiner annimmt, und mich aus dem Staube hervorzieht, und muß nun in der Stellung von diesem Manne überrascht werden, bei dem ich konfirmirt werden soll, wo ich Gelegenheit hätte, mich in meinem besten Lichte zu zeigen. – Dieser Mann, was wird er nun von mir denken, wofür wird er mich halten?

Diese Gedanken giengen Reisern durch den Kopf, und bestürmten ihn auf einmal so sehr mit Schaam, Verwirrung, und Verachtung seiner selbst, daß er glaubte in die Erde sinken zu müssen. – Aber er ermannte sich, das Selbstzutrauen arbeitete sich unter der erstickenden Schaam wieder hervor, und flößte ihm zugleich Muth und Zutrauen gegen den Pastor M... ein – er faßte schnell ein Herz, gieng geradesweges auf den Pastor M... zu, und redete ihn auf öffentlicher Straße an, indem er zu ihm sagte, er sey einer von den Knaben, die bei ihm zur Kinderlehre giengen, und der Pastor M... möchte doch deswegen keinen Zorn auf ihn werfen, daß er sich eben itzt mit den beiden Jungen dort geschlagen hätte, dies wäre sonst gar seine Art nicht; die Jungen hätten ihn nicht zufrieden gelassen; und es sollte nie wieder geschehen. –

Dem Pastor M... war es sehr auffallend, sich auf der Straße von einem Knaben auf die Weise angeredet zu sehen, der sich eben mit ein paar andern Buben herumgebalgt hatte – nach einer kleinen Pause antwortete er: es sey freilich sehr unrecht und unschicklich sich zu balgen, indes hätte das weiter nichts zu sagen, wenn er es künftig unterließe; drauf erkundigte er sich auch, nach seinem Nahmen und Eltern, fragte ihn, wo er bis jetzt in die Schule gegangen wäre, u. s. w. und entließ ihn sehr gütig – wer war aber froher, als Reiser, und wie leicht war ihm ums Herz, da er sich nun wieder aus dieser gefährlichen Situation herausgewickelt glaubte.

Und wie viel froher würde er noch gewesen seyn, hätte er gewußt, daß dieser ohngefähre Zufall allen seinen ängstlichen Besorgnissen ein Ende machen, und die erste Grundlage seines künftigen Glücks seyn würde. – Denn von dem Augenblick an hatte der Pastor M... den Gedanken gefaßt, sich näher nach diesem jungen Menschen zu erkundigen, und sich seiner thätig anzunehmen, weil er nicht ohne Grund vermuthete, daß sobald des jungen Reisers Betragen gegen ihn nicht Verstellung war, es keine gemeine Denkungsart bei einem Knaben von dem Alter voraussetzte – und daß es nicht Verstellung war, dafür schien ihm seine Miene zu bürgen.

Den Sontag darauf fragte ihn der Pastor M... des Nachmittags in der Kinderlehre öfter wie sonst; und Reiser hatte nun schon gewissermaßen einen seiner Wünsche erreicht, in der Kirche, vor dem versammelten Volke, wenigstens auf irgend eine Art öffentlich reden zu können, indem er die Katechismusfragen des Pastors mit lauter und vernehmlicher Stimme beantwortete, wobei er sich denn sehr von den übrigen unterschied, indem er richtig accentuirte, da jene ihre Antworten in dem gewöhnlichen singenden Tone der Schulknaben herbeteten.

Nach geendigter Kinderlehre winkte ihn der Pastor M... beiseite, und entbot ihn auf den andern Morgen zu sich – welch eine freudige Unruhe bemächtigte sich nun auf einmal seiner Gedanken, da es schien, als ob sich irgend ein Mensch einmal näher um ihn bekümmern wollte, – denn damit schmeichelte er sich nun freilich, daß der Pastor M... durch seine Antworten aufmerksam auf ihn geworden sey; und er nahm sich nun auch vor, Zutrauen zu diesen Manne zu fassen, und ihm alle seine Wünsche zu entdecken.

Als er nach einer fast schlaflosen Nacht den andern Morgen zu dem Pastor M... kam, fragte ihn dieser zuerst, was für einer Lebensart er sich zu widmen dächte, und bahnte ihm also den Weg, zu dem, was er schon selbst vorzubringen im Sinn hatte. – Reiser entdeckte ihm sein Vorhaben. – Der Pastor M... stellte ihm die Schwierigkeiten vor, sprach ihm aber doch auch zugleich wieder Muth ein, und machte den Anfang zur thätigen Ermunterung damit, daß er versprach, ihn durch seinen einzigen Sohn, der die erste Klasse des Lyceums in H... besuchte, in der lateinischen Sprache unterrichten zu lassen, womit auch noch in derselben Woche der Anfang gemacht wurde.

Bei dem allen glaubte Reiser in den Mienen und dem Betragen des Pastor M... zu lesen, daß er noch irgend etwas Wichtiges zurück behielte, welches er ihm zu seiner Zeit sagen würde: in dieser Vermuthung wurde er noch mehr durch die geheimnißvollen Ausdrücke des Garnisonküsters bestärkt, dessen Lehrstunden er noch besuchte, und der ihm immer einen Stuhl setzte, wenn er kam, indes die andern auf Bänken saßen. – Dieser pflegte denn wohl, wenn die Stunde aus war, zu ihm zu sagen: seyn Sie ja recht auf Ihrer Hut, und denken Sie, daß man genau auf Sie acht giebt. – Es sind große Dinge mit Ihnen im Werke! und dergleichen mehr, wodurch nun Reiser freilich anfieng, sich eine wichtigere Person, als bisher zu glauben, und seine kleine Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt, die sich denn oft thöricht genug in seinem Gange und in seinen Mienen äußerte, indem er manchmal in seinen Gedanken mit allem Ernst und der Würde eines Lehrers des Volks auf der Straße einhertrat, wie er dieß denn schon in B... gethan hatte, besonders wenn er schwarze Weste und Beinkleider trug. Bei seinem Gange hatte er sich den Gang eines jungen Geistlichen, der damals Lazarethprediger in H... und zugleich Konrektor am Lyceum war, zum Muster genommen, weil dieser in der Art sein Kinn zu tragen, etwas hatte, das Reisern ganz besonders gefiel.

Nie kann wohl jemand in irgend einem Genuß, glücklicher gewesen seyn, als es Reiser damals in der Erwartung der großen Dinge war, die mit ihm vorgehen sollten. – Dieß erhitzte seine Einbildungskraft bis auf einen hohen Grad. Und da nun der Zeitpunkt immer näher heran rückte, wo er zum Abendmahl sollte gelassen werden, so erwachten auch alle die schwärmerischen Ideen wieder, die er sich schon in B... von dieser Sache in den Kopf gesetzt hatte, wozu noch die Lehrstunden des Garnisonküsters kamen, der denjenigen, die er zum Abendmahl vorbereiten half, dabei Himmel und Hölle auf eine so fürchterliche Art vorstellte, daß seinen Zuhörern oft Schrecken und Entsetzen ankam, welches aber doch mit einer angenehmen Empfindung verknüpft war, womit man das Schreckliche und Fürchterliche gemeiniglich anzuhören pflegt, und er empfand dann wieder das Vergnügen, seine Zuhörer, so erschüttert zu haben, welches ihm wonnevolle Thränen auspreßte, die den ganzen Auftritt, wenn er so des Abends in der erleuchteten Schulstube zwischen ihnen stand, noch feierlicher machte.

Auch der Pastor M... hielt wöchentlich einige Stunden, worin er diejenigen, die zum Abendmahl gehen sollten, vorbereitete, aber das, was er sagte, kam lange nicht gegen die herzerschütternden Anreden seines Küsters, ob es Reisern gleich zusammenhängender und besser gesagt zu seyn schien. – Nichts war für Anton schmeichelhafter, als da der Pastor M... einmal den Begrif, daß die Gläubigen Kinder Gottes sind, durch das Beispiel erklärte, wenn er mit irgend einem aus der Zahl seiner jungen Zuhörer genauer umgienge, ihn besonders zu sich kommen ließe, und sich mit ihm unterredete, dieser ihm denn auch näher als die übrigen wäre, und so wären die Kinder Gottes ihm auch näher, als die übrigen Menschen. Nun glaubte Reiser unter der Zahl seiner Mitschüler der einzige gewesen zu seyn, auf den der Pastor M... aufmerksamer, als auf alle übrigen wäre, – allein so schmeichelhaft auch dieß für seine Eitelkeit war, so erfüllte es ihn doch bald nachher wieder mit einer unbeschreiblichen Wehmuth, daß nun alle die übrigen an diesem Glück was ihm allein geworden war, nicht Theil nehmen sollten, und von dem nähern Umgange mit dem Pastor M... gleichsam auf immer ausgeschlossen seyn sollten. – Eine Wehmuth, die er sich schon in seinen frühesten Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnert, da ihm seine Base in einem Laden ein Spielzeug gekauft hatte, das er in Händen trug, als er aus dem Hause gieng; und vor der Hausthüre saß ein Mädchen in zerlumpten Kleidern ohngefähr in seinem Alter, das voll Verwunderung über das schöne Stück Spielzeug ausrief: Ach, Herr Gott, wie schön! – Reiser mochte etwa damals sechs bis sieben Jahre alt seyn – der Ton, des geduldigen Entbehrens ohngeachtet der höchsten Bewunderung, womit das zerlumpte Mädchen die Worte sagte: Ach Herr Gott, wie schön! drang ihm durch die Seele. – Das arme Mädchen mußte alle diese Schönheiten so vor sich vorbeitragen sehen, und durfte nicht einmal einen Gedanken daran haben, irgend ein Stück davon zu besitzen. Es war von dem Genuß dieser köstlichen Dinge gleichsam auf immer ausgeschlossen, und doch so nahe dabei – wie gern wäre er zurückgegangen, und hätte dem zerlumpten Mädchen das kostbare Spielzeug geschenkt, wenn es seine Base gelitten hätte! – so oft er nachher daran dachte, empfand er eine bittere Reue, daß er es dem Mädchen nicht gleich auf der Stelle gegeben hatte. Eine solche Art von mitleidsvoller Wehmuth war es auch, die Reiser empfand, da er sich ausschließungsweise mit den Vorzügen in der Gunst des Pastor M... beehrt glaubte, wodurch seine Mitschüler, ohne, daß sie es verdient hatten, so weit unter ihn herabgesetzt wurden.

Grade diese Empfindung ist nachher wieder in seiner Seele erwacht, so oft er in der ersten von Virgils Eklogen an die Worte kam; nec invideo u. s. w. Indem er sich in die Stelle des glücklichen Hirten versetzte, der ruhig im Schatten seines Baums sitzen kann, indes der andere sein Haus und Feld mit dem Rücken ansehen muß, war ihm bei dem nec invideo des letztern immer gerade so zu Muthe, als da das zerlumpte Mädchen sagte: «Ach Herr Gott, wie schön ist das!»

Ich habe hier nothwendig in Reisers Leben etwas nachhohlen und etwas vorweggreifen müssen, wenn ich zusammen stellen wollte, was nach meiner Absicht, zusammen gehört. Ich werde dieß noch öfter thun; und wer meine Absicht eingesehen hat, bei dem darf ich wohl nicht erst dieser anscheinenden Absprünge wegen um Entschuldigung bitten.

Man sieht leicht, daß Anton Reisers Eitelkeit, durch die Umstände, welche sich jetzt vereinigten, um ihm seine eigne Person wichtig zu machen, mehr als zu viel Nahrung erhielt. Es bedurfte wieder einer kleinen Demüthigung für ihn, und die blieb nicht aus. Er schmeichelte sich nicht ohne Grund, unter allen, die bei dem Pastor M... konfirmirt wurden, der erste zu seyn. Er saß auch oben an, und war gewiß, daß ihm keiner diesen Platz streitig machen würde. Als auf einmal ein junger wohlgekleideter Mensch, in seinem Alter, und von feiner Erziehung die Lehrstunden des Pastor M... mit besuchte, der ihn durch sein feines äußeres Betragen sowohl, als durch die vorzügliche Achtung, womit ihn der Pastor M... begegnete, ganz in Dunkel setzte, und dem auch sogleich über ihm der erste Platz angewiesen ward.

Reisers süßer Traum, der erste unter seinen Mitschülern zu seyn, war nun plötzlich verschwunden. Er fühlte sich erniedrigt, herabgesetzt, mit den übrigen allen in eine Klasse geworfen. – Er erkundigte sich bei dem Bedienten des Pastors M... nach seinem fürchterlichen Nebenbuhler, und erfuhr, daß er eines Amtmanns Sohn, und bei dem Pastor M... in Pension sey, auch mit den übrigen zugleich konfirmirt werden würde. Der schwärzeste Neid nahm auf eine Zeitlang in Antons Seele Platz; der blaue Rock mit dem sammtnen Kragen, den der Amtmannsohn trug; sein feines Betragen, seine hübsche Frisur, schlug ihn nieder und machte ihn mißvergnügt mit sich selbst; aber doch schärfte sich bald wieder das Gefühl bei ihm, daß dieß unrecht sey, und er wurde nun noch mißvergnügter über sein Mißvergnügen. Ach, er hätte nicht nöthig gehabt, den armen Knaben zu beneiden, dessen Glückssonne bald ausgeschienen hatte. Binnen vierzehn Tagen kam die Nachricht, daß sein Vater wegen Untreue seines Dienstes entsetzt sey. Für den jungen Menschen konnte also auch die Pension nicht länger bezahlt werden, der Pastor M... schickte ihn seinen Anverwandten wieder, und Reiser behielt seinen ersten Platz. Er konnte seine Freude wegen der Folgen, die dieser Vorfall für ihn hatte, nicht unterdrücken, und doch machte er sich selber Vorwürfe wegen seiner Freude – er suchte sich zum Mitleid zu zwingen, weil er es für recht hielt – und die Freude zu unterdrücken, weil er sie für unrecht hielt; sie hatte aber demohngeachtet die Oberhand, und er half sich denn am Ende damit, daß er doch nicht wieder das Schicksal könne, welches nun den jungen Menschen einmal habe unglücklich machen wollen. Hier ist die Frage: wenn das Schicksal des jungen Menschen sich plötzlich wieder geändert hätte, würde ihn Reiser aus erster Bewegung freiwillig mit lächelnder theilnehmender Miene wieder haben über sich stehen lassen, oder hätte er sich erst mit einer Art von Anstrengung in diese Empfindung versetzen müssen, weil er sie für recht und edel gehalten hatte. – Der Zusammenhang seiner Geschichte mag in der Folge diese Frage entscheiden!

Alle Abend hatte nun Reiser eine lateinische Stunde bei dem Sohn des Pastor M..., und kam wirklich so weit, daß er binnen vier Wochen ziemlich den Kornelius Nepos exponiren lernte. Welche Wonne war ihm das, wenn denn etwa der Garnisonküster dazu kam, und fragte, was die beiden Herren Studenten machten – und als der Pastor M... damals gerade seine älteste Tochter an einen jungen Prediger verheirathete, der eines Sonntags Nachmittags für ihn die Kinderlehre hielt, und dieser auf Reisern immer aufmerksamer zu werden schien, je öfter er ihn antworten hörte: welch ein entzückender Augenblick für Reisern, da derselbe nun nach geendigtem Gottesdienst zum Pastor M... kam, und der Schwiegersohn des Pastors, ihn nun mit der größten Achtung anredete, und sagte, es sey ihm gleich in der Kirche, da Reiser ihm zuerst geantwortet, aufgefallen, ob das wohl der junge Mensch seyn möchte, von dem ihm sein Schwiegervater so viel Gutes gesagt, und es freue ihn, daß er sich nicht geirrt habe.

In seinem Leben hatte Anton keine solche Empfindung gehabt, als ihm diese achtungsvolle Begegnung verursachte. – Da er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte, und sich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente er sich bei solchen Gelegenheiten der Büchersprache, die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel, und dem Katechismus zusammengesetzt war, welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab, indem er z. B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, er habe den Trieb zum Studieren, der ihn unaufhaltsam mit sich fortgerissen, nicht überwältigen können, und wolle sich nun der Wohlthaten, die man ihm erzeige auf alle Weise würdig zu machen, und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein Leben bis an sein Ende zu führen suchen.

Indes hatte der Konsistorialrath G..., an den sich Reiser schon vorher gewandt hatte, für ihn ausgemacht, daß er die sogenannte Neustädter Schule unentgeldlich besuchen könnte. – Allein der Pastor M... sagte, das dürfe nun nicht geschehen; er solle, bis er konfirmirt würde noch von seinem Sohne unterrichtet werden, damit er alsdann sogleich die höhere Schule auf der Altstadt besuchen könne, wo der Direktor sich seiner annehmen wolle; und wegen der Eifersucht, die zwischen den beiden Schulen zu herrschen pflegte, würde er besser thun, wenn er jene nicht zuerst besuchte. – Dieß mußte Reiser dem Konsistorialrath G... selber sagen, um den freien Unterricht, welchen er ihm verschaft hatte, abzulehnen, worüber denn derselbe sehr empfindlich wurde, und Reisern erst hart anredete, ihn aber doch zuletzt wieder mit der Aufmunterung entließ, daß er sich auf andre Weise dennoch seiner annehmen wolle.

So schien nun an Reisers Schicksale, um den sich vorher niemand bekümmert hatte, auf einmal alles Theil zu nehmen. – Er hörte von Eifersucht der Schulen seinetwegen sprechen. – Der Konsistorialrath G... und der Pastor M... schienen sich gleichsam um ihn zu streiten, wer sich am meisten seiner annehmen wollte. Der Pastor M... bediente sich des Ausdrucks, er solle nur dem Konsistorialrath G... sagen, es wären seinetwegen schon Anstalten getroffen worden, und würden noch Anstalten getroffen werden, daß er zu der höhern Schule auf der Altstadt hinlänglich vorbereitet würde, ohne vorher die niedere Schule auf der Neustadt zu besuchen. – Also Anstalten sollten nun seinetwegen getroffen werden, wegen eines Knaben, den seine eignen Eltern nicht einmal ihrer Aufmerksamkeit werth gehalten hatten.

Mit welchen glänzenden Träumen und Aussichten in die Zukunft, dieß Reisers Phantasie erfüllt habe, darf ich wohl nicht erst sagen. Insbesondre, da nun noch immer die geheimnißvollen Winke bei dem Garnisonküster und die Zurückhaltung des Pastor M... fortdauerte, womit er Reisern etwas wichtiges zu verschweigen schien. –

Endlich kam es denn heraus, daß der Prinz ... auf Empfehlung des Pastor M... sich des jungen Reisers annehmen, und ihm monathlich ... Rthlr. zu seinem Unterhalt aussetzen wolle. – Also war nun Reiser auf einmal allen seine Besorgnissen wegen der Zukunft entrissen, das süße Traumbild eines sehnlich gewünschten, aber nie gehoften Glückes, war ehe er es sich versehn, wirklich geworden, und er konnte nun seinen angenehmsten Phantasien nachhängen, ohne zu fürchten, daß er durch Mangel und Armuth darinn gestört werden würde. –

Sein Herz ergoß sich wirklich in Dank gegen die Vorsehung. – Kein Abend gieng hin, wo er nicht den Prinzen und den Pastor M... in sein Abendgebet mit eingeschlossen hätte – und oft vergoß er im Stillen Thränen der Freude und des Danks, wenn er diese glückliche Wendung seines Schicksals überdachte.

Reisers Vater hatte nun auch nichts weiter gegen sein Studieren einzuwenden, sobald er hörte, daß es ihm nichts kosten sollte. Und da überdem nun die Zeit heran kam, wo er seine kleine Bedienung, an einem Ort sechs Meilen von H... antreten mußte, und ihm sein Sohn also auf keine Weise mehr zur Last fallen konnte. – Allein nun war die Frage, bei wem Reiser nach der Abreise seiner Eltern wohnen und essen sollte. Der Pastor M... schien nicht geneigt zu seyn, ihn ganz zu sich ins Haus zu nehmen. Es mußte also drauf gedacht werden, ihn irgendwo bei ordentlichen Leuten unterzubringen. Und ein Hauboist Nahmens F... vom Regiment des Prinzen ... erbot sich von freien Stücken dazu, Reisern unentgeldlich bei sich wohnen zu lassen. Ein Schuster, bei dem seine Eltern einmal im Hause gewohnt hatten, noch ein Hauboist, ein Hofmusikus, ein Garkoch, und ein Seidensticker, erboten sich jeder, ihm wöchentlich einen Freitisch zu geben.

Dieß verringerte Reisers Freude in etwas wieder, welcher glaubte, daß das, was der Prinz für ihn hergab, zu seinem Unterhalt zureichen würde, ohne daß er an fremden Tischen sein Brodt essen dürfte. Auch verringerte dieß seine Freude nicht ohne Ursach, denn es setzte ihn in der Folge oft in eine höchst peinliche und ängstliche Lage, so daß er oft im eigentlichen Verstande sein Brodt mit Thränen essen mußte. – Denn alles beeiferte sich zwar, auf die Weise ihm Wohlthaten zu erzeigen, aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht erworben zu haben, über seine Aufführung zu wachen, und ihm in Ansehung seines Betragens Rath zu ertheilen, der dann immer ganz blindlings sollte angenommen werden, wenn er seine Wohlthäter nicht erzürnen wollte. Nun war Reiser gerade von so viel Leuten, von ganz verschiedener Denkungsart, abhängig, als ihm Freitische gaben, wo jeder drohte, seine Hand von ihm abzuziehen, sobald er seinem Rath nicht folgte, der oft dem Rath eines andern Wohlthäters geradezu widersprach. Dem einen trug er sein Haar zu gut, dem andern zu schlecht frisirt, dem einen gieng er zu schlecht, dem andern, für einen Knaben der von Wohlthaten leben müsse, noch zu geputzt einher, – und dergleichen unzählige Demüthigungen und Herabwürdigungen gab es mehr, denen Reiser durch den Genuß der Freitische ausgesetzt war, und denen gewiß ein jeder junger Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist, der das Unglück hat, auf Schulen durch Freitische seinen Unterhalt zu suchen, und die Woche hindurch von einen zum andern herumessen zu müssen.

Dieß alles ahndete Reisern dunkel, als die Freitische insgesammt für ihn angenommen, und keine Wohlthat verschmäht wurde, die ihm nur irgend jemand erweisen wollte. – An dem guten Willen aber pflegt es nie zu fehlen, wenn Leute einem jungen Menschen zum Studieren beförderlich seyn zu können glauben – dieß erweckt einen ganz besondern Eifer – jeder denkt sich dunkel, wenn dieser Mann einmal auf der Kanzel steht, dann wird das auch mein Werk mit seyn. – Es entstand ein ordentlicher Wetteifer um Reisern, und jeder auch der Ärmste wollte nun auf einmal zum Wohlthäter an ihm werden, wie dem ein armer Schuster sich erbot, ihm alle Sontagabend einmal zu essen zu geben – dieß alles wurde mit Freuden für ihn angenommen, und von seinen Eltern mit dem Hauboisten und dessen Frau überrechnet, wie glücklich er nun sey, daß er alle Tage in der Woche zu essen habe, und wie man nun von dem Gelde, was der Prinz hergebe, für ihn sparen könne.

Ach, die glänzenden Aussichten, die sich Reiser von dem Glück, das auf ihn wartete, gemacht hatte, verdunkelten sich nachher sehr wieder. Indes dauerte doch der erste angenehme Taumel, in welchen ihn die thätige Vorsorge und die Theilnehmung so vieler Menschen an seinem Schicksale versetzt hatte, noch eine Weile fort. –

Das große Feld der Wissenschaften lag vor ihm – sein künftiger Fleiß, die nützlichste Anwendung jeder Stunde bei seinem künftigen Studieren war den ganzen Tag über sein einziger Gedanke, und die Wonne die er darin finden, und die erstaunlichen Fortschritte, die er nun thun, und sich Ruhm und Beifall dadurch erwerben würde: mit diesen süßen Vorstellungen stand er auf, und gieng damit zu Bette – aber er wußte nicht, daß ihm das Drückende und Erniedrigende seiner äußern Lage dieß Vergnügen so sehr verbittern würde. Anständig genährt und gekleidet zu seyn, gehört schlechterdings dazu, wenn ein junger Mensch zum Fleiß im Studieren Muth behalten soll. Beides war bei Reisern der Fall nicht. Man wollte für ihn sparen, und ließ ihn während der Zeit wirklich darben.

Seine Eltern reißten nun auch weg, und er zog mit seinen wenigen Habseeligkeiten bei dem Hauboisten F... ein, dessen Frau insbesondre sich schon von seiner Kindheit an, seiner mit angenommen hatte. – Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo statt finden kann. Da war nichts, keine Bürste und keine Scheere, was nicht seit Jahren seinen bestimmten angewiesenen Platz gehabt hätte. Da war kein Morgen, der anbrach, wo nicht um acht Uhr Kaffee getrunken, und um neun Uhr der Morgenseegen gelesen worden wäre, welches allemal knieend geschahe, indes die Frau F... aus dem Benjamin Schmolke vorlaß, wobei denn Reiser auch mit knieen mußte. Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art indem jeder vor seinem Stuhle kniete, auch der Abendseegen aus dem Schmolke gelesen, und dann zu Bette gegangen. Dies war die unverbrüchliche Ordnung welche von diesen Leuten schon seit beinahe zwanzig Jahren, wo sie auch beständig auf derselben Stube gewohnt hatten, war beobachtet worden. Und sie waren gewiß dabei sehr glücklich, aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden, wenn nicht zugleich ihre innre Zufriedenheit, die gröstentheils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war, mit darunter leiden sollte. Dieß hatten sie nicht recht erwogen, da sie sich entschlossen, ihre Stubengesellschaft mit jemanden zu vermehren, der sich unmöglich auf einmal in ihre seit zwanzig Jahren etablirte Ordnung, die ihnen schon zur andern Natur geworden war, gänzlich fügen konnte.

Es konnte also nicht fehlen, daß es ihnen bald zu gereuen anfieng, daß sie sich selbst eine Last aufgebürdet hatten, die ihnen schwerer wurde, als sie glaubten. Weil sie nur eine Stube und eine Kammer hatten, so mußte Reiser in der Wohnstube schlafen, welches ihnen nun alle Morgen, so oft sie herein traten, einen unvermutheten Anblick von Unordnung machte, dessen sie nicht gewohnt waren, und der sie wirklich in ihrer Zufriedenheit störte. – Anton merkte dieß bald, und der Gedanke, lästig zu seyn, war ihm so ängstigend und peinlich, daß er sich oft kaum zu husten getrauete, wenn er an den Blicken seiner Wohlthäter sahe, daß er ihnen im Grunde zur Last war. – Denn er mußte doch seine wenigen Sachen nun irgendwo hinlegen, und wo er sie hinlegte, da störten sie gewissermaßen die Ordnung, weil jeder Fleck hier nun schon einmal bestimmt war. – Und doch war es ihm nun unmöglich, sich aus dieser peinlichen Lage wieder herauszuwickeln. – Dieß alles zusammengenommen versetzte ihn oft Stundenlang in eine unbeschreibliche Wehmuth, die er sich damals selber nicht zu erklären wußte, und sie anfänglich bloß der Ungewohnheit seines neuen Aufenthaltes zuschrieb.

Allein es war nichts als der demüthigende Gedanke des Lästigseyns, der ihn so danieder druckte. Hatte er gleich bei seinen Eltern, und bei dem Hutmacher L... auch nicht viel Freude gehabt, so hatte er doch ein gewisses Recht da zu seyn. Bei jenen, weil es seine Eltern waren, und bei diesem, weil er arbeitete. – Hier aber war der Stuhl worauf er saß eine Wohlthat. – Möchten dieß doch alle diejenigen erwägen, welche irgend jemanden Wohlthaten erzeigen wollen, und sich vorher recht prüfen, ob sie sich auch so dabei nehmen werden, daß ihre gutgemeinte Entschließung dem Bedürftigen nie zur Quaal gereiche.

Das Jahr, welches Reiser in dieser Lage zubrachte, war, obgleich jeder ihn glücklich prieß, in einzelnen Stunden und Augenblicken, eines der qualvollsten seines Lebens.

Reiser hätte sich vielleicht seinen Zustand angenehmer machen können, hätte er des nur gehabt, was man bei manchen jungen Leuten ein insinuantes Wesen nennt. Allein zu einem solchen insinuanten Wesen gehört ein gewisses Selbstzutrauen, das ihm von Kindheit auf war benommen worden; um sich gefällig zu machen, muß man vorher den Gedanken haben, daß man auch gefallen könne. – Reisers Selbstzutrauen mußte erst durch zuvorkommende Güte geweckt werden, ehe er es wagte, sich beliebt zu machen. – Und wo er nur einen Schein von Unzufriedenheit andrer mit ihm bemerkte, da war er sehr geneigt, an der Möglichkeit zu verzweifeln, jemals ein Gegenstand ihrer Liebe oder ihrer Achtung zu werden. Darum gehörte gewiß ein großer Grad von Anstrengung bei ihm dazu, sich selber Personen als einen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit vorzustellen, von denen er noch nicht wußte, wie sie seine Zudringlichkeit aufnehmen würden.

Seine Baase prophezeite ihm sehr oft, wie ihm der Mangel jenes insinuanten Wesens an seinem Fortkommen in der Welt schaden würde. Sie lehrte ihn, wie er mit der Frau F... sprechen, und ihr sagen solle: «liebe Frau F..., seyn Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und Mutter bin, ich will Sie auch so lieb haben, wie eine Mutter». – Allein wenn Reiser dergleichen sagen wollte, so war, als ob ihm die Worte im Munde erstarben; es würde höchst ungeschickt herausgekommen seyn, wenn er so etwas hätte sagen wollen. – Dergleichen zärtliche Ausdrücke waren nie durch zuvorkommendes, gütiges Betragen irgend eines Menschen gegen ihn, aus seinem Munde hervorgelockt worden; seine Zunge hatte keine Geschmeidigkeit dazu. – Er konnte den Rath seiner Base unmöglich befolgen. Wenn sein Herz voll war, so suchte er schon Ausdrücke, wo er sie auch fand. Aber die Sprache der feinen Lebensart hatte er freilich nie reden gelernet. – Was man insinuantes Wesen nennt, wäre auch bei ihm die kriechendste Schmeichelei gewesen.

Indes war nun die Zeit herangekommen, wo Reiser konfirmirt werden, und in der Kirche öffentlich sein Glaubensbekenntniß ablegen sollte, – eine große Nahrung für seine Eitelkeit – er dachte sich die versammelten Menschen, sich als den ersten, unter seinen Mitschülern, der alle Aufmerksamkeit bei seinen Antworten vorzüglich auf sich ziehen würde, durch Stimme, Bewegung und Miene. – Der Tag erschien, und Reiser erwachte wie ein römischer Feldherr erwacht seyn mag, dem an dem Tage ein Triumph bevorstand. – Er wurde bei seinem Vetter dem Peruckenmacher hoch frisirt, und trug einen bläulichen Rock und schwarze Unterkleider, eine Tracht, die der geistlichen gewissermaaßen sich schon am meisten näherte.

Aber so wie der Triumph des größten Feldherrn zuweilen durch unerwartete Demüthigungen verbittert wurde, daß er ihn nur halb geniessen konnte; so gieng es auch Reisern an diesem Tage seines Ruhms und seines Glanzes. – Seine Freitische nahmen mit diesem Tage ihren Anfang – er hatte den ersten des Mittags bei dem Garnisonküster, und den andern des Abends bei dem armen Schuster – und obgleich der Garnisonküster ein Mann war, der das großmuthigste Herz besaß, und Reisern seinen Lebenslauf erzählte, wie er auch erst als ein armer Schüler ins Chor gegangen sey, aber schon in seinem siebzehnten Jahre den blauen Mantel mit dem schwarzen vertauscht habe – so war doch die Frau desselben der Neid und die Mißgunst selber, und jeder ihrer Blicke vergiftete Reisern den Bissen, den er in den Mund steckte. Sie lies es sich zwar am ersten Tage nicht so sehr, wie nachher, aber doch stark genug merken, daß Reiser niedergeschlagenen Herzens, ohne selbst recht zu wissen, worüber, zur Kirche gieng, und die Freude, die er sich an diesem sehnlich gewünschten Tage versprochen hatte, nur halb empfand. – Er sollte nun hingehn, um sein Glaubensbekenntniß auf gewisse Weise zu beschwören. –

Dieß dachte er sich, und ihm fiel dabei ein, daß sein Vater vor einiger Zeit zu Hause erzählt hatte, wie er wegen seines Dienstes vereidet worden war, daß er nichts weniger, als gleichgültig dabei gewesen sey – und Reiser schien sich, da er zur Kirche gieng, gegen den Eid, den er ablegen sollte, gleichgültig zu seyn. – Aus dem Unterricht, den er in der Religion bekommen, hatte er sehr hohe Begriffe vom Eide, und hielt diese Gleichgültigkeit an sich für höchst strafbar. Er zwang sich also nicht gleichgültig, sondern gerührt und ernsthaft zu seyn, bei diesem wichtigen Schritte, und war mit sich selber unzufrieden, daß er nicht noch weit gerührter war; aber die Blicke der Frau des Garnisonküsters waren es, welche alle sanfte und angenehme Empfindungen aus seinem Herzen weggescheucht hatten.

Er konnte sich doch nicht recht freuen, weil niemand war, der an seiner Freude recht nahen Antheil nahm, weil er dachte, daß er auch selbst an diesem Tage an fremden Tischen essen mußte. Da er indes in die Kirche kam, und nun vor den Altar trat, und oben an in der Reihe stand, so erwärmete das alles zwar wieder seine Phantasie – aber es war doch lange das nicht, was er sich versprochen hatte. – Und gerade das wichtigste und feierlichste, die Ablegung des Glaubensbekenntnisses, welches einer im Nahmen der übrigen thun mußte, kam nicht an ihn, und er hatte sich doch schon viele Tage vorher auf Miene, Bewegung, und Ton geübt, womit er es ablegen wollte.

Er dachte, der Pastor M... würde ihn etwa den Nachmittag zu sich kommen lassen, aber er ließ ihn nicht zu sich kommen – und während, daß seine Mitschüler nun zu Hause giengen, und der zärtlichen Bewillkommung ihrer Eltern entgegen sahn, gieng Reiser einsam und verlassen auf der Straße umher, wo ihn der Direktor des Lyceums begegnete, der ihn anredete, und fragte, ob er nicht Reiserus hieße? – und als Reiser mit Ja antwortete, ihm freundlich die Hand druckte; und sagte, er habe schon durch den Pastor M... viel Gutes von ihm gehört, und würde bald näher mit ihm bekannt werden.

Welche unerwartete Aufmunterung für ihn, daß dieser Mann, den er schon oft mit tiefer Ehrfurcht betrachtet hatte, ihn auf der Straße anzureden würdigte, und ihn Reiserus nannte.

Der Direktor B... war wirklich ein Mann, welcher einem jeden der ihn sahe, Ehrfurcht und Liebe einzuflößen im Stande war. Er kleidete sich zierlich, und doch anständig, trug sich edel, war wohlgebildet, hatte die heiterste Miene, worinn ihm so oft er wollte, der strengste Ernst zu Gebote stand. Er war ein Schulmann, gerade wie er seyn sollte, um von diesem Stande die Verachtung der feinen Welt, womit die gewöhnliche Pedanterie desselben belegt ist, abzuwälzen.

Wie es nun kam, daß er Reisern Reiserus nannte, mag der Himmel wissen, gnug er nannte ihn so, und es schmeichelte Reisern nicht wenig, auf die Weise seinen Nahmen zum erstenmal in us umgetauft zu sehen. – Da er mit dieser Endigung der Nahmen immer die Idee von Würde und einer erstaunenswürdigen Gelehrsamkeit verknüpft hatte, und sich nun schon im Geiste den gelehrten und berühmten Reiserus nennen hörte.

Diese Benennung, womit er so zufälliger Weise von dem Direktor B... beehrt wurde, ist ihm nachher auch oft wieder eingefallen, und manchmal mit ein Sporn zum Fleiße gewesen; denn mit dem us an seinem Nahmen erwachte auf einmal die ganze Reihe von Vorstellungen, einmal ein berühmter Gelehrter zu werden, wie Erasmus Roterodamus, und andere, deren Lebensbeschreibungen er zum Theil gelesen, und ihre Bildnisse in Kupfer gestochen gesehen hatte.

Am Abend gieng er nun zu dem armen Schuster, und wurde wenigstens mit freundlichern Blicken, als von der Frau des Garnisonküsters empfangen. Der Schuster Heidorn, so hieß sein Wohlthäter, hatte die Schriften des Taulerus und andre dergleichen gelesen, und redete daher eine Art von Büchersprache, wobei er manchmal einen gewissen predigenden Ton annahm. Gemeiniglich citirte er einen gewissen Periander, wenn er etwas behauptete, als: der Mensch muß sich nur Gott hingeben, sagt Periander – und so sagte alles, was der Schuster Heidorn sagte, auch dieser Periander, der im Grunde nichts als eine allegorische Person war, die in Bunians Christenreise oder sonst irgendwo vorkommt. Aber Reisern klang der Nahme Periander so süß in seinen Ohren. – Er dachte sich dabei etwas Erhabenes, Geheimnißvolles, und hörte den Schuster Heidorn immer gern von Periandern sprechen.

Der gute Heidorn hatte ihn aber etwas zu spät aufgehalten, und als er zu Hause kam, hatten sein Wirth und seine Wirthin schon ihren Abendsegen gelesen, und nicht unmittelbar darauf zu Bette gehen können, welches seit Jahren nicht geschehen seyn mochte. Dieß war denn Ursach, daß Reiser ziemlich kalt und finster empfangen wurde, und sich von diesem Tage, dem er so lange voll sehnlicher Erwartung entgegen gesehen hatte, mit traurigem Herzen niederlegen mußte.

Diese Woche mußte er nun zum erstenmale herumessen, und machte am Montage bei dem Garkoch den Anfang, wo er sein Essen unter den übrigen Leuten, die bezahlten, bekam, und man sich weiter nicht um ihn bekümmerte. – Dieß war, was er wünschte, und er gieng immer mit leichterem Herze hieher.

Den Dienstag Mittag gieng er zu dem Schuster S., wo seine Eltern im Hause gewohnt hatten, und wurde auf das liebreichste und freundlichste empfangen. Die guten Leute hatten ihn, als ein kleines Kind gekannt, und die alte Mutter des Schuster S... hatte immer gesagt, aus dem Jungen würd noch einmal etwas – und nun freute sie sich, daß ihre Prophezeiung einzutreffen schien. Und wenn es Reiser je nicht fühlte, daß er fremdes Brodt aß, so war es an diesem gastfreundlichen Tische, wo er oft nachher seines Kummers vergessen hat, und mit heitrer Miene wieder weggieng, wenn er traurig hingegangen war. Denn mit dem Schuster S... vertiefte er sich immer in philosophische Gesprächen, bis die alte Mutter sagte: nun Kinder, so hört doch einmal auf, und laßt das liebe Essen nicht kalt werden! O, was war der Schuster S... für ein Mann! von ihm konnte man mit Wahrheit sagen, daß er vom Lehrstuhle die Köpfe der Leute hätte bilden sollen, denen er Schuh machte. – Er und Reiser kamen oft in ihren Gesprächen, ohne alle Anleitung, auf Dinge, die Reiser nachher als die tiefste Weisheit in den Vorlesungen über die Metaphysik wieder hörte, und er hatte oft schon Stundenlang mit dem Schuster S... darüber gesprochen. – Denn sie waren ganz von selbst auf die Entwickelung der Begriffe von Raum und Zeit, von subjektivischer und objektivischer Welt, u. s. w. gekommen, ohne die Schulterminologie zu wissen, sie halfen sich denn mit der Sprache des gemeinen Lebens so gut sie konnten, welches oft sonderbar genug heraus kam, – kurz bei dem Schuster S... vergaß Reiser alles Unangenehme seines Zustandes, er fühlte sich hier gleichsam in die höhere Geisterwelt versetzt, und sein Wesen wieder veredelt, weil er jemanden fand, mit dem er sich verstehn, und Gedanken gegen Gedanken wechseln konnte. Die Stunden, welche er hier bei den Freunden seiner Kindheit und seiner Jugend zubrachte, waren gewiß damals die angenehmsten seines Lebens. Hier war es allein, wo er sich mit völligem Zutrauen gewissermaßen, wie zu Hause fühlte.

Am Mittwoch aß er denn bei seinem Wirth, wo das wenige, was er genoß, so gut es auch diese Leute übrigens mit ihm meinen mochten, ihm doch fast jedesmal so verbittert wurde, daß er sich vor diesem Tage fast mehr, wie vor allen andern fürchtete. Denn an diesem Mittage pflegte seine Wohlthäterinn die Frau F... immer nicht geradezu, sondern nur in gewissen Anspielungen, indem sie zu ihrem Manne sprach, Reisers Betragen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen seine Wohlthäter einzuschärfen, und etwas von Leuten mit einfließen lassen, die sich angewöhnt hätten sehr viel zu essen, und am Ende gar nicht mehr zu sättigen gewesen wären. – Reiser hatte damals, da er in seinem vollen Wachsthum war, würklich sehr guten Appetit, allein mit Zittern steckte er jeden Bissen in den Mund, wenn er dergleichen Anspielungen hörte. Bei der Frau F... geschahe es nun wirklich nicht sowohl aus Geiz oder Neid, daß sie dergleichen Anspielungen machte, sondern aus dem feinen Gefühl von Ordnung, welches dadurch beleidiget wurde, wenn jemand, ihrer Meinung nach, zu viel aß. – Sie pflegte denn auch wohl von Gnadenbrünlein und Gnadenquellen zu reden, die sich verstopften, wenn man nicht mit Mäßigkeit daraus schöpfte.

Die Frau des Hofmusikus, welche ihm am Donnerstage zu essen gab, war zwar dabei etwas rauh in ihrem Betragen, quälte ihn aber doch dadurch lange nicht so, als die Frau F... mit aller ihrer Feinheit. – Am Freitage aber hatte er wieder einen sehr schlimmen Tag, indem er bei Leuten aß, die es ihn nicht durch Anspielungen, sondern auf eine ziemlich grobe Art fühlen ließen, daß sie seine Wohlthäter waren. Sie hatten ihn auch noch als Kind gekannt, und nannten ihn nicht auf eine zärtliche sondern verächtliche Weise bei seinem Vornahmen Anton, da er doch anfieng, sich unter die erwachsenen Leute zu zählen. Kurz diese Leute behandelten ihn so, daß er den ganzen Freitag über mißmüthig und traurig zu seyn pflegte, und zu nichts recht Lust hatte, ohne oft zu wissen worüber, es war aber darüber, daß er den Mittag der erniedrigenden Begegnung dieser Leute ausgesetzt war, deren Wohlthat er sich doch nothwendig wieder gefallen lassen mußte, wenn es ihm nicht, als der unverzeihlichste Stolz sollte ausgelegt werden. – Am Sonnabend aß er denn bei seinem Vetter dem Peruquenmacher, wo er eine Kleinigkeit bezahlte, und mit frohem Herzen aß, und den Sontag wider bei dem Garnisonküster.

Dieß Verzeichniß von Reisers Freitischen, und den Personen, die sie ihm gaben, ist gewiß nicht so unwichtig, wie es manchem vielleicht beim ersten Anblick scheinen mag – dergleichen kleinscheinende Umstände sind es eben, die das Leben ausmachen, und auf die Gemüthsbeschaffenheit eines Menschen den stärksten Einfluß haben. – Es kam bei Reisers Fleiß und seinen Fortschritten, die er an irgend einem Tage thun sollte, sehr viel darauf an, was er für eine Aussicht auf den folgenden Tag hatte, ob er gerade bei dem Schuster S..., oder bei der Frau F..., oder dem Garnisonküster essen mußte. Aus dieser seiner täglichen Situation nun wird sich größtentheils sein nachheriges Betragen erklären lassen, welches sonst sehr oft mit seinem Charakter widersprechend scheinen würde.

Ein großer Vortheil würde es für Reisern gewesen seyn, wenn ihn der Pastor M... wöchentlich einmal hätte bei sich essen lassen. Aber dieser gab ihm statt dessen einen sogenannten Geldtisch so wie auch der Seidensticker; von diesen wenigen Groschen nun mußte Reiser wöchentlich sein Frühstück und Abendbrodt bestreiten. So hatte die Frau F... es angeordnet. Denn was der Prinz hergab, sollte alles für ihn gespart werden. Sein Frühstück bestand also in ein wenig Thee, und einem Stück Brodt, und sein Abendessen in ein wenig Brodt und Butter und Salz. Dann sagte die Frau F... er müsse sich ans Mittagsessen halten, doch aber, gab sie ihm zu verstehen, daß er sich ja hüten müsse, sich zu überessen.

So war nun Reisers Ökonomie eingerichtet, was seinen Unterhalt anbetraf. Aber auch zu seiner Kleidung wurde nicht einmal von dem Gelde, was der Prinz für ihn hergab, etwas genommen, sondern ein alter grober rother Soldatenrock für ihn gekauft, der ihm zurechtgemacht wurde, und womit er nun die öffentliche Schule besuchen sollte, in welcher nun auch der allerärmste besser als er gekleidet war, ein Umstand, der nicht wenig dazu beitrug, gleich anfänglich seinen Muth in etwas niederzuschlagen.

Dazu kam nun noch, daß er das Kommisbrodt, welches der Hauboist F... empfing, hohlen, und unter den Armen durch die Stadt tragen mußte, welches er zwar, wenn es irgend möglich war, in der Dämmerung that, aber es sich doch auf keine Weise durfte merken lassen, daß er sich dieß zu thun schäme, wenn es ihm nicht ebenfalls als ein unverzeihlicher Stolz sollte ausgelegt werden; denn von diesem Brodte wurde ihm selbst wöchentlich eins für ein geringes Geld überlassen, wovon er denn sein Frühstück und seinen Abendtisch bestreiten mußte.

Gegen dieß alles durfte er sich nun nicht im mindesten auflehnen, weil der Pastor M... in die Einsichten der Frau F..., was Reisers Erziehung und die Einrichtung seiner Lebensart an betraf, ein unbegränztes Zutrauen setzte. In derselben Woche machte er auch noch seinen Besuch bei diesen Leuten, und dankte ihnen, daß sie die nähere Aufsicht über Reisern hätten übernehmen wollen, den er nun völlig ihrer Sorgfalt anvertraute. Reiser saß dabei halbtraurig am Ofen, ob er gleich nicht gerne undankbar für die Vorsorge des Pastor M... seyn wollte. Aber er hing nun von diesem Augenblick an, ganz und gar von Leuten ab, bei denen er die wenigen Tage schon in einem so peinlichen Zustande zugebracht hatte. Bei aller dieser anscheinenden Güte, die ihm erwiesen wurde, konnte er sich nie recht freuen, sondern war immer ängstlich und verlegen, weil ihm jede auch die kleinste Unzufriedenheit, die man ihm merken ließ, doppelt kränkend war sobald er bedachte, daß selbst der eigentliche Fleck seines Daseyns, das Obdach, dessen er sich erfreute, bloß von der Güte so sehr empfindlicher und leicht zu beleidigender Personen abhing, als F... und noch weit mehr seine Frau war.

Bei dem allen war ihm nun doch der Gedanke aufmunternd, daß er in der künftigen Woche, die sogenannte hohe Schule zu besuchen anfangen sollte. Das war so lange sein sehnlichster Wunsch gewesen. Wie oft hatte er mit Ehrfurcht, das große Schulgebäude mit der hohen steinern Treppe vor demselben, angestaunt, wenn er über den Marktkirchhof gieng. – Stundenlang stand er oft, ob er etwa durch die Fenster etwas, von dem, was inwendig vorgieng, erblicken könnte. Nun schimmerte von dem großen Katheder in Prima zufälliger Weise ein Theil durch das Fenster – wie mahlte sich seine Phantasie das aus! Wie oft träumte ihm des Nachts von diesem Katheder, und von langen Reihen von Bänken, wo die glücklichen Schüler der Weißheit saßen, in deren Gesellschaft er nun bald sollte aufgenommen werden.

So bestanden von seiner Kindheit auf seine eigentlichen Vergnügungen größtentheils in der Einbildungskraft, und er wurde dadurch einigermaßen für den Mangel der wirklichen Jugendfreuden, die andre in vollem Maße genießen, schadloß gehalten. – Dicht neben der Schule führten zwei lange Gänge nach den nebeneinander gebauten Priesterhäusern. Die machten ihm einen so ehrwürdigen Prospekt, daß das Bild davon nebst dem Schulgebäude Tag und Nacht das herrschende in seiner Seele war – und denn die Benennung, hohe Schule, welche unter gemeinen Leuten im Gebrauch war, und der Ausdruck, hohe Schüler, welchen er ebenfalls oft gehört hatte, machten, daß ihm seine Bestimmung, diese Schule zu besuchen, immer wichtiger und größer vorkam.

Der Zeitpunkt, wo dieß geschehen sollte, war nun da, und mit klopfenden Herzen erwartete er den Augenblick wo ihn der Direktor B... in einen dieser Hörsäle der Weisheit führen würde. Er wurde von dem Direktor geprüft, und tüchtig befunden, in die zweyte Klasse gesetzt zu werden. Die mit einer natürlichen Würde verknüpfte Freundlichkeit, womit ihn dieser Mann zuerst mein lieber Reiser! nannte, ging ihm durch die Seele, und flößte ihm das innigste Zutrauen verbunden mit einer unbegränzten Ehrfurcht gegen den Direktor ein. O was vermag ein Schulmann über die Herzen junger Leute, wenn er gerade so wie der Direktor B... den rechten Ton einer durch Leutseligkeit gemilderten Würde in seinem Betragen zu treffen weiß!

Den Sontag nach der Konfirmation, ging nun Reiser zuerst zum Abendmahl, und suchte nun aufs gewissenhafteste die Lehren in Ausübung zu bringen, welche er sich darüber aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte, als die vorhergehende Prüfung nach dem Buß- und Sündenspiegel, und dann das Hinzutreten zum Altar mit einem freudigen Zittern. – Er suchte sich auf alle Weise in eine solche Art von freudigen Zittern zu versetzen: es wollte ihm aber nicht gelingen, und er machte sich selbst die bittersten Vorwürfe darüber, daß sein Herz so verhärtet war. Endlich fing er vor Kälte an zu zittern, und dieß beruhigte ihn einigermaßen. Allein die himmlische Empfindung und das selige Gefühl, das ihm nun diese Seelenspeise gewähren sollte, alles das empfand er nicht – er schrieb aber die Schuld davon bloß seinem eigenen verstockten Herzen zu, und quälte sich selbst über den Zustand der Gleichgültigkeit, worin er sich fühlte.

Am meisten schmerzte es ihn, daß er nicht recht zur Erkenntniß seines Sündenelendes kommen konnte, welches doch zur Heilsordnung nöthig war. Auch hatte er den Tag vorher in einer auswendig gelernten Beichte im Beichtstuhl bekennen müssen, daß er leider viel und mannigfaltig gesündigt, mit Gedanken, Worten und Werken, mit Unterlassung des Guten und Begehung des Bösen.

Die Sünden nun, deren er sich schuldig glaubte, waren vorzüglich Unterlassungs­sünden. Er betete nicht andächtig gnug, liebte Gott nicht eifrig gnug, fühlte nicht Dankbarkeit gnug gegen seine Wohlthäter, und empfand kein freudiges Zittern, da er zum Abendmahle gieng. – Diß alles ging ihm nun nahe, aber er konnte es doch mit Zwang nicht abhelfen, darum war es ihm in so fern recht lieb, daß ihm für diese Vergehungen von dem Pastor M... die Absolution ertheilet wurde.

Dabei blieb er aber doch immer mit sich selber unzufrieden: denn zu der Gottseligkeit und Frömmigkeit rechnete er vorzüglich die Aufmerksamkeit auf jeden seiner Schritte und Tritte, auf jedes Lächeln, und auf jede Miene, auf jedes Wort, das er sprach, und auf jeden Gedanken, den er dachte. – Diese Aufmerksamkeit mußte nun natürlicher Weise sehr oft unterbrochen werden, und konnte nicht wohl über eine Stunde in einem fortdauren – sobald nun Reiser seine Zerstreuung merkte, ward er unzufrieden mit sich selber, und hielt es am Ende beinahe für unmöglich, ein ordentlich gottseliges und frommes Leben zu führen.

Die Frau F... hielt ihm an dem Tage, da er zum Abendmahl gieng, eine lange Predigt über die bösen Lüste und Begierden, die in diesem Alter zu erwachen pflegten, und wogegen er nun kämpfen müsse. Zum Glück verstand Reiser nicht, was sie eigentlich damit meinte, und wagte es auch nicht, sich genauer darnach zu erkundigen, sondern nahm sich nur fest vor, wenn böse Lüste in ihm erwachen sollten, sie möchten auch seyn von welcher Art sie wollten, ritterlich dagegen anzukämpfen.

Er hatte bei seinem Religionsunterricht auf dem Seminarium zwar schon von allerlei Sünden gehört, wovon er sich nie einen rechten Begriff machen konnte, als von Sodomiterei, stumme Sünden, und dem Laster der Selbstbefleckung, welche alle bei der Erklärung des sechsten Gebots genannt wurden, und die er sich sogar aufgeschrieben hatte. Aber die Nahmen waren auch alles, was er davon wußte; denn zum Glück hatte der Inspektor diese Sünden mit so fürchterlichen Farben gemahlt, daß sich Reiser schon vor der Vorstellung von diesen ungeheuren Sünden selbst fürchtete, und mit seinen Gedanken in das Dunkel, welches sie umhüllte, nicht tiefer einzudringen wagte. – überhaupt waren seine Begriffe von dem Ursprung des Menschen noch sehr dunkel und verworren, ob er gleich nicht mehr glaubte, daß der Storch die Kinder bringe. – Seine Gedanken waren gewiß damals rein; denn ein gewisses Gefühl von Scham, daß ihm natürlich zu seyn schien, war Ursach, daß er weder mit seinen Gedanken über dergleichen Gegenständen verweilte, noch sich mit seinen Mitschülern und Bekannten darüber zu unterreden wagte. Auch kamen ihm seine religiösen Begriffe von Sünde wohl hiebei zu statten. – Es war ihm fürchterlich genug, daß es wirklich dergleichen Laster, die er nur den Nahmen nach kannte, in der Welt gab, geschweige denn, daß er nur einen Gedanken hätte haben sollen, sie näher kennen zu lernen.

Am Montag morgen introducirte ihn nun der Direktor B... in die zweite Klasse des Lyceums, wo der Konrektor und der Kantor unterrichteten. – Der Konrektor war zugleich Prediger, und Reiser hatte ihn oft predigen hören. – Er war es eben, dessen Art sich in seinem Priesterornat zu tragen, Reisern besonders gefiel, so daß er dieselbe mit einem gewissen Auf- und Niederbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen suchte. Auch war der Pastor G..., so hieß er, noch ein sehr junger, der Kantor hingegen war ein alter und etwas hypochondrischer Mann.

In der zweiten Klasse waren schon ziemlich erwachsene junge Leute, und Reiser bildete sich nicht wenig darauf ein, nun ein Sekundaner zu seyn.

Die Lehrstunden nahmen ihren Anfang: der Konrektor lehrte die Theologie, die Geschichte, den lateinischen Stil, und das griechische neue Testament. – Der Kantor den Katechismus, die Geographie, und die lateinische Grammatik. Des Morgens um 7 Uhr fingen die Stunden an, und dauerten bis 10, und des Nachmittags um 1 Uhr fingen sie wieder an, und dauerten bis um 4 Uhr. – Hier mußte nun also Reiser nebst zwanzig bis dreißig andern jungen Leuten, einen großen Theil seines damaligen Lebens zubringen. Es war also gewiß kein unwichtiger Umstand, wie diese Lehrstunden eingerichtet waren.

Alle Morgen früh wurde nach der vorgeschriebenen Ordnung zuerst ein Kapitel aus der Bibel gelesen, wie es jedesmal in der Reihe folgte, es mochte nun so lang oder kurz seyn, wie es wollte. Darauf wurde denn nach einer gewissen Heilsordnung zweimal die Woche eine Art von Theologie docirt, worinn z. B. die opera ad extra, und die opera ad intra vorkamen, die vorzüglich eingeprägt wurden. Unter den erstern wurden nehmlich die Werke verstanden, woran alle drei Personen in der Gottheit Theil nahmen, als die Schöpfung, Erlösung u. s. w. ob sie gleich einer Person vorzüglich zugeschrieben werden; und unter den letztern wurde das verstanden, wodurch sich eine Person von der andern unterschied, und was ihr nur ganz allein zukommt, als die Zeugung des Sohnes vom Vater, das Ausgehen des heiligen Geistes vom Vater und Sohn u. s. w. Reiser hatte diese Unterschiede zwar schon auf dem Seminarium gelernet, aber es freute ihn doch sehr, daß er sie nun auch lateinisch zu benennen wußte. Die opera ad extra und die opera ad intra prägten sich ihm von dem theologischen Unterricht am tiefsten ein.

Zwei Stunden in der Woche trug der Konrektor eine Art von Universalgeschichte nach dem Holberg vor, und der Kantor lehrte die Geographie nach dem Hübner. Das war der ganze wissenschaftliche Unterricht. Alle übrige Zeit wurde auf die Erlernung der lateinischen Sprache verwandt. Diese war es denn auch allein, worinn sich jemand Ruhm und Beifall erwerben konnte. Denn die Ordnung der Plätze richtete sich nur nach der Geschicklichkeit im Lateinischen.

Der Kantor hatte nun die Methode, daß er über eine Anzahl von Regeln aus der großen märkischen Grammatik wöchentlich einen kleinen Aufsatz diktirte, der ins lateinische übersetzt werden mußte, und wo die Ausdrücke so gewählt waren, daß immer gerade die jedesmaligen grammatikalischen Regeln darauf konnten angewandt werden. Wer nun auf die Erklärung derselben am besten Acht gegeben hatte, der konnte auch sein sogenanntes Exercitium am besten machen, und sich dadurch zu einem höhern Platze hinaufarbeiten.

So sonderbar nun auch die um des Lateinischen Willen zusammen gelesenen deutschen Ausdrücke zuweilen klangen, so nützlich war doch im Grunde diese Übung, und solch einen Wetteifer erregte sie. – Denn binnen einem Jahre kam Reiser dadurch so weit, daß er ohne einen einzigen grammatikalischen Fehler Latein schrieb, und sich also in dieser Sprache richtiger, als in der deutschen ausdrückte. Denn im lateinischen wußte er, wo er den Akkusativ und den Dativ setzen mußte. Im Deutschen aber hatte er nie daran gedacht, daß mich z. B. der Akkusativ und mir der Dativ sey, und daß man seine Muttersprache eben so wie das Lateinische auch dekliniren und konjugiren müssen. – Indes faßte er doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe, die er nachher auf seine Muttersprache anwenden konnte. – Er fing allmälig an, sich deutliche Begriffe von dem zu machen, was man Substantivum und Verbum nannte, welche er sonst noch oft verwechselte, wo sie aneinander grenzten, als z. B. gehn, und das Gehen. Weil aber dergleichen Irrthümer in der lateinischen Ausarbeitung immer einen Fehler zu veranlassen pflegten, so wurde er beständig aufmerksamer darauf, und lernte auch die feinern Unterschiede zwischen den Redetheilen und ihren Abänderungen unvermerkt einsehen; so daß er sich nach einiger Zeit zuweilen selbst verwunderte, wie er vor kurzem noch solche auffallende Fehler habe machen können.

Der Kantor pflegte unter jede lateinische Ausarbeitung, nachdem er an den Seiten mit rothen Strichen die Anzahl der Fehler bemerkt hatte, sein vidi (ich habe es durchgesehen) zu setzen. Da nun Reiser dieß vidi unter seinem ersten Exercitium sahe, so glaubte er, es sey diß ein Wort, das er selbst immer ans Ende der Ausarbeitung schreiben müsse, und dessen Auslassung ihm der Kantor mit als einen Fehler angerechnet habe. Er schrieb also mit eigner Hand unter sein zweites Exercitium vidi, worüber der Kantor und sein Sohn, der dabey war, laut auflachten, und ihm erklärten, was es hieße. – Auf einmal sahe nun Reiser seinen Irrthum, und konnte nicht begreifen, wie er nicht selbst auf die richtige Erklärung des vidi gefallen sey, da er doch sonst wohl wußte, was vidi hieß.

Es war ihm, als ob er mit Beschämung aus einer Art von Dummheit erwachte, die ihm angewandelt hatte. Und er wurde auf einige Augenblicke fast eben so niedergeschlagen darüber, als da der Inspektor auf dem Seminarium einst zu ihm sagte: dummer Knabe, indem er glaubte, daß er nicht einmal buchstabiren könne. Eine solche Art von wirklicher oder anscheinender Dummheit bei gewissen Vorfällen rührte zum Theil aus einem Mangel an Gegenwart des Geistes, zum Theil aus einer gewissen Ängstlichkeit oder auch Trägheit her, wodurch die natürliche Kraft des Denkens auf eine Zeitlang an ihrer freien Wirksamkeit gehindert wurde.

Noch eine Hauptlektion waren die Lebensbeschreibungen der griechischen Feldherrn vom Kornelius Nepos, wovon wöchentlich ein Kapitel aus der Lebensbeschreibung irgend eines Feldherrn auswendig mußte hergesagt werden. Diese Gedächtnißübungen wurden Reisern sehr leicht, weil er nicht sowohl die Worte, als die Sachen, sich einzuprägen suchte, welches er allemal des Abends vor dem Schlafengehen that, und des Morgens, wenn er aufwachte, die Ideen weit heller und besser geordnet, als den Abend vorher, in seinem Gedächtniß wiederfand, gleichsam, als ob die Seele während dem Schlafen fortgearbeitet, und das, was sie einmal angefangen, nun während der gänzlichen Ruhe des Körpers, mit Muße vollendet hätte.

Alles was Reiser dem Gedächtniß anvertraute, pflegte er auf die Weise auswendig zu lernen.

Er fing nun auch an, sich mit der Poesie zu beschäftigen, welches er schon in seiner Kindheit gethan hatte, wo denn seine Verse immer die schöne Natur, das Landleben und dergleichen zum Gegenstande zu haben pflegten. Denn seine einsamen Spatziergänge und der Anblick der grünen Wiesen, wenn er etwa einmal vor das Thor kam, war wirklich das einzige, was ihn in seiner Lage in eine poetische Begeisterung versetzen konnte.

Als ein Knabe von zehn Jahren verfertigte er ein paar Strophen, die sich anfingen:

 

In den schön beblümten Auen

Kann man Gottes Güte schauen, u. s. w.

 

welche sein Vater in Musik setzte. Und das Gedicht, das er jetzt hervorbrachte, war eine Einladung auf das Land worinn wenigstens die Worte nicht übel gewählt waren. – Diß kleine Gedicht gab er dem jungen M... durch welchen es in die Hände des Pastor M... und des Direktors kam, die ihren Beyfall darüber bezeigten, so daß Reiser beinahe angefangen hätte, sich für einen Dichter zu halten. Aber der Kantor benahm ihm fürs erste diesen Irrthum, indem er sein Gedicht Zeile vor Zeile mit ihm durchging, und ihn sowohl auf die Fehler gegen das Metrum, als auf den fehlerhaften Ausdruck, und den Mangel des Zusammenhangs der Gedanken aufmerksam machte.

Diese scharfe Kritik des Kantors war für Reisern eine wahre Wohlthat, die er ihm nie genug verdanken kann. Der Beifall, den dieß erste Produkt seiner Muse so unverdienter Weise erhielt, hätte ihm sonst vielleicht auf sein ganzes Leben geschadet.

Demohngeachtet wandelte ihn der furor poeticus noch manchmal an, und weil ihn jetzt wirklich das Vergnügen, dem Studieren obzuliegen, am meisten begeisterte, so wagte er sich an ein neues Gedicht zum Lobe der Wissenschaften, welches sich komisch genug anhob:

 

An euch ihr schönen Wissenschaften,

An euch soll meine Seele haften, u. s. w.

 

Der Kantor lehrte auch lateinische Verse machen, trug die Regeln der Prosodie vor, die er nachher auf Catonis disticha, beim Skandieren derselben anwenden ließ. Reiser fand hieran sehr großes Vergnügen, weil es ihm so gelehrt klang lateinische Verse skandiren zu können, und zu wissen, warum die eine Silbe lang, und die andere kurz ausgesprochen werden mußte; der Kantor schlug mit den Händen den Takt beim Skandiren. Das anzusehen und mitmachen zu können, war ihm denn eine wahre Seelenfreude. – Und als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl durcheinander geworfener lateinischer Wörter, welches Verse gewesen waren, diktirte, damit sie wieder in metrische Ordnung gebracht werden sollten, welch ein Vergnügen für Reisern, da er nun mit wenigen Fehlern, ein paar ordentliche Hexameter wieder herausbrachte, und von dem Kantor einen alten Kurtius zum Prämium erhielt.

Hier herrschte nun gewiß der sogenannte alte Schulschlendrian, und Reiser kam demohngeachtet in einem Jahre so weit, daß er ohne einen grammatikalischen Fehler Latein schreiben, und einen lateinischen Vers richtig skandiren konnte. – Das ganz einfache Mittel hiezu war – Die öftere Wiederhohlung des Alten mit dem Neuen, welches doch die Pädagogen der neuern Zeiten ja in Erwägung ziehen sollten. Eine Sache mag noch so schön vorgetragen seyn, sobald sie nicht öfter wiederhohlt wird, haftet sie schlechterdings nicht in dem jugendlichen Gemüthe. Die Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet, wenn sie sagten: daß die Wiederhohlung die Mutter des Studierens sey.

Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch eine Privatstunde, im deutschen Deklamiren, und im deutschen Stil, worauf sich Reiser immer am meisten freute, weil er Gelegenheit hatte, sich durch Ausarbeitungen hervorzuthun, und sich zugleich vom Katheder öffentlich konnte hören lassen, welches einige Ähnlichkeit mit dem Predigen hatte, das immer der höchste Gegenstand aller seiner Wünsche war.

Außer ihm war nun noch einer, Nahmens I..., der an dieser Übung im Deklamiren ein eben so großes Vergnügen fand. Dieser I... ist nachher einer unsrer ersten Schauspieler und beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden; und Reisers Schicksal hat mit dem seinigen bis auf einen gewissen Zeitpunkt viel ähnliches gehabt. – I... und Reiser zeichneten sich immer in der Deklamationsübung am meisten aus – I... übertraf Reisern weit an lebhaftem Ausdruck der Empfindung – Reiser aber empfand tiefer. – I... dachte weit schneller, und hatte daher Witz und Gegenwart des Geistes, aber keine Geduld, lange über einem Gegenstande auszuhalten. – Reiser schwang sich daher auch in allen übrigen bald über ihn hinauf – Er verlohr allemal gegen I..., sobald es auf Witz und Lebhaftigkeit ankam, aber er gewann immer gegen ihn, sobald es darauf ankam, die eigentliche Kraft des Denkens an irgend einem Gegenstande zu üben – I... konnte sehr lebhaft durch etwas gerührt werden, aber es machte bei ihm keinen so daurenden Eindruck. Er konnte sehr leicht, und wie im Fluge etwas fassen, aber es entwischte ihm gemeiniglich eben so schnell wieder. – I... war zum Schauspieler gebohren. Er hatte schon als ein Knabe von zwölf Jahren, alle seine Minen und Bewegungen in seiner Gewalt – und konnte alle Arten von Lächerlichkeiten in der vollkommensten Nachahmung darstellen. Da war kein Prediger in H... dem er nicht auf das natürlichste nachgepredigt hatte. Dazu wurde denn gemeiniglich die Zwischenzeit, ehe der Konrektor zur Privatstunde kam, angewandt. Jedermann fürchtete sich daher vor I..., weil er jedermann, sobald er nur wollte, lächerlich zu machen wuste. – Reiser liebte ihn dennoch, und hätte schon damals gern nähern Umgang mit ihm gehabt, wenn die Verschiedenheit der Glücksumstände es nicht verhindert hätte. I... s Eltern waren reich und angesehn, und Reiser war ein armer Knabe, der von Wohlthaten lebte, demohngeachtet aber den Gedanken bis in den Tod haßte, sich auf irgend eine Weise Reichen aufzudringen. – Indeß genoß er von seinen reichern und besser gekleideten Mitschülern weit mehr Achtung als er erwartet hatte, welches zum Theil wohl mit daher kommen mochte, weil man wußte, daß ihn der Prinz studieren ließe, und ihn daher schon in einem etwas höhern Lichte betrachtete, als man sonst würde gethan haben. – Dieß brachte ihm auch von seinen Lehrern etwas mehr Aufmerksamkeit und Achtung zu wege.

Ob nun gleich zum Theil schon erwachsene Leute von siebzehn bis achtzehn Jahren in dieser Klasse saßen, so herrschten doch darin noch sehr erniedrigende Strafen. Der Konrektor sowohl als der Kantor theilten Ohrfeigen aus, und bedienten sich zu schärfern Züchtigungen der Peitsche, welche beständig auf dem Katheder lag; auch mußten diejenigen welche etwas verbrochen hatten, manchmal zur Strafe am Katheder knien.

Reisern war der Gedanke schon unerträglich, sich jemals eine solche Strafe von Männern zuzuziehen, welche er als seine Lehrer im hohen Grade liebte und ehrte, und nichts eifriger wünschte, als sich wiederum ihre Liebe und Achtung zu erwerben. Welch eine Wirkung mußte es also auf ihn thun, da er einmal, ehe er sichs versahe, und ganz ohne seine Schuld, das Schicksal einiger seiner Mitschüler, welche wegen eines vorgefallenen Lerms, vom Konrektor mit der Peitsche bestraft wurden, theilen mußte. Gleiche Brüder gleiche Kappen, sagte der Konrektor, da er an ihn kam, und hörte auf keine Entschuldigungen, drohte auch noch dazu, ihn bei dem Pastor M... zu verklagen. Das Gefühl seiner Unschuld beseelte Reisern mit einem edlen Trotze, und er drohte wieder, den Konrektor bei dem Pastor M... zu verklagen, daß er ihn unschuldiger weise auf eine so erniedrigende Art behandelte.

Reiser sagte dieß mit der Stimme der unterdrückten Unschuld, und der Konrektor antwortete ihm kein Wort. Aber von der Zeit an, war auch alles Gefühl von Achtung und Liebe für den Konrektor, wie aus seinem Herzen weggeblasen. Und da der Konrektor nun einmal in seinen Strafen weiter keinen Unterschied machte, so achtete Reiser eine Ohrfeige oder einen Peitschenschlag von ihm eben so wenig, als ob irgend ein unvernünftiges Thier an ihn angerannt wäre. Und weil er nun sahe, daß es gleichviel war, ob er sich die Achtung dieses Lehrers zu erwerben suchte, oder nicht, so hieng er auch nun seiner Neigung nach, und war nicht mehr aus Pflicht, sondern bloß wenn ihn die Sache interessirte aufmerksam. Er pflegte denn oft Stundenlang mit seinem Freunde I... zu plaudern, mit dem er denn zuweilen gesellschaftlich am Katheder knien mußte. I... fand auch hierinn Stoff, seinen Witz zu üben, indem er das Katheder, worauf sich der Konrektor mit den Ellenbogen gestüzt hatte, mit dem Meklenburgischen Wapen, und sich und Reisern mit den beiden Schildhaltern verglich. – I...s Schalkhaftigkeit war durch keine Strafen zu unterdrücken, ausgenommen durch eine, wo er einmal eine ganze Stunde lang mit dem Gesicht gegen den Ofen gekehrt stehen mußte, und also seinen Witz nicht spielen lassen, oder gegen jemand irgend eine Pantomime machen konnte. – Diese Strafe preßte ihm zum erstenmal Thränen aus, und er legte sich im Ernst aufs Bitten, welches er sonst nie that. – So war die Disciplin des Konrektors beschaffen. – Es hatte einmal einer aus Versehen seine Nachtmütze statt des Buchs in die Tasche gestekt, und er ließ ihn mit der Nachtmütze auf dem Kopfe eine Stundelang vor der ganzen Klasse knien, worüber dem I... seinen tausend Spaß hatte, und seinen Nachbarn, die sich über seine Pantomime und seine drollichten Einfälle zuweilen des Lachens nicht enthalten konnte, manche Ohrfeige zuzog.

Was nun diese Disciplin des Konrektors auf das Gemüth und den Charakter seiner Untergebnen für eine Wirkung gethan, was für ein rühmliches Andenken er sich dadurch in den Herzen seiner Schüler gestiftet habe, und was für einen Kranz er sich dadurch erworben habe, mag seinem eigenen Gewissen anheim gestellt seyn. – Wenn er sich denn oft so recht als ein Held gezeigt hatte, so pflegte er wohl zu sagen: ich bin keine Schlafmüze wie andre, und deutete damit, daß es jedermann merken konnte, auf seinen Kollegen, den Kantor, der ohngeachtet seiner hypochondrischen Laune, und einiger ihm anklebenden Pedanterie, ein weit besserer Mann war, als der Konrektor.

Nie hat Reiser von diesem einen Schlag bekommen, ob derselbe gleich sonst eben nicht karg mit Ohrfeigen, und ziemlich freigebig mit der Peitsche war. Aber er sahe doch ein, daß es Reisern im Ernst darum zu thun war, Strafe zu vermeiden, und nun schlug er doch nicht blindlings zu. Bei ihm lernte auch Reiser weit mehr, als bei dem Konrektor, weil er aus Pflicht aufmerksam war, wenn ihn gleich die Sache nicht interessirte. – Und da es ihm gelang, sich durch die lateinischen Ausarbeitungen bis zum ersten Platze hinauf zu arbeiten! wie aufmunternd war ihm nun das Lob des Kantors, und wie eindringend der Zuspruch desselben, daß er sich nun auf diesem Plaze solle zu behaupten suchen. – Nun ertheilte der Kantor immer dem ersten in der Klasse das Amt eines Censors oder Aufsehers über das Betragen der übrigen, und da nun Reiser sich immer auf seinem ersten Plaze behauptete, so gab ihm der Kantor den ehrenvollen Titel eines censor perpetuus oder immerwährenden Aufsehers. Er verwaltete diß Amt mit der größten Gewissenhaftigkeit und Unpartheilichkeit, und sahe es oft mit Wehmuth an, wie die Buben den guten Kantor, der freilich auch nicht immer den rechten Weg der Disciplin einschlug, ärgerten und ihm das Leben sauer machten, so daß derselbe oft in der Betrübniß seines Herzens ausrief, quem dii odere, paedagogum fecere, wen die Götter haßten, den machten sie zum Schulmann. – Für den Kantor hätte Reiser alles aufgeopfert, weil er nie ungerecht gegen ihn gewesen war, obgleich das Betragen desselben sonst auch nicht immer das freundlichste war. – Wie rührend war es Reisern oft, wenn in der Katechismusstunde alles um ihn her lermte und tobte, und der Kantor denn mit Gewalt aufs Buch schlug, und sagte: ich habe Gottes Wort an euch! – Nur Schade daß der gute Mann dergleichen Ausdrücke, die zu rechter Zeit angebracht, ihre Wirkung nicht verfehlen, zu oft anbrachte, und gewisse Gemeinpläze, als Thorheit steckt den Knaben im Herzen, und dergleichen, alle Augenblicke im Munde führte, wodurch man sich denn am Ende so sehr daran gewöhnte, daß niemand mehr darauf achtete, und eben daher entstand die ewige Unruhe in den Lehrstunden des Kantors. – Der Konrektor sprach weniger bei seinen Züchtigungen, darum bewirkten sie mehr Stille und Ordnung.

Da nun Reiser auf eine kurze Zeit die Schule besucht hatte, so kam er auf den Einfall, ins Chor zu gehen; nicht sowohl um Geld zu verdienen, als vielmehr in einen neuen ehrenvollen Stand zu treten, wovon er sich schon als Hutmacherbursche in B... immer so große Begriffe gemacht hatte. –

Seine Phantasie hatte hier wieder Spielraum – Das war ihm alles so himmlisch, so feierlich in die Lobgesänge zur Ehre Gottes öffentlich mit einzustimmen – Der Nahme Chor tönte ihm so angenehm. – Das Lob Gottes in vollen Chören zu singen, war ein Ausdruck, der ihm immer im Sinne schallte. – Er konnte die Zeit kaum abwarten, wo er in diese glänzende Versammlung würde aufgenommen werden.

Einer seiner Mitschüler, der schon lange im Chor gesungen hatte, versicherte ihm zwar, er sey es so satt und überdrüßig, daß er lieber Heute als Morgen davon frei sein möchte – Reiser konnte sich das unmöglich einbilden. Er besuchte mit großem Eifer die Lehrstunde, wo der Kantor Unterricht im Singen ertheilte, und beneidete nun jeden, der eine bessere Stimme besaß, als er.

Nicht weit von H... ist ein Wasserfall, wo er auf Anrathen des Kantors oft Stundenlang hinging, um sich recht auszuschreien, und seine Stimme zu üben. – Allein es wollte mit dem Singen nie recht fort. Denn es fehlte ihm zugleich an dem, was man musikalisches Gehör nennt. Aber das theoretische, was der Kantor bei seinem Unterricht mit einfließen ließ, war ihm desto willkommner, und er machte dem Kantor durch seine Aufmerksamkeit viel Vergnügen.

Reiser empfand nun wirkliche Liebe gegen den Kantor, und machte allenthalben sehr viel Rühmens von ihm, so wie dieser ihn wieder bei den Leuten lobte. – Da fügte es sich einmal, daß Reiser dem Kantor für das gute Zeugniß dankte, das ihm derselbe bei einem seiner Gönner gegeben hatte, und der Kantor erwiederte: Reiser habe ihm ja auch ein gutes Zeugniß gegeben: denn es war ihm wieder zu Ohren gekommen, wie gut Reiser allenthalben von ihm sprach.

Die Freude dieses Augenblicks hätte Reiser um vieles in der Welt nicht gegeben, so angenehm war es ihm, daß sein Lehrer es nun selber wußte, wie sehr er ihn liebte. – Wer ihm das beim ersten Anblick gesagt hätte, dem würde er es nicht geglaubt haben, daß der Kantor einmal so sehr sein Freund sein würde. Denn der Konrektor war erstlich sein Mann; dessen lächelnde freundliche Miene, und glatte Stirne nahmen ihn ein, indes die finstre Miene des Kantors und seine runzelvolle Stirn ihn zurückscheuchten. Ach, was für ein artiger freundlicher Mann ist der Konrektor gegen den alten mürrischen Kantor! pflegte er im Anfang oft zu sagen: aber bei der genauern Bekanntschaft wandte sich das Blatt gar bald um.

Reiser suchte sich auch auf alle Weise in der Achtung des Kantors immer fester zu setzen. Diß ging so weit, daß er auf einem öffentlichen Spatzierplatze, wo der Kantor hinzukommen pflegte, mit einem aufgeschlagenen Buche in der Hand auf und nieder ging, um die Blicke seines Lehrers auf sich zu ziehen, der ihn nun für ein Muster des Fleisses halten sollte, weil er sogar beim Spatziergehen studierte. – Ob nun Reiser gleich an dem Buche, das er laß, wirklich Vergnügen fand, so war doch das Vergnügen, von dem Kantor in dieser Attitüde bemerkt zu werden, noch weit größer, und man siehet auch aus diesem Zuge seinen Hang zur Eitelkeit. Es lag ihm mehr an dem Schein, als an der Sache, obgleich die Sache ihm auch nicht unwichtig war.

Man hatte eine erstaunliche Meinung von seinem Fleiß, und pflegte ihm immer anzurathen, daß er seiner Gesundheit schonen sollte; dieß war ihm äußerst schmeichelhaft, und er ließ die Leute bei dieser Meinung, obgleich sein Fleiß lange nicht so groß war, wie er hätte seyn können, wenn das Drückende seiner Lage, in Ansehung seiner Nahrung und Wohnung ihn nicht oft träge und mißmüthig gemacht hätte.

Denn die unwürdige Behandlung der er zuweilen ausgesetzt war, benahm ihm oft einen großen Theil der Achtung gegen sich selbst, welche schlechterdings zum Fleiß nothwendig ist. – Oft ging er mit traurigem Herzen zur Schule, wenn er aber denn einmal darin war, so vergaß er seines Kummers, und die Schulstunden waren im Grunde noch seine glücklichsten Stunden.

Wenn er aber dann wieder zu Hause kam, und sich manchmal verblümter Weise mußte zu verstehen geben lassen, wie überdrüßig man seiner Gegenwart wäre – dann saß er Stundenlang und getraute sich kaum Athem zu hohlen – er war dann in einem entsetzlichen Zustande – und hätte in der Welt nichts arbeiten können, denn sein Herz war ihm durch diese Begegnung zerrissen. –

So konnten auch die Blicke der Frau des Garnisonküsters, wenn er dort gegessen hatte, ihn auf einige Tage niederschlagen, und ihm den Muth zum Fleiß benehmen.

Sicher wäre Reiser glücklicher und zufriedener und gewiß auch fleißiger gewesen, als er war, hätte man ihn von dem Gelde, das der Prinz für ihn hergab, Salz und Brodt für sich kaufen lassen, als daß man ihn an fremden Tischen sein Brodt essen ließ.

Es war abscheulich, in was für eine Lage er einmal gerieth, da die Frau des Garnisonküsters, über Tische erst anfing von den schlechten Zeiten, und von dem harten Winter, und dann von dem Holzmangel zu reden, und endlich über die Besorgniß in Thränen ausbrach, wo man noch zulezt Brodt herschaffen solle; und da Reiser in der Verlegenheit über diese Reden unversehns ein Stück Brodt an die Erde fallen ließ, ihn mit den Augen einer Furie anblickte, ohne doch etwas zu sagen – Da sich Reiser über diese unwürdige Begegnung der Thränen nicht enthalten konnte, so brach sie gegen ihn loß, warf ihm mit dürren Worten Unhöflichkeit und ungeschicktes Betragen vor, und gab zu verstehen, daß dergleichen Leute, die ihr den Bissen im Munde zu Gift machten, an ihrem Tische nicht willkommen wäre. – Der gute Garnisonküster der Reisern innig bedauerte, aber das Regiment nicht im Hause führte, erbarmte sich seiner, und sagte ihm sogleich den Tisch auf – So beschämt erniedrigt, und herabgewürdigt mußte nun Reiser aus diesem Hause gehen, und durfte es kaum wagen, sich zu Hause davon etwas merken zu lassen, daß er einen Freitisch verlohren habe.

Wenn ihm der Garnisonküster nachher zuweilen auf der Strasse begegnete, drückte er ihm einen halben Gulden in die Hand, um ihn für die Mißgunst und den Geiz seiner Frau schadloß zu halten. Nun gab es wieder eine Art Leute, welche, wenn sie Reisern eine Mahlzeit zu essen gaben, alle Augenblick zu sagen pflegten, wie gern es ihm gegönt sey, und daß er sichs nur recht sollte schmecken lassen, denn für eine Mahlzeit werde es ihm nun doch einmal gerechnet, und dergleichen mehr, welches Reisern nicht weniger verlegen machte, so daß ihm das Essen, statt des Vergnügens was man sonst dabei empfindet, gemeiniglich eine wahre Quaal war – Wie glücklich fühlte er sich, da er am ersten Sonntage, nachdem er den Tisch bei dem Garnisonküster verlohren, und es zu Hause noch nicht hatte sagen wollen, ein Dreier Brodt verzehrte, und dabei einen Spaziergang um den Wall machte.

Es schien als ob sich alles vereinigt habe, Reisern in der Demuth zu üben; ein Glück daß er nicht niederträchtig drüber wurde – dann würde er freilich zufrieden und vergnügter gewesen seyn, aber um alle den edlen Stolz, der den Menschen allein über das Thier erhebt, das nur seinen Hunger zu stillen sucht, wäre es bei ihm gethan gewesen.

Der Stand des geringsten Lehrburschen eines Handwerkers ist ehrenvoller, als der eines jungen Menschen, der um studieren zu können, von Wohlthaten lebt, sobald ihm diese Wohlthaten auf eine herabwürdigende Art erzeigt werden. Fühlt sich ein solcher junger Mensch glücklich, so ist er in Gefahr niederträchtig zu werden, und hat er nicht die Anlage zur Niederträchtigkeit, so wird es ihm wie Reisern gehen; er wird mißmüthig und menschenfeindlich gesinnet werden, wie es Reiser wirklich wurde, denn er fieng schon damals an, in der Einsamkeit sein größtes Vergnügen zu finden.

Einmal schickte ihn die Frau F... sogar mit einem großen Stück Leinwand in des Prinzen Haus, welches dort an die Leute zum Verkauf vorgezeigt werden sollte – Alles Sträuben dagegen würde nichts geholfen haben – denn der Pastor M... hatte einmal der Frau eine unbeschränkte Gewalt über Reisern ertheilet – und jede Weigerung würde ihm als ein unverzeihlicher Stolz ausgelegt worden seyn. – Es würde ihm nicht ins Schild gemahlt werden, pflegte dann die Frau F... wohl zu sagen. – Eben so wenig durfte er sich sträuben, das Brodt zu hohlen, welches der Hauboist vom Regiment bekam, und ob er dies gleich immer in der Dämmerung that, und die abgelegensten Straßen wählte, damit ihn keiner seiner Mitschüler sehen möchte, so bemerkte ihn doch einmal einer derselben zu seinem größten Schrek-ken, welcher aber zum Glück so gut gesinnet war, daß er ihm völlige Verschwiegenheit versprach und hielt, ihm aber doch, wenn sie sich in der Klasse zuweilen verunwilligten, drohete, es ruchtbar zu machen.

Endlich wurde ihm denn doch von dem Gelde des Prinzen ein neues Kleid geschaft, weil sein alter rother Soldatenrock gar nicht mehr halten wollte; aber gleichsam, als wenn es recht eigentlich auf seine Demüthigung abgesehen wäre, wählte man ihm graues Bediententuch zum Kleide – wodurch er wiederum gegen seine Mitschüler fast eben so sonderbar als mit dem rothen Soldatenrock abstach; und das Kleid durfte er anfänglich doch nur bei feierlichen Gelegenheiten, wenn etwa in der Schule Examen war, oder wenn er zum Abendmahl ging, anziehen.

Was ihn aber von allen Demüthigungen die er erlitt am meisten kränkte, und was er der Frau F... nie hat vergessen können, war eine ungerechte Beschuldigung, die ihm bis in die Seele schmerzte, und die er doch durch keine Beweise von sich ablehnen konnte.

Die Frau F..., hatte ein kleines Mädchen von etwa 3 bis 4 Jahren von einer ihrer Anverwandtinnen zu sich genommen. Diesem Kinde dachte sie zu Weihnachten eine überraschende Freude zu machen und hatte zu dem Ende einen Baum mit Lichtern aufgepuzt, und mit Rosinen und Mandeln behangen. Reiser blieb allein in der Stube, während die Frau F... in die Kammer ging, um das Kind zu hohlen. Nun fügte es sich, da sie wieder hereinkam, daß vermuthlich durch die Bewegung der Thüre, der Baum mit allen Lichtern umfiel, und Reiser in demselben Augenblick hinzulief, um ihn aufrecht zu erhalten, da dieß aber nicht gehen wollte, sogleich wieder seine Hand davon abzog, welches nun gerade so aussahe, als ob er sich die ganze Zeit über mit dem Baum beschäftigt habe, und nun, da die Frau F... hereinkam, erschrocken sey, und folglich den Baum habe fahren lassen, der nun wirklich umfiel. In den Gedanken der Frau F... war es nun ausgemacht, daß er von den Baum hatte naschen wollen, und auf die Weise ihr und dem Kinde eine unschuldige Freude verdorben habe.

Diesen entehrenden Verdacht gab sie Reisern mit deutlichen Worten zu verstehen, und wie sollte er ihn von sich abwälzen. Er hatte keinen Zeugen. Und der Anschein war wieder ihn. – Schon die Möglichkeit, daß man einen solchen Verdacht gegen ihn hegen konnte, erniedrigte ihn bei sich selber, er war in einem solchen Zustande, wo man gleichsam zu versinken, oder in einem Augenblick gänzlich vernichtet zu seyn, wünscht.

Ein Zustand, der eine Art von Seelenlähmung hervorzubringen vermag, welche nicht so leicht wieder gehoben werden kann. – Man fühlt sich in einem solchen Augenblick gleichsam wie vernichtet, und gäbe sein Leben darum, sich vor aller Welt verbergen zu können. – Das Selbstzutrauen, welches der moralischen Thätigkeit so nöthig ist, als das Athemhohlen der körperlichen Bewegung erhält einen so gewaltigen Stoß, daß es ihm schwer hält, sich wieder zu erhohlen.

Wenn Reiser nachher irgendwo zugegen war, wo man etwa eine Kleinigkeit suchte, von der man glaubte, daß sie weggenommen sey, so konnte er sich nicht enthalten, roth zu werden, und in Verwirrung zu gerathen, bloß weil er sich die Möglichkeit lebhaft dachte, daß man ihn, ohne es sich geradezu merken lassen zu wollen, für den Thäter halten könnte. – Ein Beweiß, wie sehr man sich irren kann, wenn man oft die Beschämung und Verwirrung eines angeklagten, als ein stillschweigendes Geständniß seines Verbrechens auslegt. – Durch tausend unverdiente Demüthigungen kann jemand am Ende so weit gebracht werden, daß er sich selbst als einen Gegenstand der allgemeinen Verachtung ansieht, und es nicht mehr wagt, die Augen vor jemanden aufzuschlagen – er kann auf die Weise in der größten Unschuld seines Herzens alle die Kennzeichen eines bösen Gewissens an sich bliken lassen, und wehe ihm dann, wenn er einem eingebildeten Menschenkenner, wie es so viele giebt, in die Hände fällt, der nach dem ersten Eindruck den seine Miene auf ihn macht, sogleich seinen Charakter beurtheilt –

Unter allen Empfindungen ist wohl der höchste Grad der Beschämung, worinn jemand versetzt wird, eine der peinigendsten. Mehr als einmal in seinem Leben hat Reiser dieß empfunden, mehr als einmal hat er Augenblike gehabt, wo er gleichsam vor sich selber vernichtet wurde – wenn er z. B. eine Begrüßung, ein Lob, eine Einladung, oder dergleichen auf sich gedeutet hatte, womit er nicht gemeinet war. – Die Beschämung und die Verwirrung worin ein solcher Mißverstand ihn versetzen konnte, war unbeschreiblich. –

Es ist auch ein ganz besonderes Gefühl dabei, wenn man aus Misverstand sich eine Höflichkeit zurechnet, die einem andern zugedacht ist. Eben der Gedanke, daß man zu sehr von sich eingenommen seyn könne, ist es, der so etwas außerordentlich demüthigendes hat. Dazu kömmt das lächerliche Licht, in welchem man zu erscheinen glaubt – Kurz, Reiser hat in seinem Leben nichts Schreklichers empfunden als diesen Zustand der Beschämung, worin ihn oft eine Kleinigkeit versetzen konnte. – Alles andere griff nicht so sein innerstes Wesen, sein eigentliches Selbst an, als grade dieß. In Ansehung dieser Art des Leidens hat er auch das stärkste Mitleid empfunden. Um jemanden eine Beschämung zu ersparen, würde er mehr gethan haben, als um jemanden aus würklichem Unglück retten: denn die Beschämung däuchte ihm das größte Unglück, was einem wiederfahren kann.

Er war einmal bei einem Kaufmann in H... der gemeiniglich statt der Person mit der er sprach einen andern anzusehen pflegte. Dieser bat, indem er Reisern ansahe, einen andern der mit in der Stube war, zum Essen, und da Reiser die Einladung auf sich deutete, und sie höflich ablehnte, so sagte der Kaufmann mit sehr trockner Mine: ich meine ihn ja nicht! – dieß ich meine ihn ja nicht! mit der troknen Mine that eine solche Wirkung auf Reisern, daß er glaubte in die Erde sinken zu müssen, dieß ich meine ihn ja nicht! verfolgte ihn nachher wo er ging und stund, und machte seine Stimme gebrochen und zitternd, wenn er mit Vornehmern reden sollte, sein Stolz konnte dieß nie wieder ganz verwinden.

«Wie kann er glauben, daß man ihn zum Essen bitten sollte?» – So legte Reiser das ich meine ihn ja nicht aus, und er kam sich in dem Augenblick so unbedeutend, so weggeworfen, so nichts vor, daß ihm sein Gesicht, seine Hände, sein ganzes Wesen zur Last war, und er nun die dümmste und albernste Figur machte, so wie er da stand, und zugleich dieß alberne und dumme in seinem Betragen lebhafter und stärker als irgend jemand außer ihm empfand. –

Hätte Reiser irgend jemanden gehabt, der an seinem Schicksal wahren Antheil genommen hätte, so würden ihm dergleichen Begegnungen vielleicht nicht so kränkend gewesen seyn. Aber so war sein Schicksal an die eigentliche Theilnehmung anderer Menschen nur mit so schwachen Fäden geknüpft, daß die anscheinende Ablösung irgend eines solchen Fadens, ihn plözlich das Zerreißen aller übrigen befürchten ließ, und er sich dann in einem Zustande sahe, wo er keines Menschen Aufmerksamkeit auf sich mehr erregte, sondern sich für ein Wesen hielt, auf das weiter gar keine Rücksicht genommen wurde. – Die Scham ist ein so heftiger Affekt, wie irgend einer, und es ist zu verwundern, daß die Folgen desselben nicht zuweilen tödlich sind.

Die Furcht, in einem lächerlichen Lichte zu erscheinen war bei Reisern zuweilen so entsetzlich, daß er alles, selbst sein Leben, würde aufgeopfert haben, um dieß zu vermeiden. – Niemand hat das

 

Infelix paupertas, quia ridiculos miseros facit,

Traurig ist das Loos der Armuth, weil sie die Unglücklichen lächerlich macht,

 

wohl stärker empfunden, als er, dem lächerlich zu werden, das größte Unglück auf der Welt dünkte. – Es giebt eine Art des Lächerlichen, welche ihm noch am erträglichsten war. – Wenn nehmlich Leute bloß der Sonderbarkeit wegen über etwas lachen, daß sie sich selbst nicht nachzuthun getrauen, ohne es deswegen in einem verächtlichen Lichte zu betrachten.

Wenn er z. B. etwa von sich sagen hörte der Reiser ist doch ein sonderbarer Mensch, er geht des Abends ganz im Finstern dreimal um den Wall, und spricht mit Niemand, als mit sich selber, indem er sich die Lektion des Tages wiederhohlt, u. s. w. – so war ihm das gar nicht unangenehm zu hören, es hatte vielmehr etwas Schmeichelhaftes für ihn, auf die Weise in einem gewissen sonderbaren Lichte zu erscheinen. – Aber als I... seinen Vers –

 

An euch ihr schönen Wissenschaften

An euch soll meine Seele haften,

 

lächerlich machte, das war für ihn sehr kränkend und beschämend, und er hätte viel darum gegeben, daß er diesen Vers nicht gemacht hätte.

Nachdem Reiser ein Vierteljahr lang die Singestunden des Kantors besucht hatte, erreichte er nun auch das so sehnlich gewünschte Glück, ins Chor zu gehen, wo er die Altstimme sang. –

Die Freude über seinen neuen Stand eines Chorschülers dauerte einige Wochen, so lange es nehmlich gut Wetter blieb. Er fand ein gar großes Vergnügen an den Arien und Motetten, die er singen hörte, und an den freundschaftlichen Unterredungen mit seinen Mitschülern, während daß sie von einem Hause und einer Straße zur andern giengen.

Ein solches Chor hat viel ähnliches mit einer herumwandernden Truppe Schauspieler, in der man auch Freude und Leid, gutes und schlechtes Wetter u. s. w. auf gewisse Weise mit einander theilt, welches immer ein festeres Aneinanderschließen zu bewirken pflegt.

Am meisten hatte sich Reiser auf den blauen Mantel gefreut, der ins künftige seine Zierde seyn würde – Denn dieser Mantel näherte sich doch schon etwas der priesterlichen Kleidung. – Aber auch diese Hoffnung täuschte ihn sehr; denn die Frau F... ließ, um für ihn zu sparen, aus ein paar alten blauen Schürzen einen Mantel für ihn zusammennähen, womit er unter den übrigen Chorschülern eben keine glänzende Figur machte.

Nun bemerkte Reiser gleich am ersten Tage unter den Chorschülern einen, der sich von den übrigen, ganz besonders auszeichnete. – Man sahe es ihm gleich an, daß er ein Ausländer war, wenn man es auch nicht an seiner Sprache gehört hätte. Denn alle seine Minen und Bewegungen zeigten mehr Lebhaftigkeit und Gewandtheit, als das äußere der steifen und schwerfälligen H...r – Reiser konnte sich immer nicht satt an ihm sehen; und da er ihn nun reden hörte, so konnte er sich nicht enthalten seine wohlgesetzten Ausdrücke, in dem obersächsischen Dialekt zu bewundern; alles was die H...r sagten, kam ihm dagegen plump und abgeschmackt vor. – Nun war der Präfektus im Chore ein alter versoffener Kerl, mit dem sich dieser Ausländer immer am meisten herumzankte, und ihm gemeiniglich sehr treffende und beißende Antworten zu geben pflegte, wenn der Präfektus sich eine Art von Oberherrschaft über ihn anmaßen wollte. Und als dieser unter andern einmal zu ihm sagte, er sey schon zu lange Präfektus, als daß er sich von so einem Gelbschnabel dürfe Anzüglichkeiten sagen lassen, so antwortete der Ausländer, es bringe ihm freilich eben nicht viel Ehre, daß er so ein alter Knabe, und noch immer Präfektus sey – Diese Überlegenheit des Witzes, womit der Ausländer den Präfektus auf einmal niederschlug, machte Reisern noch aufmerksamer auf ihn, und da er sich nach dem Nahmen desselben erkundigte, erfuhr er, daß er Reiser hieße, und aus Erfurt gebürtig sey.

Nun war es Reisern sehr auffallend daß dieser junge Mensch, den er schon so liebgewonnen hatte, gerade mit ihm einerlei Nahmen führte, ohngeachtet er wegen der Entfernung des Geburtsortes schwerlich mit ihm verwandt seyn konnte. – Er hätte gern gleich mit ihm Bekanntschaft gemacht aber er wagte es noch nicht, weil sein Nahmensgenosse ein Primaner und er nur ein Sekundaner war. – Auch fürchtete er sich vor dem Witze desselben, dem er sich nicht gewachsen fühlte, wenn er einmal auf ihn sollte gerichtet werden. Indes fügte sich ihre Bekanntschaft von selber, indem Philipp Reiser auf Anton Reisers stilles und in sich gekehrtes Wesen, eben so wie dieser auf das lebhafte Wesen von jenem, immer aufmerksamer wurde, und sie sich ohngeachtet dieser Verschiedenheit ihrer Charaktere, bald unter der Menge heraus fanden, und Freunde wurden.

Dieser Philipp Reiser war gewiß ein vortreflicher Kopf, der aber auch, durch die Umstände, worin ihn das Schicksal versetzt hat, unterdrückt worden ist. – Nebst einer feinen Empfindung besaß er viel Wiz und Laune, wirkliches musikalisches Talent, und war zugleich ein vorzüglicher mechanischer Kopf – aber er war arm, und dabei im höchsten Grade stolz – ehe er Wohlthaten angenommen hätte, würde er Hunger gelitten haben, welches er auch wirklich öfters that. – Hatte er aber Geld, so war er freigebig und gastfrei wie ein König, – dann schmeckte ihm wohl, was er genoß, wenn er reichlich davon mittheilen konnte – aber er hatte freilich Einnahme und Ausgabe nicht allzugut berechnen gelernt, und hatte daher sehr oft Gelegenheit sich in der großen Kunst des freiwilligen Entbehrens von dem, was man sonst gern hätte, zu üben. – Ohne jemals Anweisung dazu gehabt zu haben, verfertigte er sehr gute Klaviere und Forte piano's, welches ihm zuweilen ansehnliche Einnahme verschafte, die ihm aber freilich bei seiner gar zu großen Freigebigkeit nicht viel halfen. – Dabei hatte er den Kopf beständig voll romanhafter Ideen, und war immer in irgend ein Frauenzimmer sterblich verliebt; wenn er auf diesen Punkt kam, so war es immer, als hörte man einen Liebhaber aus den Ritterzeiten. – Seine Treue in der Freundschaft, seine Begierde, den Nothleidenden zu helfen, und selbst seine Gastfreiheit, kam auf diesen Schlag heraus, und gründete sich zum Theil auf die romanhaften Begriffe, womit seine Phantasie genährt war, obgleich sein gutes Herz der eigentliche Grund davon war – denn nur auf dem Boden eines guten Herzens können dergleichen Auswüchse von romanhaften Tugenden emporkeimen, und Wurzel fassen. In einer eigennützigen Seele, und zusammengeschrumpften Herzen wird die häufigste Romanenlektüre nie dergleichen Wirkungen hervorbringen. –

Man siehet nun leicht ein, warum Philipp und Anton Reiser sich auf halbem Wege begegneten und bei dem nähern Umgange für einander gemacht zu seyn schienen. Der erstere war beinahe zwanzig Jahr alt, da Reiser ihn kennen lernte; die Jahre, die er vor ihm voraus hatte, machten ihn also gewissermaßen zu seinem Führer und Rathgeber, nur Schade, daß in dem Hauptpunkte, was die Ordnung des Lebens betraf, Reiser keinen bessern Führer und Rathgeber fand. – Indes hatte er doch nun den ersten eigentlichen Freund seiner Jugend gefunden, dessen Umgang und Gespräche ihm die Stunden, die er im Chore zubringen mußte, noch einigermaßen erträglich machten.

Denn nun war das schöne Wetter vorbei, und es stellten sich Regen, Schnee und Kälte ein – demohngeachtet mußte das Chor seine gewissen Stunden auf der Straße singen. – O wie zählte Reiser jetzt da er vom Frost erstarrt war, die Minuten, ehe das lästige Singen vorbei war, das ihm sonst eine himmlische Musik in seinen Ohren dünkte.

Den ganzen Mittwoch und Sonnabendnachmittag, und den ganzen Sontag nahm nun allein das Chorsingen weg – denn alle Sontagmorgen mußten die Chorschüler in der Kirche seyn, um vom Chore herunter das Amen zu singen. – Auch des Sonnabendsnachmittags bei der Vorbereitung zum Abendmahle, mußten die jüngern Chorschüler mit dem Kantor ein Lied singen, und einer von ihnen einen Psalm, oben von dem hohen Chore herunter lesen, welches nun für Reisern wieder ein großer Fund war – durch eine solche öffentliche und laute Vorlesung eines Psalms, hielt er sich wieder für alle Beschwerlichkeiten des Chorsingens belohnt. – Er dünkte sich nun schon wie der Pastor P... in B... dazustehen, und mit erschütternder Stimme zu dem versammelten Volke zu reden.

übrigens aber wurde das Chorsingen für ihn bald die unangenehmste Sache von der Welt. Es raubte ihm alle Erhohlungsstunden, die ihm noch übrig waren, und machte, daß er nun keinem einzigen ruhigen Tage in der Woche entgegen sehen konnte. Wie verschwanden die goldnen Träume, die er sich davon gemacht hatte! – und wie gern hätte er sich nun aus dieser Sklaverei wieder loßgekauft, wenn es noch möglich gewesen wäre. – Aber nun war das Chorgeld einmal zu seinen gewöhnlichen Einkünften mit gerechnet, und er durfte gar nicht einmal daran denken, je wieder davon loß zu kommen.

Den Gefährten seiner Sklaverei ging es größtentheils nicht besser, wie ihm, sie waren dieses Lebens eben so überdrüssig. – Und das Leben eines Chorschülers, der sich sein Brodt vor den Thüren ersingen muß, ist auch wirklich ein sehr trauriges Leben. Wenn einer den Muth nicht ganz dabei verliert, so ist das gewiß ein seltner Fall. – Die meisten werden am Ende niederträchtig gesinnet, und verlieren, wenn sie es einmal geworden sind, nie ganz die Spur davon.

Einen sonderbaren Eindruck auf Reisern machte das sogenannte Neujahrsingen, welches drei Tage nacheinander dauert, und wegen der sehr abwechselnden Scenen, die dabei vorfallen, mit einem Zuge auf Abentheuer sehr viel ähnliches hat – Ein Häufchen Chorschüler steht in Schnee und Kälte dicht aneinander gedrängt auf der Straße, bis ein Bote der von Zeit zu Zeit abgeschickt wird, die Nachricht bringt, daß in irgend einem Hause soll gesungen werden. – Dann geht man in das Haus hinein, und wird gemeiniglich in die Stube genöthigt, wo denn erst eine Arie oder Motette, die sich auf die Zeit paßt gesungen wird. – Alsdenn pflegt mancher Hauswirth so höflich zu seyn, und die Chorschüler mit Wein oder Kaffe, und Kuchen zu bewirthen. Diese Aufnahme in einer warmen Stube nach dem man oft lange in der Kälte gestanden hatte, und die Erfrischungen die einem gereicht wurden, waren eine solche Erquickung, und die Mannichfaltigkeit der Gegenstände, indem man an einem Tage wohl zwanzig und mehr verschiedene häußliche Einrichtungen und Familien in ihren Wohnzimmern versammlet sahe, machte einen so angenehmen Eindruck auf die Seele, daß man diese drei Tage über in einer Art von Entzückung und beständigen Erwartung neuer Scenen schwebte, und sich die Beschwerden der Witterung gern gefallen ließ. – Das Singen dauerte bis fast in die Nacht, und die Erleuchtung des Abends machte dann die Scene noch feierlicher – Unter andern wurde auch in einem Hospital für alte Frauen zum Neujahr gesungen, wo sich die Chorschüler mit den alten Müttern in einen Kreis zusammensetzen, und mit gefaltenen Händen singen mußten: Bis hieher hat mich Gott gebracht. u. s. w. – Bei diesem Neujahrsingen schien alles freundschaftlicher gegeneinander zu seyn. Man sahe nicht so sehr auf die Rangordnung, die Primaner sprachen mit den Sekundanern, und eine ungewöhnliche Heiterkeit verbreitete sich über die Gemüther.

An diesem Neujahr überfiel auch Reisern eine erstaunliche Wuth Verse zu machen. – Er schrieb Neujahrwünsche in Versen an seine Eltern, seinen Bruder, die Frau F..., und wer weiß an wen, und sprach darin von Silberbächen, die sich durch Blumen schlängeln, und von sanften Zephirs, und goldnen Tagen, daß es zum bewundern war – sein Vater hatte vorzügliches Vergnügen an dem Silberbach gefunden; seine Mutter aber verwunderte sich, daß er seinen Vater bester Vater nenne, da er doch nur einen Vater habe.

Seine poetische Lektion bestand damals fast in nichts, als Lessings kleinen Schriften, die ihm Philipp Reiser geliehen hatte und die er fast auswendig wußte, so oft hatte er sie durchgelesen. übrigens sieht man leicht, daß er, seit dem er ins Chor ging, zu eignen Arbeiten, die von ihm abhingen, eben nicht viel Zeit übrig behielt. Demohngeachtet hatte er allerlei große Projekte! der Stil im Kornelius Nepos war ihm z. B. nicht erhaben gnug, und er nahm sich vor, die Geschichte der Feldherrn ganz anders einzukleiden; etwa so wie der Daniel in der Löwengrube geschrieben war – dieß sollte denn auch eine Art von Heldengedicht werden.

In einer Privatstunde bei dem Konrektor wurden des Terenz Komödien gelesen, und schon der Gedanke, daß dieser Autor unter die schweren gezählt wird, machte, daß er ihn mit größerm Eifer, als etwa den Phädrus oder Eutropius studirte, und jedes Stück, was in der Schule gelesen wurde, sogleich zu Hause übersetzte. –

Als er nun auf die Weise wirklich in sehr kurzer Zeit starke Fortschritte gethan hatte, besuchte er den alten tauben Mann wieder, der nun weit über hundert Jahr alt, und schon eine Zeitlang kindisch gewesen war, zu aller Verwunderung aber noch ein Jahr vor seinem Tode seinen völligen Verstand wieder erhielt. – Reiser wußte seine Stube am Ende des langen finstern Ganges, und ihm wandelte ein kleiner Schauer an, als er von ferne den scharrenden Gang des alten Mannes hörte, der ihn, da er herein trat, sehr freundlich willkommen hieß, und ihn mit der Hand winkte, daß er ihm etwas aufschreiben solle.

Mit welchem Entzücken schrieb ihm nun Reiser auf, daß er jetzt studiere, und schon den Terenz, und das griechische neue Testament übersetze.

Der Greis ließ sich herab, an Reisers kindischer Freude Theil zu nehmen, und wunderte sich darüber, daß er bereits den Terenz verstünde, wozu doch schon eine Menge von Wörtern gehöre. Am Ende schrieb ihm Reiser um seine Gelehrsamkeit ganz auszukramen, mit griechischen Buchstaben etwas auf – und der alte Mann ermunterte ihn zum fernern Fleiß, und ermahnte ihn, des Gebets nicht zu vergessen, worauf er sich mit ihm auf die Knie nieder warf, und gerade so, wie vor fünf Jahren, da Reiser ihn zum erstenmale sahe, wieder mit ihm betete.

Mit gerührtem Herzen gieng Reiser zu Hause, und nahm sich vor, sich ganz wieder zu Gott zu wenden, das hieß bei ihm, unaufhörlich an Gott zu denken – er erinnerte sich mit Wehmuth des Zustandes, worin er sich als ein Knabe befunden hatte, da er mit Gott Unterredung hielt, und immer voll hoher Erwartung war, was nun für große Dinge, in ihm vorgehen würden. – In diesen Erinnerungen lag eine unbeschreibliche Süßigkeit, denn der Roman, den die frömmelnde Phantasie der gläubigen Seelen mit dem höchsten Wesen spielt, von dem sie sich bald verlassen, und bald wieder angenommen glauben, bald eine Sehnsucht und einen Hunger nach ihm empfinden, und bald wieder in einem Zustande der Trockenheit, und Lere des Herzens sind, hat wirklich etwas erhabnes, und großes, und erhält die Lebensgeister in einer immerwährenden Thätigkeit, so daß auch die Träume des Nachts sich mit überirdischen Dingen beschäftigen, wie denn Reisern einst träumte, daß er in die Gesellschaft der Seeligen aufgenommen war, die sich in crystallnen Strömen badeten – Ein Traum, der oft wieder seine Einbildungskraft entzückt hat.

Reiser liehe sich nun von dem alten Tischer die Guionschen Schriften wieder, und erinnerte sich indem er sie laß, an jene glücklichen Zeiten zurück, wo er seiner Meinung nach auf dem Wege zur Vollkommenheit begriffen war. – Wenn er nun manchmal durch seine äußeren Umstände traurig und mißmüthig gemacht war, und ihm keine Lektüre schmecken wollte, so waren die Bibel und die Lieder der Madam Guion das einzige, wozu er wegen des reizenden Dunkels, das ihm darin herrschte, seine Zuflucht nahm. Ihm schimmerte durch den Schleier des räthselhaften Ausdrucks ein unbekanntes Licht entgegen, das seine erstorbne Phantasie wieder anfrischte – aber mit dem eigentlichen Fromm seyn oder dem beständigen Denken an Gott wollte es demohngeachtet nicht mehr recht fort. – In den Verbindungen worin er jetzt war, bekümmerte man sich eben nicht mehr um seinen Seelenzustand, und er hatte in der Schule und im Chore viel zu viel Zerstreuung, als daß er auch nur eine Woche lang seiner Neigung zum ununterbrochnen In sich gekehrt seyn hätte getreu bleiben können.

Indes besuchte er doch den Greis vor seinem Tode noch verschiedenemale, bis er auch einmal zu ihm gehen wollte, und erfuhr, daß er todt und begraben sey – seine letzten Worte waren gewesen: alles! alles! alles! – diese Worte erinnerte sich Reiser oft mitten im Gebet, oder auch sonst nach einer Pause, in einer Art von Entzückung, von ihm gehört zu haben – Es schien dann zuweilen, als wollte er mit diesen Worten seinen zur Ewigkeit reifen Geist aushauchen, und in dem Augenblick seine sterbliche Hülle abstreifen. – Darum war es Reisern sehr auffallend, da er hörte, daß der alte Mann mit diesen Worten gestorben sey, und doch war es ihm auch, als sey er nicht gestorben, so sehr schien dieser fromme Greis immer schon in einer andern Welt zu leben – Tod und Ewigkeit, waren die letztenmale daß ihn Reiser sprach, fast sein einziger Gedanke. – Es war Reisern diesmal fast nicht anders, als ob der alte Mann ausgezogen sey, da er ihn habe besuchen wollen, und dieß war bei ihm nichts weniger als Gleichgültigkeit, sondern eine innige Vertraulichkeit mit dem Gedanken an den Tod dieses Mannes.

Indes hatte er an dem alten Mann wieder einen Freund seiner Jugend verlohren, dessen Theilnehmung an seinem Schicksale ihm oft Freude gemacht hatte. Er fühlte sich in manchen Stunden, ohne selbst zu wissen warum, verlassner wie sonst. – Die Frau F... wurde der Last, welche ihr sein Aufenthalt bei ihr machte, ebenfalls immer überdrüssiger, und sagte ihm endlich, nachdem sie dreivierteljahre lang Geduld gehabt hatte, die Wohnung auf, mit dem wohlgemeinten Rathe, daß er sich nun nach einem andern Logis umsehen solle. – Indes war der Rektor des Lyceums abgegangen, und der neue Rektor S..., welcher an dessen Stelle gewählt wurde, war ein guter Freund von dem Pastor M..., der nun darauf dachte, Reisern bei diesem Mann ins Haus zu bringen, und ihn im Voraus auf die großen Vortheile aufmerksam machte, welche ihm dadurch erwachsen würden, wenn er das Glück haben sollte, von diesem Manne in sein Haus aufgenommen zu werden. – Also bei dem Rektor sollte nun Reiser ins Haus ziehen – wie sehr schmeichelte dieß seiner Eitelkeit! denn dachte er sich, wenn es ihm glücken sollte, sich bei dem Rektor beliebt zu machen, was für eine glänzende Aussicht sich ihm dann eröfnete, da überdem nun der Rektor sein Lehrer wurde, indem er nach Endigung seines ersten Schuljahres gleich nach Prima versetzt werden sollte, worin der Direktor und der Rektor allein Unterricht gaben.

Im Grunde war es ihm äußerst angenehm, daß ihm die Frau F... die Wohnung aufsagte, weil er es nie hätte wagen dürfen, nur ein Wort davon zu erwähnen, daß er von ihr wegziehen wolle. – Hiezu kam nun noch, daß er die große Erwartung hatte, ein Hausgenosse des Rektors seines künftigen Lehrers zu werden. Allein um diese Zeit hatte sich eine neue Grille in seiner Phantasie zu bilden angefangen, welche auf sein ganzes künftiges Leben einen großen Einfluß gehabt hat.

Ich habe nehmlich schon der Deklamationsübungen erwähnt, welche in Sekunda von dem Konrektor veranstaltet wurden. Dieß hatte für ihn und I... einen so außerordentlichen Reiz, daß alles andre sich dagegen verdunkelte, und Reiser nichts mehr wünschte, als Gelegenheit zu haben, mit mehreren seiner Mitschüler einmal eine Komödie aufzuführen, um sich im Deklamiren hören zu lassen – dieß hatte einen so unendlichen Reiz für ihn, daß er eine Zeitlang Tag und Nacht mit diesem Gedanken umgieng, und selber den Entwurf zu einer Komödie machte, wo zwei Freunde von einander getrennt werden sollten, und darüber untröstlich waren, u. s. w. – Auch fand er in Leydings Handbibliothek, die ihm jemand geliehen hatte, ein rührendes Drama in Versen: der Einsiedler welches er gern mit I... aufführen wollte. – Er wünschte sich denn eine recht affektvolle Rolle, wo er mit dem größten Pathos reden und sich in eine Reihe von Empfindungen versetzen könnte, die er so gern hatte, und sie doch in seiner wirklichen Welt, wo alles so kahl so armselig zuging, nicht haben konnte. – Dieser Wunsch war bei Reisern sehr natürlich; er hatte Gefühle für Freundschaft, für Dankbarkeit, für Großmuth und edle Entschlossenheit, welche alle ungenutzt in ihm schlummerten; denn durch seine äußere Lage schrumpfte sein Herz zusammen. – Was Wunder, daß es sich in einer idealischen Welt wieder zu erweitern, und seinen natürlichen Empfindungen nachzuhängen suchte! – In dem Schauspiel schien er sich gleichsam wieder zu finden, nachdem er sich in seiner wirklichen Welt beinahe verlohren hatte – Darum wurde auch in der Folge seine Freundschaft mit Philipp Reisern beinahe eine theatralische Freundschaft, die oft so weit ging, daß einer für den andern zu sterben entschlossen war. – Nun wurde ihm die Theatergrille so werth, daß die Sucht zu predigen beinahe ganz dadurch aus seiner Seele verdrängt wurde – denn hier fand seine Phantasie einen weit größern Spielraum, weit mehr wirkliches Leben, und Interresse, als in dem ewigen Monolog des Predigers. – Wenn er die Scenen eines Drama, das er entweder gelesen, oder sich selbst in Gedanken entworfen hatte, durchging, so war er das alles nacheinander wirklich, was er vorstellte, er war bald großmüthig, bald dankbar, bald gekränkt und duldend, bald heftig und jedem Angriff muthig entgegenkämpfend.

Dabei war ihm nun die Aussicht auf Prima äußerst glänzend – denn die Primaner des Lyceums in H... hatten wirklich so viele äußere in die Augen fallende Vorzüge wie in wenigen Schulen statt finden mögen. – Sie hielten alle Neujahr bei einer großen Menge Zuschauer einen öffentlichen Aufzug mit Musik und Fackeln, indem sie dem Direktor und dem Rektor ein Vivat brachten. – Am Abend darauf überreichten sie das eine Jahr dem Direktor, und das andere dem Rektor, ein freiwillig zusammengebrachtes Geschenk, das gemeiniglich über hundert Thaler betrug, und wobei derjenige der es überreichte eine kurze lateinische Rede hielt – alsdann wurden sie mit Wein und Kuchen bewirthet, und durften sich die Freiheit herausnehmen, ihrem Lehrer in seiner Behausung ein lauterschallendes Vivat zu rufen.

Fast ein Vierteljahr vorher wurde immer schon von der Anordnung dieses Zuges gesprochen.

Alle Sommer in den Hundstagen wurde von den Primanern öffentlich Komödie gespielt, wo ihnen die Wahl der Stücke, und die Anordnung ebenfalls allein überlassen war – Dieß beschäftigte sie fast den ganzen Sommer über. – Dann fiel im Jenner das Geburtsfest der Königin, und im May das Geburtsfest des Königs ein, wo allemal mit großer Feierlichkeit ein Redeaktus veranstaltet wurde, bei dem der Prinz, die Minister, und fast alle Honoratioren der Stadt erschienen. Die Vorbereitung hiezu nahm nun jedesmal sehr viel Zeit weg – Dazu kamen jährlich noch zwei öffentliche Prüfungen, die auch allemal mit Ferien begleitet waren – Hiedurch gieng freilich viel Zeit verlohren – Indes waren dieß alles doch so viele glänzende Ziele für einen ehrgeizigen Jüngling, welche ihm den Reiz der Schuljahre immer wieder auffrischten, so bald er verlöschen wollte.

Etwa einmal einer der Anführer bei dem Zuge der mit Fackeln zu seyn, oder die lateinische Rede bei Überreichung des Geschenks zu halten, oder eine Hauptrolle in einem der aufgeführten Stücke zu bekommen, oder gar eine Rede an des Königs oder der Königin Geburtstage zu halten, das waren die Wünsche und Aussichten eines Primaners des Lyceums in H... – Hiezu kam der elegante Hörsaal der ersten Klasse, mit dem zierlichgebauten doppelten Katheder von schöngebohnten Nußbaumholz, und vor den Fenstern die grünen Vorhänge, welches alles sich vereinigte, um Reisers Phantasie aufs neue mit reizenden Bilden von seinem künftigen Zustande anzufüllen, und seine Erwartung von dem, was nun mit ihm vorgehen würde, bis auf den höchsten Grad zu spannen. Sogleich nach seinem ersten Schuljahre ein Primaner zu werden, das war ein Glück, welches er sich kaum hätte träumen lassen.

Erfüllt von diesen Hoffnungen und Aussichten, reißte er nun in der Ferienwoche vor Ostern, mit Fuhrleuten, die denselben Weg nahmen, zu seinen Eltern, um ihnen sein Glück zu verkündigen. – Auf dieser Reise, da der Weg größtentheils durch Wald und Heide gieng, nahm seine vorher erwärmte Phantasie einen außerordentlichen Schwung; er entwarf Heldengedichte, Trauerspiele, Romane, und wer weiß was – zuweilen fiel ihm auch der Gedanke ein, sein Leben zu schreiben; der Anfang, den er sich dachte lief aber immer auf den Schlag der Robinsons hinaus, die er gelesen hatte, daß er nehmlich in dem und dem Jahre zu H... von armen doch ehrlichen Eltern gebohren sey, und so sollte es denn weiter fortgehen.

So oft er nachher zu seinen Eltern reißte, es mochte nun zu Fuß oder zu Wagen seyn, war unterwegens seine Einbildungskraft immer am geschäftigsten – ein ganzer Zeitraum seines verfloßnen Lebens stand vor ihm da, so bald er die vier Thürme von H... aus dem Gesicht verlohr – der Gesichtskreis seiner Seele erweiterte sich denn mit dem Gesichtskreis seiner Augen – Er fühlte sich aus dem umschränkten Cirkel seines Daseyns in die große weite Welt versetzt, wo alle wunderbaren Ereignisse, die er je in Romanen, gelesen hatte, möglich waren – daß etwa von jenem Hügel plötzlich sein Vater oder seine Mutter wie aus der Ferne ihm entgegen kommen, und wie er denn freudig auf sie zueilen würde – er glaubte schon den Ton der Stimme seiner Eltern zu hören – und da er nun das erstemal diese Reise that, so empfand er wirklich das reinste Vergnügen der sehnlichen Erwartung, bei seinen Eltern zu seyn: denn was hatte er ihnen nicht für große Dinge zu erzählen!

Da er nun am folgenden Mittage hinkam, bewillkommten ihn seine Eltern und seine beiden Brüder mit herzlicher Freude in ihrer ländlichen Wohnung. Sie hatten einen kleinen Garten hinter dem Hause. Und waren so weit recht gut eingerichtet. Aber mit dem Hausfrieden stand es leider, wie er bald sahe, noch nach wie vor. Er hörte indes von seinem Vater wieder die Zither spielen, und die Lieder der Madam Guion dazu singen. – Sie unterredeten sich nun auch über die Lehren der Mad. Guion, und Reiser der sich in seinem Kopfe schon eine Art von Metaphisik gebildet hatte, die nahe an den Spinozismus grenzte, traf mit seinem Vater oft wunderbar zusammen, wenn sie von dem All der Gottheit und dem Nichts der Kreatur, das die Madame Guion lehrte, sprachen. Sie glaubten sich einander zu verstehen, und Reiser empfand ein unendliches Vergnügen in diesen Unterredungen mit seinem Vater, denn es war ihm schmeichelhaft, daß sich sein Vater, der ihn sonst nur für einen dummen Jungen zu halten schien, nun selbst über dergleichen erhabne Gegenstände mit ihm unterredete. Dann besuchten sie den Prediger und die Honoratioren des Orts, wo Reiser allenthalben mit ins Gespräch gezogen wurde, und sich auch, weil ihm diese Behandlung Selbstzutrauen einflößte, dabei ganz gut nahm. – Die Nachbaren seiner Eltern, und wer sonst hinkam, waren alle aufmerksam auf den Sohn des .. schreibers, den der Prinz in H... studiren ließe – Die reine ungetrübte Freude, die Reiser in diesen wenigen Tagen genoß, verbunden mit den angenehmsten Hoffnungen, ersetzte ihm reichlich allen Kummer, und unverdiente Demüthigungen, die er ein ganzes Jahr hindurch erlitten hatte.

So nahe, wie seine Mutter, nahm doch niemand in der Welt an seinem Schicksal Theil – so oft er sich des Abends zu Bette legte, sprach sie das Gott walte über ihn, und schlug über seine Stirne das Kreuz dazu, wie sie ehemals gethan hatte, damit er sicher schlafen sollte, und kein Abend und kein Morgen verging, wo sie ihn, auch in seiner Abwesenheit nicht mit in ihr Gebet einschloß. – Mit Wemuth nahm Reiser Abschied von seinen Eltern, und da er die Thürme von H... wieder sahe, so beklemten traurige Ahndungen sein Herz.

Den andern Tag nach seiner Zurückkunft wurde er von dem Direktor zu der Klassenversetzung geprüft, und da er aus des Cicero Buche von den Pflichten etwas aus dem lateinischen ins deutsche übersetzen sollte, so fügte es sich daß er in dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, unglücklicherweise ein Blatt mit solcher Ungeschicklichkeit umschlug, daß er es beinahe zerrissen hätte. Durch so etwas konnte nun die Empfindlichkeit des Direktors, der in allem stets die äußerste Delikatesse suchte, gerade am stärksten beleidigt werden. – Reiser verlohr unendlich bei ihm durch diesen Zug von anscheinenden Mangel an feiner Empfindung und feiner Lebensart. Der Direktor verwieß ihm auf eine sehr bittere Art seine Ungeschicklichkeit, so daß Reisers Zutrauen zu dem Direktor, durch die Beschämung, worin er durch diesen bittern Verweiß versetzt wurde, ebenfalls einen gewaltigen Stoß erhielt, wovon es sich nie wieder erhohlen konnte. Das schüchterne Wesen, was Reiser auf diese Veranlassung von nun an in der Gegenwart des Direktors bewieß, diente dazu, ihn bei demselben noch immer mehr herabzusetzen. – Kurz, von einem einzigen zu schnell umgeschlagenen Blatte, in dem Exemplar des Direktors von Ciceros Buche von den Pflichten, schrieben sich größtentheils alle die Leiden her, die Reisern von nun an in seinen Schuljahren bevorstanden, und welche sich vorzüglich auf den Mangel der Achtung des Direktors gründeten, dessen Beifall, woran ihm so viel lag, er zuerst durch das zu schnelle Blattumschlagen verscherzt hatte.

Hiezu kam nun noch, daß die Frau F..., ob er gleich von ihr weg zog, ihm doch sein neues Kleid einschloß, und er mit einem alten Rock, den er noch von dem Hutmacher L... hatte, Prima besuchen mußte, wo er neben sich fast lauter wohlgekleidete junge Leute sahe. Der Rock gab ihm ein lächerliches Ansehn, weil er ihm zu kurz geworden war. Dieß fühlte er selbst, und der Umstand trug viel zu der Schüchternheit in seinem Wesen bei, das er in Prima mehr wie jemals äußerte. – Auch waren der Kantor und der Konrektor äußerst auf ihn aufgebracht, daß er ihnen von seiner Versetzung nach Prima vorher nichts gesagt, und ohne ihren Rath diesen Schritt gethan hätte. Er entschuldigte sich so gut er konnte, damit, daß er es nicht bedacht hätte. Der Kantor verzieh ihm auch bald, aber der Konrektor hat es ihm nie verziehen, sondern es ihn noch lange nachher entgelten lassen. Er machte nehmlich eine starke Forderung an Reisern für die Privatstunden, die dieser bei ihm gehabt hatte, und wovon jedermann glaubte, daß er sie ihm umsonst würde gegeben haben – dieß Geld ließ er Reisern einige Jahre hindurch von seinem Chorgelde abziehen, wenn es dieser oft am nöthigsten brauchte. – Ein Umstand der ihn ebenfalls sehr niederschlug.

Nun bekam er in dem Hause des Rektors zwar eine Stube und Kammer, aber auch weiter nichts, denn der Rektor war selbst noch nicht recht eingerichtet. Reiser hatte noch eine wollene Decke von seinen Eltern, dazu miethete man ihm ein Kopfküßen und Unterbette, um ja so viel, wie möglich zu sparen; wenn es nun des Nachts kalt war, so mußte er seine Kleider zu Hülfe nehmen, um sich hinlänglich zu bedecken. Ein altes Klavier, das er hatte, diente ihm statt eines Tisches, dazu hatte er eine kleine Bank aus dem Auditorium des Rektors, über dem Bette ein kleines Bücherbrett an einem Nagel hängend, und in der Kammer hatte er einen alten Koffer mit ein paar abgetragenen Kleidungsstücken stehen – das war seine ganze häußliche Einrichtung, wobei er sich aber doch um ein großes glücklicher befand, als in der Stube der Frau F..., in welcher sonst weit mehr Bequemlichkeiten waren.

Wenn er nun allein auf seiner Stube war, so befand er sich so weit recht wohl, aber zu dem Rektor konnte er noch kein Zutrauen fassen. Wenn er ihn gleich im Schlafrock und in der Nachtmütze sahe, so schien doch immer ein Nimbus von Ernst und Würde sich um ihn her zu verbreiten, der Reisern in großer Entfernung von ihm hielt – er mußte ihm seine Bibliothek in Ordnung bringen helfen; wenn er denn zuweilen so dicht bei ihm stand, indem er ihm Bücher zureichte, daß er seinen Athem hören konnte, so fühlte er oft einige anschließende Kraft in sich – aber in dem folgenden Augenblick war die Schüchternheit und Verlegenheit wieder da – Demohngeachtet liebte er den Rektor – und sein mit romanhaften Ideen angefüllter Kopf ließ ihn manchmal den Wunsch thun, daß er doch mit dem Rektor auf irgend eine unbewohnte Insel versetzt werden möchte, wo sie durch das Schicksal gleich gemacht, auf einen freundschaftlichen und vertrauten Fuß umgehen könnten.

Der Rektor that alles, um Reisern Muth und Zutrauen einzuflößen; er ließ ihn verschiednemal mit sich allein an seinem Tische speisen, und unterredete sich mit ihm – Reiser hatte damals schon Schriftstellerprojekte: er wollte die alte Acerra Philologika in einen bessern Stil bringen, und der Rektor war so gütig, ihn zu ermuntern, daß er immer dergleichen Projekte für die Zukunft nähren, und sich mit dergleichen Ausarbeitungen beschäftigen solle.

Wenn nun Reiser über so etwas mit dem Rektor sprach, so fehlte es ihm immer an den rechten Ausdrücken, deren er sich bedienen sollte, welches seine Perioden sehr unterbrochen machte. – Denn er schwieg lieber, ehe er das unrechte Wort zu dem Gedanken wählte, den er ausdrücken wollte. – Der Rektor half ihm dann mit vieler Nachsicht zurecht – Er ließ ihn auch zuweilen des Abends zu sich auf die Stube kommen, und sich von ihm vorlesen. –

Reiser erdreistete sich denn auch manchmal Fragen an ihn zu thun: in wie fern z. B. ein Stuhl ein Individuum zu nennen sey, da man ihn doch immer noch wieder theilen könne, welcher Zweifel ihm bei der Logik, die er vom Direktor hörte, aufgefallen war – und der Rektor lößte ihm sehr herablassend seinen Zweifel auf, und lobte ihn dabei wegen seines Nachdenkens über dergleichen Gegenstände; ja er scherzte zuweilen gar mit ihm, und wenn er ihm den Auftrag gab, irgend ein Buch oder sonst etwas zu hohlen, so that er dieß nie in einem befehlenden Tone, sondern bittweise. – So war nun alles so weit recht gut – aber das Blattumschlagen schien nun einmal für Reisern eine unglückliche Sache zu seyn – er mußte einmal für den Rektor geheftete Bücher aufschneiden, und machte das so ungeschickt, daß er mit dem Federmesser tiefe Einschnitte in die Blätter machte, wodurch ein paar Bücher fast ganz verdorben wurden. – Der Rektor wurde darüber sehr böse, und machte ihm den bittern Vorwurf, als ob er aus Bosheit die Einschnitte in die Blätter gemacht habe, um von der Arbeit frei zu seyn. – Das war nun freilich nicht der Fall – der Vorwurf schmerzte Reisern und trug viel dazu bei, seinen allmälig wachsenden Muth wieder niederzuschlagen.

Indes erhohlte er sich doch noch einmal wieder, da ihn der Rektor auf einer kleinen Reise, nach einer benachbarten katholischen Stadt mitnahm, um die Feier des Frohnleichnamsfestes mit anzusehen. – Der Rektor, der Konrektor, der Kantor, und ein paar Kandidaten der Theologie, fuhren auf einem Wagen mit Extrapost, wo Reiser auch ein Plätzchen erhielt – Nun hörte er, diese ehrwürdigen Männer, die durch das Aneinanderschließen, welches gemeiniglich bei einer kleinen Reisegesellschaft statt zu finden pflegt, vertraulich gemacht waren, sehr lebhaft mit einander scherzen; und dieß that eine ganz besondere Wirkung auf Reisern. – Der Nimbus um ihre Köpfe verschwand allmälig, und er sahe an ihnen zum erstenmale Menschen, wie andre Menschen sind – Denn noch nie hatte er eine Gesellschaft von Schwarzröcken zusammengesehen, die sich ohne Zwang mit einander besprachen, und alle das steife zermonienmäßige Wesen, was ihnen sonst von ihrem Stande anklebt, auf eine Zeitlang gegen einander ablegten. Nur der gute Kantor behielt immer ein gewisses steifes Wesen bei, und da unterweges eine große Menge Bettler, die geistliche Lieder absangen, dem Wagen entgegen kamen, schraubte man den Kantor mit diesem Auftritt, indem man ihn wegen dieser schrecklichen Disharmonien, wodurch sein Gehör ganz erschüttert wurde, herzlich bedauerte. – Es war zum erstenmale, daß Reiser sahe, wie sich solche ehrwürdige Männer auch, eben so wie andre Leute, untereinander schrauben könnten. Und diese Erfahrung, die er machte, war ihm sehr nützlich, indem er nun jeden Priester, den er sonst noch immer gewissermaßen als eine Art von übermenschlichem Wesen betrachtete, sich etwa in den Cirkel einer solchen Reisegesellschaft dachte, und ihn denn in seiner Vorstellung, von dem Nimbus, der ihn vorher umgab, mit leichter Mühe entblößte.

Allein er fühlte es demohngeachtet wieder lebhaft, welch ein unbedeutendes Wesen er in dieser Gesellschaft war; und da man alle Merkwürdigkeiten der Klöster, und andre Sachen in der katholischen Stadt besahe, wozu noch eine Anzahl zum Theil auch fremder Personen sich gesellte, so fühlte er, wie es sich immer von selbst verstand, daß er bei allem der letzte war, und daß er dieß noch als eine große Ehre ansehen mußte, die ihm wiederfuhr – dieser Gedanke machte, daß er sich in der Gesellschaft verlegen, albern, und dumm betrug, und dieß verlegene und alberne Betragen fühlte er auch wieder selbst weit stärker, als es vielleicht irgend jemand außer ihm bemerken mochte; darum war er die Zeit über, in welcher er so viel neues zu hören und zu sehen bekam, nichts weniger als glücklich, und wünschte sich wieder auf sein einsames Stübchen, mit der Bank und dem alten Klaviere, und dem Bücherbrett, das über dem Bette am Nagel hing.

Was aber nun vorzüglich anfing, ihm sein Schicksal zu verbittern, war eine neue unverdiente Demüthigung, wozu seine gegenwärtige Lage, die er doch wiederum nicht ändern konnte, die Veranlassung gab.

Als er nehmlich die erstenmale Prima besuchte, so hörte er schon zuweilen hinter sich zischeln, sieh, das ist des Rektors Famulus! – Eine Benennung, mit welcher Reiser den allerniedrigsten Begriff verband; denn er wußte von den Verhältnissen eines Famulus auf der Universität noch nichts. Ihm bezeichnete Famulus, wo möglich noch weniger, als einen Bedienten, der seinem Herren die Schuh puzt – Dabei däuchte es ihm, als ob er allgemein von seinen Mitschülern mit einer Art von Verachtung betrachtet wurde. – Dann dachte er sich in seinem kurzem Rocke, womit er sich immer selbst in einer lächerlichen Gestalt erschien – In Sekunda war er ohngeachtet seiner schlechten Kleidung von seinen Mitschülern noch geachtet worden, wegen der hohen Meinung, die man davon hatte, daß ihn der Prinz studieren ließ. In Prima wußte man dieß zwar auch zum Theil, aber die Idee, daß er beim Rektor Famulus war, schien ihn in aller Augen herabzusetzen. – Nun kam in Prima außerordentlich viel auf den Plaz an, wo man saß: höhere Plätze konnten nur durch langen fortgesetzten Fleiß erlangt werden. Gemeiniglich rückte man alle halbe Jahre nur eine Bank in die Höhe – Die ersten vier Bänke machten den untern, und die letztern drei den obern Cötus aus – Wer nun bei den halbjährigen Versetzungen zurück blieb, für den war dieß eine der größten Erniedrigungen.

Nun hatte Reiser gleich am dritten Morgen, während daß ein Primaner von dem untern Katheder ein geschriebnes Gebet ablaß, da ihm, sein Nachbar etwas sagte, eine lächelnde Miene gemacht, und da er sahe, daß er vom Direktor bemerkt wurde, diese Mine plötzlich in eine ernsthafte zu verwandeln gesucht – Und der Eindruck, welcher noch von dem Blattumschlagen in seiner Seele zurück geblieben war, machte, daß diese plözliche Veränderung seiner Miene, nicht im mindesten auf eine edle, sondern vielmehr höchst mißtrauische, gemeine, und sklavische Furcht verrathende Art geschahe, woraus der Direktor mit einem Blick des Zorns und der Verachtung, den er währendem Gebet auf Reisern warf, seine niedrige, gemeine Denkungsart zu schließen schien. – Ein solcher Blick vom Direktor war schon etwas, das allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen pflegte. – Da nun aber das Gebet vorbei war, so sagte er Reisern ein paar Worte über das Niederträchtige in seiner Mine, welche diesen auf einmal der Verachtung der ganzen Klasse aussetzten, denen die Aussprüche des Direktors Orakel waren.

Reiser getraute sich von nun an nicht mehr, seine Augen zu dem Direktor aufzuschlagen, und mußte sich in den Stunden desselben, wie ein Wesen betrachten, auf das nicht die mindeste Rücksicht genommen ward: denn der Direktor rief ihn niemals auf. – Ein paar junge Leute die nach Reisern in Prima kamen, wurden über ihn gesetzt, und er mußte verschiedene Monathe lang der letzte von allen bleiben. – Der junge R... ein vorzüglicher Kopf, der sich nachher als Mahler berühmt gemacht hat, saß neben Reisern, und schien sich an ihn schließen zu wollen; allein ein Blick des Direktors, womit derselbe ihn ansahe, da er einmal mit Reisern sprach, dämpfte jeden Funken von Achtung, den er gegen Reisern zu haben schien, und machte sein Herz von ihm abgewandt. – Das Betragen des Direktors gegen Reisern war eine Folge von dessen schüchternen und mißtrauischen Wesen, das eine niedrige Seele zu verrathen schien; allein der Direktor erwog nicht, daß eben dieß schüchterne und mißtrauische Wesen wieder eine Folge von seinem ersten Betragen gegen Reisern war.

Dieser war nun einmal in der Achtung seiner Mitschüler gesunken, und jeder nahm sich jetzt heraus zum Ritter an ihm zu werden, jeder wollte seinen Witz an ihm üben, und nahm er es gleich mit einem auf, so waren wieder zwanzig andre, die mit einander wetteiferten, ihn zum Ziel ihres Spottes zu machen; selbst seine Bravour, wenn er sich zuweilen mit denen, die es zu arg machten schlug, wodurch jeder andre sich vielleicht wieder in Achtung gesetzt hätte, wurde lächerlich gemacht – Man zischelte sich nicht mehr in die Ohren: seht da des Rektors Famulus! sondern sobald er des Morgens hereintrat, hieß es: da kömmt der Famulus! und diese Ehrenbenennung schallete ihm aus allen Ecken entgegen. – Es war als ob sich alles verschworen hätte, sich auf ihn zu setzen, und ihn lächerlich zu machen. –

Dieser Zustand wurde ihm eine Hölle – er heulte, tobte, und gerieth in eine Art von Raserei darüber, und auch dieß wurde lächerlich gemacht. – Zuletzt trat dem zuweilen eine Art von Dumpfheit der Empfindung an die Stelle seines bis zur Wuth und Raserei beleidigten Stolzes – er hörte und sahe nicht mehr, was um ihn her vorging, und ließ alles mit sich machen, was man wollte, so daß er in dem Zustande ein würdiger Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu seyn schien.

Was Wunder, wenn er am Ende durch diese fortgesetzte Behandlung würklich niederträchtig gesinnt worden wäre – Aber er fühlte noch immer Kraft genug in sich, in gewissen Stunden, sich ganz aus seiner wirklichen Welt zu versetzen. – Das war es, was ihn aufrecht erhielt – Wenn seine Seele durch tausend Demüthigungen in seiner wirklichen Welt erniedrigt war, so übte er sich wieder in den edlen Gesinnungen der Großmuth, Entschlossenheit, Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit, so oft er irgend einen Roman, oder heroisches Drama durchlaß oder durchdachte. – Oft träumte er sich auf die Weise über allen Kummer der Erde hinaus, in heitre Scenen hin, wenn er vom Frost erstarrt, im Chore sang, und verphantasierte so manche Stunde, wo denn gewisse Melodien, die er hörte und mitsang, seinen Traum oft fortpflanzen halfen. – Nichts klang ihm z. B. rührender und erhabener, als wenn der Präfektus anhub zu singen:

 

Hylo schöne Sonne

Deiner Strahlen Wonne

In den tiefen Flor –

 

Das Hylo allein schon versetzte ihn in höhere Regionen, und gab seiner Einbildungskraft allemal einen außerordentlichen Schwung, weil er es für irgend einen orientalischen Ausdruck hielt, den er nicht verstand, und eben deswegen einen so erhabnen Sinn, als er nur wollte hineinlegen konnte: bis er einmal den geschriebenen Text unter den Noten sahe, und fand daß es hieß

 

Hüll' o schöne Sonne, u. s. w.

 

Diese Worte sang der Präfektus nach seiner thüringischen Mundart immer: Hylo schöne Sonne – Und nun war auf einmal das ganze Zauberwerk verschwunden, welches Reisern, so manchen frohen Augenblick gemacht hatte. – Eben so war es ihm immer sehr rührend, wenn gesungen wurde: Du verdeckest sie in den Hütten, oder lieg ich nur in deiner Hut, o so schlaf ich sanft und gut. –

Er wiegte sich oft so sehr in die süßen Empfindungen von dem Schutz eines höhern Wesens ein, daß er Regen, und Frost und Schnee vergaß, und sich in der ihn umgebenden Luft, wie in einem Bette sanft zu ruhen schien.

Allein von außen her schien sich alles zu vereinigen, um ihn zu demüthigen, und niederzubeugen.

Da es Sommer wurde verreißte der Rektor auf einige Wochen, und er blieb nun während der Zeit allein in dessen Hause zurück, wo er die Zeit zu Hause ziemlich vergnügt zubrachte, indem er sich aus der Bibliothek des Rektors einiger Bücher zum Lesen bediente, und unter andern auf Moses Mendelsohns Schriften, und die Litteraturbriefe verfiel, woraus er sich damals zuerst Exzerpte machte. –

Insbesondre zog er sich alles aus, was das Theater angieng, denn diese Idee war jetzt schon die herschende in seinem Kopfe, und gleichsam schon der Keim zu allen seinen künftigen Wiederwärtigkeiten.

Durch das Deklamieren in Sekunda war sie zuerst lebhaft in ihm erwacht, und hatte die Phantasie des Predigens allmälig aus seinem Kopf verdrängt – der Dialog auf dem Theater bekam mehr Reitze für ihn, als der immerwährende Monolog auf der Kanzel – Und dann konnte er auf dem Theater alles seyn, wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte – und was er doch so oft zu seyn wünschte – großmüthig, wohlthätig, edel, standhaft, über alles Demüthigende und Erniedrigende erhaben – wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu seyn schienen, und die er doch stets entbehren mußte, nun einmal durch ein kurzes täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen –

Das war es ohngefähr, was ihm die Idee vom Theater schon damals so reizend machte – Er fand sich hier gleichsam mit allen seinen Empfindungen und Gesinnungen wider, welche in die wirkliche Welt nicht paßten – Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt, als die wirkliche Welt, die ihn umgab.

Nun kamen die Sommerferien heran, und die Primaner führten, wie sie alle Jahr zu thun pflegten, öffentlich verschiedene Komödien auf – Reiser konnte bei der allgemeinen Verachtung der er als ein sogenannter Famulus des Rektors ausgesetzt war, sich nicht die mindeste Hoffnung machen, eine Rolle zu erhalten; ja er konnte nicht einmal von irgend einem der Mitschüler ein Billet erhalten, um zuzusehen. Dieß schlug ihn mehr, als alles bisherige nieder – bis er auf den Einfall kam, mit zwei bis dreien seiner Mitschüler, welche auch keine Rollen hatten, gleichsam eine Parthie der Mißvergnügten auszumachen, und auf deren Wohnstube bei einer kleinen Anzahl Zuschauer, eine Komödie besonders aufzuführen. –

Hiezu wurde denn Philotas gewählt, wo Reiser einem andren, der die Rolle des Philotas schlecht machte, sie mit Geld abkaufte, und also nun den Philotas spielte.

Nun war er in seinem Elemente – Er konnte einen ganzen Abend lang, großmüthig, standhaft, und edel seyn, – die Stunden, wo er sich zu dieser Rolle übte, und der Abend, wo er sie spielte, waren von den seligsten seines Lebens – obgleich das Theater nur ein schlechtes Zimmer mit weißen Wänden, und das Parterre eine Kammer war, die daran stieß, und wo man, statt der ausgehobenen Thüre, eine wollene Decke angebracht hatte, die zum Vorhang dienen mußte; und obgleich das ganze Auditorium, nur aus dem Wirth des Hauses, der ein Töpfer war, nebst dessen Frau und seinen Gesellen bestand, und die ganze Erleuchtung nur mit Pfenniglichtern bewerkstelligt wurde, die auf kleinen an die Wand geklebten Stücken von nassen Leimen brannten. –

Zum Nachspiele wurde aus Millers historisch-moralischen Schilderungen der sterbende Sokrates gegeben, worin Reiser nur einen Freund des Sokrates, und der eine von seinen Mitschülern Nahmens G... den sterbenden Sokrates selbst machte, welcher denn ordentlich den Giftbecher leerte, und zuletzt unter Zuckungen auf einem Bette, daß in die Stube gesetzt war, verschied. –

Dieß letzte Nachspiel war es nun, was Reisern nachher fast seine ganzen Schuljahre verbittert hat. –

Die andren Primaner hatten nehmlich erfahren, daß außer der ihrigen, von denen, welchen sie keine Rollen gegeben hatten, noch besonders eine Komödie aufgeführt worden sey – sie sahen dieß als einen Eingriff in ihre Rechte an, und als ob es gleichsam aus Trotz und Verachtung geschehen sey. –

Sie suchten sich für diese unverzeihliche Beleidigung, wofür sie es hielten, auf alle Weise zu rächen, und von der Zeit an durfte von den vieren, welche den Philotas und den sterbenden Sokrates aufgeführt hatten, keiner des Abends sicher auf der Straße gehen – Diese viere waren von der Zeit an ein Gegenstand des Hasses, der Verachtung, und des Spottes, welcher Reisern gerade am meisten traf; denn die andern besuchten die Schulstunden selten – Gegen Reisern hatte man schon vorher nichts als Verachtung bezeigt, die außer einer Art von unerklärbarer allgemeiner Antipathie gegen ihn, ihren Grund vorzüglich, in seiner erniedrigenden oder wenigstens für erniedrigend gehaltenen Situation, seiner blöden Miene, und seinem kurzen Rock haben mochte; zu dieser Verachtung gesellte sich nun jetzt noch eine allgemeine Erbitterung gegen ihn, welche den Spott, womit man ihn überhäufte, so beißend, wie möglich zu machen suchte –

Und ob nun gleich nicht er, sondern G... die Rolle des sterbenden Sokrates in dem Nachspiel gemacht hatte; so hies er doch von nun an mit einem allgemeinen Spottnahmen der sterbende Sokrates, und verlohr diesen beinahe nicht eher, bis diese ganze Generation nach und nach die Schule verlassen hatte; noch ein Jahr vorher, ehe er selbst die Schule verließ, war er eine lange Zeit kränklich gewesen, und gar nicht aus dem Hause gekommen, als er nun wieder einer Komödie zusehen wollte, welche die Primaner damals aufführten, ließ man ihn zwar herein, aber man sahe ihn mit einem verächtlichen, hönischen Blick an, und sagte: da ist der sterbende Sokrates; so daß Reiser gleich umkehrte, und traurig wieder zu Hause gieng. –

Sonst pflegt doch immer bei den Menschen eine gewisse Gutmüthigkeit zu herrschen, daß sie nur denjenigen zum Gegenstande ihres Spottes machen, der gewissermaßen unempfindlich dagegen ist; sehen sie hingegen, daß einer durch den Spott wirklich beleidigt und gekränkt wird, so treiben sie's wenigstens nicht unaufhörlich, sondern das Mitleid gewinnt doch endlich über die Spottsucht die Oberhand.

Aber das war bei Reisern der Fall nicht – seine Gestalt verfiel von Tage zu Tage, er wankte nur noch wie ein Schatten umher; es war ihm beinahe alles gleichgültig; sein Muth war gelähmt – wo er konnte, suchte er die Einsamkeit – aber das alles erweckte auch kein Fünkchen Mitleid gegen ihn – So sehr waren aller Gemüther mit Haß und Verachtung gegen ihn erfüllt. –

Außer ihm war noch ein gewisser T... ein Gegenstand des Spottes, der zum Theil durch seine stotternde Sprache Veranlassung dazu gab. – Dieser aber schüttete den Spott ab, wie das Thier mit der unempfindlichen Haut die Schläge. – Indem man seiner spottete, so rechtfertigte man sich selbst damit, daß ihn der Spott nicht kränkte – Bei Reisern nahm man darauf keine Rücksicht – dieß erbitterte endlich sein Herz, und machte ihn zum offenbaren Menschenfeinde.

Wo sollte nun wohl bei ihm ein rühmlicher Wetteifer, Fleiß und Lust zum eigentlichen Studiren herkommen? – Er wurde ja ganz aus der Reihe herausgedrängt – er stand einsam und verlassen da – und suchte nur das, wodurch er sich immer noch mehr absondern, und in sich selbst zurückziehen konnte; alles, was er für sich allein auf der Stube arbeitete, laß, und dachte, machte ihm Vergnügen, aber zu allem was er in den Schulstunden mit andern gemeinschaftlich arbeiten sollte, war er träge und verdrossen; es war ihm immer, als ob er gar nicht dazu gehörte –

Das war nun die schöne Erfüllung seiner Träume, von langen Reihen von Bänken, auf denen die Schüler der Weisheit saßen, unter deren Zahl er sich mit Entzücken dachte, und mit denen er einst um den Preiß zu wetteifern hoffte. –

Der Rektor, bei dem er wohnte, kam nun auch von seiner Reise wieder zurück, und hatte seine Mutter mitgebracht, die seine Wirthschaft auf das genaueste einzurichten suchte. – Es wurde Winter, und man dachte nicht daran, Reisers Stube zu heizen – er stand erst die bitterste Kälte aus, und glaubte, man würde doch endlich auch an ihn denken – bis er hörte, daß er sich bei Tage in der Gesindestube mit aufhalten sollte. –

Nun fing er an, sich um seine äußern Verhältnisse gar nicht mehr zu bekümmern. – Von seinen Lehrern sowohl als von seinen Mitschülern verachtet, und hindangesetzt – und wegen seines immerwährenden Mißmuths und menschenscheuen Wesens bei niemand beliebt, gab er sich gleichsam selber in Rücksicht der menschlichen Gesellschaft auf – und suchte sich nun vollends ganz in sich zurück zu ziehen.

Er ging zu einem Antiquarius und hohlte sich einen Roman, eine Komödie nach der andern, und fieng nun mit einer Art von Wuth an, zu lesen – Alles Geld, was er sich vom Munde absparen konnte, wandte er an, um Bücher zum lesen dafür zu leihen; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte, und ihm ohne jedesmalige baare Bezahlung Bücher zum Lesen liehe, so hatte sich Reiser, ehe er es merkte tief in Schulden hineingelesen, die so klein sie seyn mochten, damals für ihn unerschwinglich waren.

Er suchte diese Schuld zum Theil durch den Verkauf seiner angeschaften Schulbücher zu tilgen, die ihm der Antiquarius für ein Spottgeld abnahm – und ihm dafür aufs neue Bücher zum Lesen lieh, bis er wieder in neue Schulden gerieth, und denn wieder ängstlich auf ertilgung derselben denken mußte.

Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfniß geworden, wie es den Morgenländern das Opium seyn mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen – Wenn es ihm an einem Buche fehlte, so hätte er seinen Rock gegen den Kittel eines Bettlers vertauscht, um nur eins zu bekommen – Diese Begierde wußte der Antiquarius wohl zu nutzen, der ihm nach und nach, alle seine Bücher ablockte, und sie oft in seiner Gegenwart sechsmal so theuer wieder verkaufte, als er sie ihm abgekauft hatte.

Es war unter diesen Umständen keinem zu verdenken, der Reisern für einen lüderlichen aus der Art geschlagnen jungen Menschen hielt, welcher seine Schulbücher verkaufte, statt seine Kenntnisse zu vermehren, und den Unterricht seiner Lehrer zu nutzen, nichts als Romane und Komödien laß – und dabei sein äußeres ganz vernachlässigte; denn es war sehr natürlich, daß Reiser keine Lust zu seinem Körper hatte, da er doch niemanden in der Welt gefiel – und dann wurde auch alle das Geld, was die Wäscherinn und der Schneider hätten bekommen sollen, dem Bücher-Antiquarius hingebracht – denn das Bedürfniß zu Lesen gieng bei ihm Essen und Trinken und Kleidung vor, wie er denn wirklich eines Abends den Ugolino laß, nachdem er den ganzen Tag nicht das mindeste genossen hatte, denn seinen Freitisch hatte er über dem Lesen versäumt, und für das Geld, was zum Abendbrot bestimmt war, hatte er sich den Ugolino geliehen, und ein Licht gekauft, bei welchem er in seiner kalten Stube, in eine wollene Decke eingehüllt, die halbe Nacht aufsaß, und die Hungerscenen recht lebhaft mit empfinden konnte. –

Indes waren diese Stunden noch die glücklichsten, welche er gleichsam aus dem Gewirre der übrigen herausriß – seine Denkkraft war vollkommen wie berauscht – er vergaß sich und die Welt. –

Er laß auf die Weise nach der Reihe die zwölf oder vierzehn Bände durch, welche damals vom deutschen Theater heraus waren – und weil er Yoriks empfindsame Reisen mit großem Vergnügen zwei bis dreimal durchgelesen hatte, so lieh' er sich auch von dem Antiquarius die empfindsamen Reisen durch Deutschland von S... –

Nun hatte er damals schon angefangen, sich die Titel der Bücher, welche er gelesen hatte, in einem dazu bestimmten Buche niederzuschreiben, und sein Urtheil dabei zu setzen, das mehrmalen ziemlich richtig ausfiel; wie er denn z. B. bei die empfindsame Reisen durch Deutschland von S... das Urtheil schrieb: ein Exerzitium extemporaneum; weil der Verfasser selbst gestand, daß er alle die verschiedenen Sachen in diesem dicken Buche bloß zusammengeschrieben habe, damit man urtheilen solle, zu welchem Fach in der Schriftstellerei er sich wohl am besten schicken würde – Der Verfasser dieser empfindsamen Reisen hat nachher dieß Exercitium extemporaneum durch seinen Spitzbart hinlänglich wieder gut gemacht. –

Aber nicht leicht hat Reisern bei irgend einem Buche die Zeit, welche er auf das Lesen desselben gewandt hatte, mehr gereut, als bei diesen empfindsamen Reisen. –

So lernte er nun von selbst allmälig das Mittelmäßige und Schlechte von dem Guten immer besser unterscheiden. –

Bei allem aber, was er laß, war und blieb nun die Idee vom Theater immer bei ihm die herrschende – in der dramatischen Welt lebte und webte er – da vergoß er oft Thränen, indem er laß, und ließ sich wechselsweise bald in heftige, tobende Leidenschaft, des Zorns, der Wuth und der Rache, und bald wieder in die sanften Empfindungen des großmüthigen Verzeihens, des obsiegenden Wohlwollens, und des überströmenden Mitleids versetzen. –

Seine ganze äußere Lage, und seine Verhältnisse in der wirklichen Welt waren ihm so verhaßt, daß er die Augen davor zuzuschließen suchte – Der Rektor rief ihn im Hause bei seinem Nahmen, wie man einen Bedienten ruft; und einmal mußte er einen seiner Mitschüler, der ein Sohn eines Freundes vom Rektor war, bei demselben zum Essen bitten; und während, daß dieser des Abends bei dem Rektor speißte, mußte Reiser Wein holen, und in der Gesindestube seyn, die gleich neben der Stube war, wo gespeißt wurde, und wo er hören konnte, wie sein Mitschüler sich mit dem Rektor unterhielt, während daß er bei der Magd in der Stube saß.

Der Rektor gab verschiedene Privatstunden – wenn er nun etwa eine davon nicht halten konnte, so mußte Reiser bei seinen Mitschülern mit denen er doch auch an diesem Unterricht Theil nahm, herumgehen, und ihnen die Privatstunde absagen, welches den Übermuth derselben gegen ihn noch vermehrte.

Diese Zurücksetzung hatte ihren guten Grund in seinem Betragen – er war untheilnehmend an allem, was außer ihm vorging, und zu jedem Geschäft, was ihn aus seiner Ideenwelt herauszog, träge und verdrossen – Was Wunder, da er an nichts Theil nahm, daß man auch wieder an ihm nicht Theil nahm, sondern ihn verachtete, hindansetzte und vergaß.

Allein man erwog nicht, daß eben dieß Betragen, weswegen man ihn zurück setzte, selbst eine Folge von vorhergegangner Zurücksetzung war – Diese Zurücksetzung, welche in einer Reihe von zufälligen Umständen gegründet war, hatte den Anfang zu seinem Betragen, und nicht sein Betragen, wie man glaubte, den Anfang zur Zurückksetzung gemacht.

Möchte dieß alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer, und in ihren Urtheilen über die Entwickelung der Charaktere junger Leute behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten, und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urtheil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn in plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen schuld war.

Anton Reisers Schicksal schien es nun einmal zu seyn, Wohlthaten zu seiner Qual zu empfangen – Es war Wohlthat, daß er ein Jahrlang bei der Frau F... im Hause war, und in welcher peinlichen und drückenden Lage brachte er dieses Jahr zu! – Es war Wohlthat, daß er bei dem Rektor im Hause war, nur was für unzählige Demüthigungen und Verachtung von seinen Mitschülern zog ihm dieser ihm so reizend geschilderte Aufenthalt zu! –

Dem äußern Anschein nach konnte nun auch von Reisern niemand als schlecht urtheilen – und der Rektor sagte selbst zum Pastor M... es würde höchstens einmal ein Dorfschulmeister aus ihm werden. – Dieß hielt der Pastor M... nachher Reisern wieder vor, und sein Muth wurde durch dieß Urtheil des Rektors über ihn, dem er damals noch nicht viel Selbstgefühl entgegen setzen konnte, noch mehr niedergeschlagen.

Weil nun der Rektor sicher zu glauben schien, daß aus Reisern doch nie etwas würde, so brauchte er ihn indes, wozu er noch zu brauchen war, nehmlich zu allerlei kleinen Diensten, die er ihn in und außer dem Hause verrichten ließ – und Reiser wurde nun im Grunde völlig wie ein Domestique betrachtet, ob er gleich ein Primaner hieß.

Einmal genoß er denn doch noch die Vorrechte eines Primaners, da er von dem Chorgelde, was er erhielt, seinen Theil zum Neujahrgeschenke für den Rektor mit hergab, und auch dem Aufzuge mit Fackeln beiwohnte, da dem Direktor und dem Rektor, nach hergebrachter Weise zum Neujahr eine Musik gebracht, und ein Vivat gerufen wurde. –

Ob er gleich bei diesem Zuge der letzte oder einer der letzten in der Ordnung war, so erhob es doch seinen Muth außerordentlich wieder, da er sich ohngeachtet der vielen Herabwürdigungen und Demüthigungen, die er erfahren hatte, doch hier gleichsam wieder in Reihe und Glied mit den übrigen stehen sahe, einen Degen, nebst einer Fackel tragen, und das Vivat mit rufen durfte.

Die Musik, die Zuschauer, die Erleuchtung von den Fackeln, die Anführer mit Federhüten und entblößten Degen – das alles beseelte ihn wieder mit neuem Muth, da er sich in diesem glänzenden Aufzuge mit befand –

Und da er am andern Tage mit unter der Zahl der Primaner stand, und dem Rektor mit einer lateinischen Anrede an ihn, das Neujahrsgeschenk, wozu Reiser doch auch seinen Theil beigetragen hatte, auf einem silbernen Teller überreicht wurde; so fühlte er sich einmal mit einigem Wohlgefallen wieder in der wirklichen Welt – Er sahe sich doch hier nicht ganz ausgeschlossen und verdrängt – Allein wie sehr verbitterte ihm der Haß und Übermuth seiner Mitschüler auch diese kleine Aufmunterung wieder! –

Der Rektor bewirthete die Primaner, welche ihm das Geschenk gebracht hatten, mit Wein und Kuchen. – Diese tranken zu wiederhohlten malen seine Gesundheit, wobei sie denn am Ende, da ihnen der Wein in die Köpfe stieg, ziemlich laut wurden – Reiser trank einige Gläser Wein, ohne schlimme Folgen zu besorgen – allein die gänzliche Ungewohnheit des Weintrinkens machte, daß ihn ein paar Gläser schon etwas berauschten; nun legten es seine edeldenckenden Mitschüler darauf an, ihn gänzlich betrunken zu machen,welches ihnen theils durch List und theils durch Drohungen gelang, so daß Reiser allerlei verwirrtes Zeug redete, und am Ende zu Bette gebracht werden mußte –

War nun Reiser vorher schon in dem Zutrauen und der Achtung aller derer, die ihn kannten, gesunken, so gab dieser Vorfall seinem guten Kredit, nun vollends den letzten Stoß – Vorher war er schon ein träger, unordentlicher, und unfleißiger; nun war er auch ein unmäßiger, und schlechter Mensch, weil er in dem Hause seines Lehrers, der zugleich sein Wohlthäter war, durch sein unanständiges Betragen, zugleich das undankbarste Herz verrathen hatte.

Alle diese Folgen sahe Reiser dunkel voraus, da er am andern Morgen erwachte, und indem er sich anzog, machte er sich schon auf Bitte und Entschuldigung bei dem Rektor wegen seines gestrigen Betragens gefaßt –

Er hatte seine Anrede recht gut ausstudirt, und versicherte unter andern, daß er diesen Fleken auf alle Weise wieder würde auszutilgen suchen, worauf ihm denn der Rektor eben nicht sehr tröstlich antworte, daß die nachtheiligen Folgen von diesem Vorfall, wenn er bekannt würde, wohl schwerlich zu verhüten seyn würden.

Der Rektor hatte darin sehr Recht – denn der Vorfall wurde bald bekannt, und es hieß nun: wie! der junge Mensch lebt von Wohlthaten, selbst der Prinz wendet so viel an ihn, und da er in dem Hause seines Lehrers, seines Wohlthäters, der ihm Obdach giebt, gastfreundlich bewirthet wird, beträgt er sich so – wie niederträchtig, wie undankbar!

Ohngeachtet nun Reisern diese Folgen ahndeten, und er höchsttraurig darüber war, empfand er doch am andern Tage, da er ins Chor kam, und seine Mitschüler über sein blasses und verwirrtes Ansehn, das er noch von dem gestrigen Rausche hatte, lachten, eine Art von sonderbarem Stolz, gleichsam als ob er durch das gestrige Betrinken eine gewisse Bravour bezeigt hätte, daß er sogar affektirte, als ob sein Taumel noch fortdauerte, um dadurch Aufmerksamkkeit auf sich zu erregen. –

Denn die Aufmerksamkeit der übrigen auf ihn, die dießmal mehr mit einer gewissen Art von Beifall als mit Spott verknüpft war schmeichelte ihm – Auch betrachteten ihn die andern so, wie man einen zu betrachten pflegt, der in demselben Fall ist, worinn man selbst einmal war – denn der Präfektus war fast immer betrunken – dieß geheime Vergnügen, welches Reiser empfand, da es ihm zu gelingen schien, sich durch das Schlechte bemerkt zu machen, ist wohl die gefährlichste Klippe der Verführung, woran die meisten jungen Leute zu scheitern pflegen.

Indes wurde dieser Übermuth bei Reisern sehr bald wieder gedämpft, da er die nachtheiligen Folgen, welche ihm der Rektor prophezeit hatte, nun zu bald empfand – allenthalben empfing man ihn mit kalten und verächtlichen Blicken – er ließ daher die meisten Freitische einen nach dem andern freiwillig fahren, und hungerte lieber, oder aß Salz und Brodt – ehe er sich diesen Blicken aussetzen wollte – Bei dem einzigen Schuster S... ging er noch immer mit Vergnügen hin, denn hier wurde er nach wie vor mit freundlichen Blicken empfangen, und man ließ ihn hier nicht für sein widriges Schicksal büßen.

Er war damals weit entfernt, daß er sich gegen sich selbst hätte entschuldigen sollen – vielmehr trauete er dem Urtheil so vieler Menschen mehr, als seinem eigenen Urtheil über sich selbst, zu – er klagte sich oft an, und machte sich die bittersten Vorwürfe, über seine Versäumniß im Studiren, über sein Lesen, und über sein Schulden machen beim Bücherantiquarius – denn er war damals nicht im Stande, sich das alles als eine natürliche Folge, der engsten Verhältnisse, worin er sich befand, zu erklären – In solcher Stimmung der Seele, wo er gegen sich selbst aufgebracht, und seine Phantasie noch durch ein Trauerspiel, das er eben gelesen hatte, erhitzt war, schrieb er einmal einen verzweiflungsvollen Brief an seinen Vater, worinn er sich als den größten Verbrecher anklagte, und der mit unzähligen Gedankenstrichen angefüllt war, so daß sein Vater nicht wußte, was er aus dem Brief machen sollte, und für den Verstand des Verfassers im Ernst zu fürchten anfing – der ganze Brief war im Grunde eine Rolle die Reiser spielte – Er fand ein Vergnügen daran, sich selbst, wie es zuweilen die Helden in den Trauerspielen machen, mit der schwärzten Farben zu schildern, und dann recht Tragisch gegen sich selbst zu wüthen.

Da er nun niemand auf der Welt und auch sich selbst nicht einmal zum Freunde hatte, was konnte wohl anders sein Bestreben seyn, als sich, so viel und so oft wie möglich, selbst zu vergessen.

Der Bücherantiquarius blieb daher seine immerwährende Zuflucht, und ohne diesen würde er seinen Zustand schwerlich ertragen haben, den er sich nun in manchen Stunden nicht nur erträglich sondern sogar angenehm zu machen wußte, wenn er z.B. bei seinem Vetter dem Peruquenmacher, ein kleines, freilich eben nicht glänzendes Auditorium, um sich her versammlen, und dem mit aller Fülle des Ausdruks und der Deklamation, die ihm nur möglich war, irgend eines seiner Lieblingstrauerspiele als Emilia Galotti, Ugolino, oder sonst etwas Thränenvolles, wie z.B. den Tod Abels von Geßner, vorlesen konnte, wobei er denn ein unbeschreibliches Entzücken empfand, wenn er rund um sich her jedes Auge in Thränen erblickte, und darin den Beweiß laß, daß ihm sein Endzweck, durch die Sache, die er vorlaß, zu rühren, gelungen war. –

überhaupt brachte er die vergnügtesten Stunden seines damaligen Lebens entweder für sich allein, oder in diesem Cirkel, bei seinem Vetter, dem Peruquenmacher zu, wo er gleichsam die Herrschaft über die Geister führen, und sich zum Mittelpunkte ihrer Aufmerksamkeit machen konnte – denn hier wurde er gehört – hier konnte er vorlesen, deklamiren, erzählen, und lehren – und er ließ sich wirklich mit den Handwerksgesellen, welche dort zusammen kamen, zuweilen in Dispüte über sehr wichtige Materien, als über das Wesen der Seele, die Entstehung der Dinge, den Weltgeist und dergleichen, ein, wodurch er die Köpfe verwirrte – indem er die Aufmerksamkeit dieser Leute auf Dinge lenkte, an die sie in ihrem Leben nicht gedacht hatten. –

Mit einem Schneidergesellen insbesondre, der anfing, an seinen Grübeleien Gefallen zu finden, unterhielt er sich oft Stundenlang – über die Möglichkeit der Entstehung einer Welt aus Nichts – endlich geriethen sie auf das Emanationssystem, und auf den Spinozismus – Gott und die Welt war eins. –

Wenn dergleichen Materien nicht in die Schulterminologie eingehüllt werden, so sind sie für jeden Kopf, und sogar Kindern verständlich. –

Bei einem solchen Gespräch pflegte Reiser aller seiner Sorgen und seines Kummers zu vergessen – das, was ihn drückte, war denn viel zu klein für ihn, um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen – er fühlte sich aus dem umringenden Zusammenhange der Dinge, worin er sich auf Erden befand, auf eine Zeitlang hinaus versetzt, und genoß die Vorrechte der Geisterwelt – wer ihm dann zuerst in den Wurf kam, mit dem suchte er sich in philosophische Gespräche einzulassen, und seine Denkkraft an ihm zu üben. –

Indes wandte er doch seine Schulstunden ohngeachtet der wenigen Aufmunterung, die er darinn genoß, und der vielen Demüthigungen, die er darin erduldete, nicht ganz unnüz an – er schrieb bei dem Direktor neue Geschichte Dogmatik und Logik; und bei dem Rektor die Erdbeschreibung, und einige Übersetzungen lateinischer Autoren, nach, wodurch er denn doch immer, neben seiner Komödien und Romanlektüre, noch einige wissenschaftliche Kenntnisse auffing, und ohne es eigentlich mit Absicht zu treiben, auch im Lateinischen noch einige Fortschritte machte. –

Das war aber alles nur, wie zufällig – manche Stunde versäumte er dazwischen, und manche Stunde laß er, während daß der Livius oder ein ander lateinischer Autor gelesen wurde, für sich heimlich einen Roman, weil er doch einmal wußte, daß der Direktor ihn nicht mehr aufzurufen würdigte. –

Denn wenn er in den Schulstunden mitten unter einer Anzahl von sechs bis siebenzig Menschen saß, von denen fast kein einziger sein Freund war, und denen er fast insgesammt ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung war, so mußte ihm dieß natürlicher Weise beständig eine sehr ängstliche Lage seyn, wo er sich am meisten gedrungen fühlte, sich in eine andre Welt zu träumen, in der er sich besser befand. –

Aber auch diese Zuflucht mißgönnte man ihm – und indem er gerade einmal noch ehe die Stunde anging, in einem Bande vom Theater der Deutschen laß, so nahm man, während daß der Rektor hereintrat, ihm das Buch weg, und legte es dem Rektor aufs Katheder hin, dem man nun auf Befragen, woher das Buch käme? sagte, daß Reiser während den Stunden darinn zu lesen pflegte – Ein Blick voll wegwerfender Verachtung auf Reisern, war die Antwort des Rektors auf diese Anklage. –

Und dieser Blick kostete Reisern widerum einen Theil des wenigen Selbstzutrauens, das ihm noch übrig geblieben war; denn weit entfernt, sich gegen sich selbst zu entschuldigen, glaubte er vielmehr diese Verachtung wirklich zu verdienen, und hielt sich in dem Augenblick eben so sehr für ein weggeworfnes verächtliches Wesen, als ihn der Rektor nur immer dafür halten konnte. –

Er sank durch diesen Vorfall noch tiefer als vorher in der Verachtung des Rektors – sein äußrer Zustand verschlimmerte sich daher von Tage zu Tage; und da er einmal vergessen hatte, einen Auftrag, den ihm ein Fremder an den Rektor gegeben hatte, auszurichten, so bediente sich der Rektor zum erstenmale des harten Ausdrucks gegen ihn, diese Vernachlässigung eines ihm gegebnen Auftrags sey ja eine wahre Dummheit.

Dieser Ausdruck brachte auf eine lange Zeit eine Art von wirklicher Seelenlähmung in ihm hervor – Dieser Ausdruck, und das dummer Knabe, vom Inspektor auf dem Seminarium, und das ich meine ihnja nicht, von dem Kaufmann S... hat er nie vergessen können – sie haben sich in alle seine Gedanken verwebt, und ihm lange nachher oft alle Gegenwart des Geistes in Augenblicken benommen, wo er sie am meisten bedurfte.

Ein Freund des Rektors, welcher einige Wochen bei ihm logirte, und für den Reiser auch einige Gänge thun mußte, gab der Magd und ihm, bei seinem Abschiede ein Trinkgeld – Reiser hatte eine sonderbare Empfindung dabei, da er das Geld nahm; es war ihm, als ob er einen Stich erhielte, wo sich der erste Schmerz plötzlich wieder verlor – denn er dachte an den Bücherantiquarius, und in dem Augenblick war alles übrige vergessen – für das Geld konnte er mehr wie zwanzig Bücher lesen – sein beleidigter Stolz hatte sich noch zum letztenmal empört, und war nun besigt – Reiser nahm von diesem Augenblick an keine Rücksicht mehr auf sich selbst – und warf sich in Ansehung seiner äußern Verhältnisse völlig weg. –

Seine Kleidung, die immer schlechter und unordentlicher wurde, kümmerte ihn nicht mehr.

In der Schule, im Chore, und wenn er auf der Straße gieng, dachte er sich mitten unter Menschen, wie allein – denn keiner war, der sich um ihn bekümmerte oder an ihm Theil nahm – Sein eignes äußres Schicksal war ihm daher, so verächtlich so niedrig, und so unbedeutend geworden, daß er aus sich selbst nichts mehr machte – an dem Schicksal einer Miß Sara Sampson, einer Julie und Romeos hingegen konnte er den lebhaftesten Antheil nehmen; damit trug er sich oft den ganzen Tag herum.

Nichts war ihm unausstehlicher, als, wenn die Lehrstunden geendigt waren, sich beim Herausgehen unter dem Schwarm seiner insgesammt besser gekleideten, muntern und lebhaftern Mitschüler, zu befinden, von denen ihn keiner mehr an seiner Seite zu gehen würdigte – wie oft wünschte er sich in solchen Augenblicken endlich von der Last des Körpers befreit, und durch einen plötzlichen Tod aus diesem quälenden Zusammenhange gerissen zu werden! Wenn er denn etwa durch ein Gäßchen, wo niemand neben ihm ging, sich den Blicken seiner Mitschüler entziehen konnte, wie froh eilte er dann in die einsamsten und abgelegensten Gegenden der Stadt, um seinen traurenden Gedanken eine Weile ungestört nachzuhängen.

Der größte Dummkopf unter allen, welcher auch allgemein verachtet war – gesellte sich zuweilen zu ihm, und Reiser nahm seine Gesellschaft mit Freuden an; denn es war doch ein Mensch, der sich zu ihm gesellte – wenn er dann mit diesem ging – so hörte er oft hie und da einen seiner Mitschüler zu dem andern sagen: par nobile Fratrum! (ein edles Paar Gebrüder!) Mit diesem wirklichen Dummkopf wurde er also zugleich in eine Klasse geworfen –

Da nun der Rektor auch gesagt hatte, es würde höchstens ein Dorfschulmeister aus ihm werden, so kam dies alles zusammen, um Reisern sein Selbstzutrauen gänzlich zu rauben, so daß er nun fast alles Zutrauen zu seinen eignen Verstandeskräften fahren ließ, und oft im Ernst anfing, sich selbst für den Dummkopf zu halten, wofür er so allgemein erkannt wurde – Dieser Gedanke artete denn aber auch zugleich in eine Art von Bitterkeit gegen den Zusammenhang der Dinge aus – er verwünschte in den Augenblicken die Welt und sich – weil er sich als ein höchst verächtliches Wesen zum Spott der Welt geschaffen glaubte. –

Wie weit das Vorurtheil seiner Mitschüler gegen ihn, und ihre Überzeugung von seiner angebohrnen Dummheit ging, davon mag folgendes zum Beweise dienen: –

Der Rektor hatte ihm erlaubt, die Privatstunden welche er in seinem Hause gab, mit zu besuchen – Unter andern gab nun der Rektor auch eine englische Stunde – Reiser hatte das Buch nicht, worin gelesen wurde, und konnte sich also zu Hause nicht üben, er mußte mit einem andern einsehn; demohngeachtet begriff er in ein paar Wochen von bloßem Zuhören die meisten Regeln der englischen Aussprache; und da ihn der Rektor zufälliger Weise auch einmal mit zum Lesen aufrief, so laß er weit fertiger und besser, als alle übrigen, die das Buch gehabt, und sich zu Hause geübt hatten. –

Er hörte also einmal in der Nebenstube über sich sprechen, der Reiser müsse doch so dumm nicht seyn, weil er die schwere englische Aussprache sobald gefaßt hätte; um nun diese günstige Meinung von ihm ja nicht aufkommen zu lassen, behauptete sogleich einer geradezu, Reisers Vater sei ein gebohrner Engländer, und er erinnre sich also der englischen Aussprache noch von seiner Kindheit her; die übrigen waren sehr bereit, dieß zu glauben – und so war denn Reiser aufs neue zu seiner vorigen Niedrigkeit in den Augen seiner Mitschüler herabgesunken.

Man siehet aus diesem allen, daß die Achtung, worinn ein junger Mensch bei seinen Mitschülern steht, eine äußerst wichtige Sache bei seiner Bildung und Erziehung ist, worauf man bei öffentlichen Erziehungsanstalten bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit gewandt hat. –

Was Reisern damals aus seinem Zustande retten, und auf einmal zu einem fleißigen und ordentlichen jungen Menschen hätte umschaffen können, wäre eine einzige wohlangewandte Bemühung seiner Lehrer gewesen, ihn bei seinen Mitschülern wieder in Achtung zu setzen. Und das hätten sie durch eine etwas nähere Prüfung seiner Fähigkeiten, und ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf ihn sehr leicht bewirken können. –

So verstrich nun dieser Winter für ihn höchst traurig – seine kleine Ökonomie war gänzlich zerrüttet – er hatte sich in seinem schlechten Aufzuge nicht getraut, sein monathliches Geld von dem Prinz zu hohlen. – Bei dem Bücherantiquarius, war er für seine Einkünfte tief in Schulden gerathen – auch hatte er seine übrigen nothwendigsten Bedürfnisse an Wäsche und Schuhen, von den wenigen Groschen, die er wöchentlich einnahm, und dem Chorgelde, das er erhielt, nicht bestreiten können, da er überdem dem Bücherantiquarius alles zubrachte.

Unter diesen Umständen reißte er in den Osterferien zu seinen Eltern, wo er den Degen ansteckte, mit dem er sich im Philotas erstochen hatte – und nun seinen Brüdern täglich diese Rolle noch einmal vorspielte – sich auch von seinem verlaßnen Zustande, und der Verachtung worin er bei seinen Mitschülern stand, hier nicht das mindeste merken ließ, sondern vielmehr das Angenehme, und Ehrbringende, was er von sich sagen konnte, auf alle Weise heraussuchte – daß ihm nehmlich der Rektor auf einer Reise zur Gesellschaft mitgenommen, daß er in einer Privatstunde englisch bei ihm gelernt habe, daß er bei dem Aufzug mit Fackeln und Musik gewesen, und wie es dabei zugegangen sey u.s.w.

Auch für sich selbst suchte er so viel wie möglich alles Unangenehme und Niederdrückende aus seinen Ideen zu verbannen – denn er wollte hier nun einmal in einem vortheilhaften, ehrenvollen Lichte erscheinen, und sein Zustand sollte andern beneidenswerth vorkommen, so wenig beneidenswerth er auch war. –

In dieser angenehmen Selbsttäuschung brachte er hier einige Tage sehr vergnügt zu – allein so leicht wie ihm dießmal geworden war, da er aus den Thoren von H... gekommen, und er die vier Thürme der Stadt allmälig aus dem Gesicht verlohren hatte, so schwer wurde ihm ums Herz, da er sich diesen Thoren wieder näherte, und die vier Thürme wieder vor ihm da lagen, die ihm gleichsam die großen Stifte schienen, welche den Fleck seiner manichfaltigen Leiden bezeichneten.

Insbesondere war ihm der hohe, eckigte, und oben nur mit einer kleinen Spitze versehene, Marktthurm, da er ihn jetzt wieder sahe, ein fürchterlicher Anblick – dicht neben diesem war die Schule – das Spotten, Grinsen und Auszischen seiner Mitschüler stand mit diesem Thurm auf einmal wieder vor seiner Seele da – das große Zieferblatt an diesem Thurm war er gewohnt zum Augenmerk zu nehmen, so oft er die Schule besuchte, um zu sehen, ob er auch zu spät käme – Dieser Thurm war so wie die alte Marktkirche, ganz in gothischer Bauart, von rothen Backsteinen aufgebaut, die vor Alter schon schwärzlich geworden waren. –

In eben dieser Gegend war es, wo den Missethätern ihr Todesurtheil vorgelesen wurde – kurz dieser Marktkirchthurm, brachte alles in Reisers Phantasie zusammen, was nur fähig war, ihn plötzlich niederzuschlagen und in eine tiefe Schwermuth zu versetzen. –

Er hätte in der That nicht schwermüthiger seyn können, als er es jetzt war, wenn er auch alles das vorausgewußt hätte, was ihm von nun an in diesem Orte seines Aufenthalts noch begegnen sollte – War aber schon vor einem Jahre, da er auch von seinen Eltern nach H... wieder zurückkehrte seine Traurigkeit nicht ohne Grund gewesen, so war sie es dießmal noch viel weniger, da ihm einer der schrecklichsten Zeitpunkte in seinem Leben bevorstand. –

Ohne indes eine Ahndungskraft bei ihm vorauszusetzen, ließ sich seine Schwermuth sehr natürlich erklären – wenn man erwägt, daß seine Einbildungskraft jeden engsten Kreis, seines eigentlichen wirklichen Daseyns, worin er nun wieder versetzt werden sollte, schnell durchlief: die Schule, das Chor, das Haus des Rektors – in diesen Kreisen, wovon ihn immer einer noch mehr wie der andre einengte und alle seine Strebekraft hemmte, sollte er sich von nun an wieder drehen – – wie gern hätte er in diesem Augenblick seinen ganzen Aufenthalt in H... gegen den dunkelsten Kerker vertauscht, der gewiß weit weniger Fürchterliches und Schreckliches für ihn gehabt haben würde, als alle diese ängstliche Lagen.

Indem er nun so in schwermüthige Gedanken vertieft einherging, und schon nahe am Thore war, schoß auf einmal wie ein Blitz, ein Gedanke durch seine Seele, der alles aufhellte, und wodurch sich ihm alles wieder in einem schönern Lichte mahlte – er erinnerte sich, daß er schon zu Hause bei seinen Eltern gehört hatte, es wäre eine Schauspielergesellschaft nach H... gekommen, die den Sommer über dort spielen würde. –

Dieß war die damalige Ackermansche Truppe, welche fast alle die jetzt hin und her zerstreuten Zierden aller Bühnen Deutschlands, in sich vereinigte. – Mit schnellen Schritten eilte nun Reiser der Stadt zu, die ihm vorher so verhaßt, und nun plötzlich wider über alles lieb geworden war – ohne erst zu Hause zu gehen, (es war noch Vormittag, denn er war die Nacht an einem Orte unterwegens geblieben, von welchem er nur noch ein paar Meilen bis nach H... zu gehen hatte) eilte er sogleich nach dem Schlosse, wo er wußte, daß der Komödienzettel mit dem Personenverzeichniß angeschlagen war, und laß, daß man an demselben Abend noch Emilia Galotti aufführen würde. –

Sein Herz schlug ihm vor Freuden, da er dieß laß; gerade dieß Stück, bei dem er schon so manche Thräne geweint, und so oft bis ins Innerste der Seele erschüttert worden, und was bis jetzt nur noch in seiner Phantasie aufgeführt war, nun auf dem Schauplatz mit aller möglichen Täuschung wirklich dargestellt zu sehn. –

Er wäre den Abend nicht aus der Komödie geblieben, hätte es auch kosten mögen, was es gewollt hätte – da er nun zu Hause kam, so wurde die Stube, worin er schlief, geweißt, und etwas darin gebaut, wodurch sie ganz unbewohnbar gemacht wurde – Dieser mißtröstende Anblick des Orts seines eigentlichsten Aufenthalts, trieb ihn noch mehr aus der wirklichen ihn umgebenden Welt hinaus – er schmachtete nach der Stunde, wann das Schauspiel anheben würde.

Wohin er kam konnte er seine Freude nicht verbergen; da er bei der Frau F... in die Stube trat, war sein erstes Wort die Komödie, welches sie ihm lange nachher vorwarf – und eben so war es, da er zu seinem Vetter dem Peruquenmacher kam, wo er nun einige Nächte auf dem Boden schlafen mußte, während das seine Stube in dem Hause des Rektors erst wieder bewohnbar gemacht wurde. –

Folgende Rollenbesetzung mag ohngefähr einen Begriff davon geben, was Emilia Galotti, als das erste Schauspiel, das er in dieser Stimmung der Seele sahe, für eine Wirkung auf ihn müsse gehabt haben.

Die verstorbne Charlotte Ackermann spielte die Emilia; ihre Schwester die Orsina, und die Reiniken spielte die Klaudia; Borchers den Odoardo; Brockmann den Prinzen; Reinike den Appiani, und Dauer den Conti – Wo mag Emilia Galotti wohl je wieder so aufgeführt worden seyn?

Wie mächtig mußte Reisers Seele hier eingreiffen; da sie nun die Welt ihrer Phantasie gewissermaßen wirklich gemacht fand! – Er dachte von nun an keinen andern Gedanken mehr, als das Theater, und schien nun für alle seine Außichten und Hoffnungen im Leben gänzlich verlohren zu seyn. –

Was er nun irgend an Geld auftreiben konnte, das wurde zur Komödie angewandt, aus welcher er nun keinen Abend mehr wegbleiben konnte, wenn er es sich auch am Munde abdarben sollte – Um der Komödie willen aß er oft den ganzen Tag über nichts, wie etwas Salz und Brodt, wenn ihm nicht etwa die alte Mutter des Rektors Essen auf seine Stube schickte, welches sie doch zuweilen aus Mitleid that. –

Und weil es nun Sommer war, so genoß er auch der Wonne, auf seiner Stube wieder allein seyn zu können – welches ihm mehr werth war, als die köstlichsten Speisen, die er hätte genießen können. –

Die Aussicht auf die Komödie am Abend tröstete ihn, wenn er am Morgen zu einem traurigen Tage erwachte, wie er denn nie anders erwachte – Denn die Verachtung und der Spott seiner Mitschüler, und das dadurch erregte Gefühl seiner eignen Unwürdigkeit, welches er allenthalben mit sich umher trug, dauerte noch immer fort, und verbitterte ihm sein Leben – Und alles was er that, um sich hievon loß zureißen, war im Grunde eine bloße Betäubung seines innern Schmerzes, und keine Heilung desselben – sie erwachte mit jedem Tage wieder, und während daß seine Phantasie ihm manche Stunde lang ein täuschendes Blendwerk vormahlte, verwünschte er doch im Grunde sein Daseyn. –

Die häufigen Thränen welche er oft beim Buche, und im Schauspielhause vergoß, flossen im Grunde eben sowohl über sein eignes Schicksal, als über das Schicksal der Personen, an denen er Theil nahm, er fand sich immer auf eine nähere oder entferntere Weise in dem unschuldig Unterdrückten, in dem Unzufriednen mit sich und der Welt, in dem Schwermuthsvollen, und dem Selbsthasser wieder. –

Die drückende Hitze im Sommer trieb ihn oft aus seiner Stube in die Küche, oder in den Hof hinunter, wo er sich auf einen Holzhaufen setzte, und laß, und oft sein Gesicht verbergen mußte, wenn etwa jemand hereintrat, und er mit rothgeweinten Augen da saß. –

Das war wieder the Joy of Grief, die Wonne der Thränen, die ihm von Kindheit auf im vollen Maße zu Theil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte.

Dieß gieng so weit, daß er selbst bei komischen Stücken, wenn sie nur einige rührende Scenen enthielten, als z.B. bei der Jagd, mehr weinte, als lachte – was aber auch ein solches Stück damals für Wirkung thun mußte, kann man wieder aus der Rollenbesetzung schliessen, indem die Charlotte Ackermann Rößchen, ihre Schwester Hannchen, die Reiniken die Mutter; Schröder den Töffel; Reineke den Vater; und Dauer den Christel spielte. –

Wenn irgend äußere Umstände fähig waren, jemanden einen entschiednen Geschmack am Theater beizubringen, so war es, Reisers Vorliebe und seine besondern Verhältnisse abgerechnet, der Zufall, welcher diese vortrefflichen Schauspieler damals in eine Truppe zusammen brachte.

Man kam nun leicht schließen, wie Romeo und Julie, die Rache von Young die Oper Klarissa, Eugenie, welche Stücke auf Reisern den stärksten Eindruck machten, gegeben werden mußten. –

Dieß hatte nun auch so sehr alle seine Gedanken eingenommen, daß er alle Morgen den Komödienzettel gleichsam verschlang, und alles auch das der Anfang ist präcise um halb sechs Uhr, und der Schauplatz ist auf dem königlichen Schloßtheater gewissenhaft mitlaß – Und für einen vorzüglichen Schauspieler, den er etwa auf der Straße erblickte, fast so viel Ehrfurcht, wie ehemals gegen den Pastor P... in B... empfand. – Alles, was zum Theater gehörte, war ihm ehrwürdig, und er hätte viel darum gegeben, nur mit dem Lichtputzer Bekanntschaft zu haben. –

Vor zwei Jahren hatte er schon den Herkules auf dem Oeta, den Grafen von Olsbach, und die Pamela spielen sehen, wo Eckhof, Böck, Günther, Hensel, Brandes nebst seiner Frau, und die Seilerin die vorzüglichsten Rollen spielten, und schon von jener Zeit her, schwebten die rührendsten Scenen aus diesen Stücken noch seinem Gedächtniß vor, worunter Günther als Herkules, Böck als Graf von Olsbach, und die Brandes als Pamela, fast jeden Tag wechselsweise einmal in seine Gedanken gekommen waren – und mit diesen Personen hatte er denn auch bis zur Ankunft der Ackermanschen Truppen die Stücke, die er laß, in seiner Phantasie größtentheils aufgeführt. –

Es fügte sich also gerade bei ihm, daß er, wenn jene mit diesen zusammengenommen wurden, nun alle die vorzüglichsten Schauspieler Deutschlands zu sehen bekommen hatte, die jetzt in ganz Deutschland zerstreut sind. –

Dadurch bildete sich ein Ideal von der Schauspielkunst in ihm, das nachher nirgends befriedigt wurde, und ihm doch weder Tag noch Nacht Ruhe ließ, sondern ihn unaufhörlich umhertrieb, und sein Leben unstät und flüchtig machte. –

Weil er ehemals Böck, und jetzt Brockmannen die Rollen spielen sahe, wobei am meisten geweint wurde, so waren diese auch seine Lieblingsakteurs, mit denen sich seine Gedanken immer am meisten beschäftigten. –

Allein bei alle den glänzenden Scenen, die aus der Theaterwelt beständig seiner Phantasie vorschwebten, wurden seine äußern Umstände von Tage zu Tage schlechter – Er verlohr immer mehr in der Achtung der Menschen, gerieth immer tiefer in Unordnung – seine Kleidung und Wäsche wurden immer schlechter, so daß er am Ende Scheu trug, sich vor Menschen sehen zu lassen – er versäumte daher so oft er konnte, die Schule und das Chor, und hungerte lieber, als daß er irgend einen seiner noch übrigen Freitische besucht hätte, ausgenommen den bei dem Schuster S..., wo er auch unter diesen mißlichen Umständen noch immer gastfreundlich empfangen, und mit der liebreichsten Art bewirthet wurde. –

Da nun dem Rektor endlich Reisers inkkorrigible Unordnung, und insbesondre das immerwährende späte zu Hause kommen aus der Komödie unausstehlich wurde, so sagte er ihm das Logis auf. –

Reiser hörte die Ankündigung des Rektors daß er zu Johanni ausziehen, und sich während der Zeit nach einem andern Logis umsehen sollte, mit gänzlicher Verhärtung und Stillschweigen an – und da er wieder allein war, vergoß er nicht einmal eine Thräne mehr über sein Schicksal – denn er war sich selbst so gleichgültig geworden, und hatte so wenige Achtung gegen sich und Mitleid mit sich selber übrig behalten, daß wenn seine Achtung und Empfindung des Mitleids, und alle die Leidenschaften, wovon sein Herz überströmte, nicht auf Personen aus einer erdichteten Welt gefallen wären, sie nothwendig sich alle gegen ihn selbst kehren, und sein eignes Wesen hätten zerstören müssen.

Da ihm der Rektor das Logis aufgesagt hatte, so zog er daraus die sichere Folge, daß nun auch der Pastor M... sich nicht weiter um ihn bekümmern würde, und so war es nun auf einmal mit allen seinen Aussichten und Hoffnungen vorbei. – Die paar Wochen, welche er noch bei dem Rektor blieb, brachte er nach seiner gewöhnlichen Weise zu – dann zog er bei einem Bürstenbinder ins Haus; wo nun das Vierteljahr, welches er von Johanni bis Michaelis zubrachte, das schrecklichste und fürchterlichste in seinem ganzen Leben war, und wo er oft am Rande der Verzweiflung stand. –

Da er nun hier eingezogen war, so fühlte er sich auf einmal aus alle den Verbindungen, die er vormals so ängstlich gesucht hatte, herausgesetzt, und zwar wie er selbst glaubte, durch seine eigne Schuld herausgesetzt – Der Prinz, der Pastor M..., der Rektor, alle die Personen von denen sein künftiges Schicksal abhing, waren nun nichts mehr für ihn, und damit verschwanden zugleich alle seine Aussichten. –

Was Wunder, daß sich durch diese Veranlassung eine neue Phantasie in seiner Seele bildete, in der er von nun an Trost suchte, und sie Tag und Nacht mit sich umher trug, und welche ihn von der gänzlichen Verzweiflung rettete.

Er hatte nehmlich damals unter andern die Operette Klarissa oder das unbekannte Dienstmädchen gesehen, und nicht leicht hätte in seiner Lage irgend ein Stück mehr Interesse für ihn haben können, als dieses. –

Der vorzüglichste Umstand, wodurch dieß große Interesse bei ihm bewürkt wurde, war, daß ein junger Edelmann sich entschließt, ein Bauer zu werden, und auch wirklich seinen Entschluß ausführt – Reiser nahm auf die Veranlassung, die ihn dazu brachte, weil er nehmlich das unbekannte Dienstmädchen liebte, u.s.w. gar keine Rücksicht sondern es war ihm eine so reizende Idee, daß ein gebildeter junger Mensch sich entschließt, ein Bauer zu werden, und nun ein so feiner, höflicher, und gesitteter Bauer ist, daß er sich unter allen übrigen auszeichnet. –

In dem Stande, worin sich Reiser begeben, war er nun einmal ganz zurück gesetzt, und es schien ihm unmöglich, sich je wieder darin empor zu arbeiten – Allein für einen Bauer hatte doch sein Geist einmal weit mehr Bildung erhalten, als es sonst zu diesem Stande bedarf – als Bauer war er über seinen Stand erhoben, als ein junger Mensch, der sich dem Studiren widmet, und Aussichten haben soll, fand er sich weit unter seinen Stand erniedrigt – Die Idee, ein Bauer zu werden, wurde also nun bei ihm die herrschende, und verdrängte eine Zeitlang alles übrige. –

Nun besuchte damals eines Bauern Sohn Namens M... die Schule, dem er im lateinischen zuweilen einigen Unterricht gegeben hatte – diesem sagte er seinen Entschluß ein Bauer zu werden, worauf ihm dann derselbe eine detaillierte Schilderung von den eigentlichen Arbeiten eines Bauerknechtes machte, die Reisern seine schönen Träume wohl hätten verderben können, wenn seine Phantasie nicht zu stark dagegen angewürkt und nur immer die angenehmen Bilder mit Gewalt neben einander gestellt hätte. –

Sonst kömmt auch selbst in der Operette Klarissa schon eine Stelle vor, wo ein Bauer dem jungen Edelmann, der ihm sein Gütchen abkaufen will, von seinem Vorsatz abräth – und am Ende eine sehr ausdrucksvolle Arie singt, wie der Landmann gerade im besten Arbeiten begriffen ist, und auf einmal steigt ein Gewitter auf

 

Die Blitze schießen

Die Donner rollen

Und der Landmann geht verdrießlich

verdrießlich zu Hause. –

 

Das verdrießlich insbesondere war durch die Musik so ausgedruckt, daß die ganze Zauberei der Phantasie schon durch dieß einzige Wort hätte zerstört werden können – welches gleichsam das Gegengift aller Empfindsamkeit und hohen Schwärmerei ist, womit das schmerzhafte, das schreckliche, das niederbeugende, das in Zorn setzende, aber nur das verdrießlichmachende nicht wohl bestehen kann. –

Aber dieß Gegengift half bei Reisern nicht – er ging ganze Tage einsam für sich umher, und dachte darauf, wie er es machen wollte, ein Bauer zu werden, ohne doch in der That einen Schritt dazu zu thun – vielmehr fing er an, sich in diesen süßen Schwärmereien selbst wieder zu gefallen – wenn er sich nun als Bauer dachte, so glaubte er sich doch zu etwas bessern bestimmt zu sein, und empfand über sein Schicksal wieder eine Art von tröstendem Mittleid mit sich selber.

So lange ihn nun diese Phantasie noch empor hielt, war er nur schwermuthsvoll und traurig, aber nicht eigentlich verdrießlich über seinen Zustand – Selbst seine Entbehrung der nothwendigsten Bedürfnisse machte ihm noch eine Art von Vergnügen, indem er nun beinahe glaubte, daß er für sein Verschulden doch zu sehr büßen müsse, und also noch die süße Empfindung des Mitleids mit sich selber behielt –

Endlich aber nachdem er zum erstenmale drei Tage, ohne zu essen zugebracht, und sich den ganzen Tag über mit Thee hingehalten hatte, drang der Hunger mit Ungestüm auf ihn ein, und das ganze schöne Gebäude seiner Phantasie stürzte fürchterlich zusammen – er rannte mit dem Kopfe gegen die Wand, wüthete und tobte, und war der Verzweiflung nahe, da sein Freund Philipp Reiser, den er so lange vernachläßiget hatte, zu ihm hereintrat, und seine Armuth, die freilich auch nur in einigen Groschen bestand mit ihm theilte. –

Indes war dieß nur ein sehr geringes Palliativ – denn Philipp Reiser befand sich damals in nicht viel bessern Umständen als Anton Reiser.

Dieser gerieth nun wirklich in einen fortdaurenden fürchterlichen Zustand, der der Verzweiflung nahe war. –

So wie sein Körper immer weniger Nahrung erhielt, verlosch allmälig seine ihn sonst noch belebende Phantasie, und sein Mitleid über sich selbst verwandelte sich in Haß und Bitterkeit gegen sein eignes Wesen, ehe er nun einen Schritt zu der Verbesserung seines Zustandes gethan, oder sich an irgend einen Menschen nur mit dem Schein einer Bitte gewandt hätte, unterwarf er sich lieber freiwillig mit der beispiellosesten Hartnäckigkeit dem schrecklichsten Elende. –

Denn mehrere Wochen hindurch aß er wirklich die Woche eigentlich nur einen einzigen Tag, wenn er zum Schuster S... ging, und die übrigen Tage fastete er, und hielt mit nichts als Thee oder warmen Wasser, das einzige was er noch umsonst erhalten konnte, sein Leben hin – Mit einer Art von schreklichem Wohlbehagen, sahe er seinen Körper eben so gleichgültig wie seine Kleider, von Tage zu Tage abfallen.

Wenn er auf der Straße ging, und die Leute mit Fingern auf ihn zeigten, und seine Mitschüler ihn verspotteten, und hinter ihm her zischten, und Gassenbuben ihre Anmerkungen über ihn machten – so bis er die Zähne zusammen, und stimmte innerlich in das Hohngelächter mit ein, daß er hinter sich her erschallen hörte. –

Wenn er aber dann wieder zum Schuster S... kam, so vergaß er doch alles wieder – Hier fand er Menschen, hier wurde auf einige Augenblicke sein Herz erweicht, mit der Sättigung seines Körpers erhielt seine Denkkraft und seine Phantasie wieder einen neuen Schwung, und mit dem Schuster S... kam wieder ein philosophisches Gespräch auf die Bahn, welches oft Stundenlang dauerte, und wobei Reiser wieder an zu athmen fing, und sein Geist wieder Luft schöpfte – dann sprach er oft in der Hitze des Disputirens über einen Gegenstand so heiter und unbefangen, als ob nichts in der Welt ihn niedergedrückt hätte – Von seinem Zustande ließ er sich nicht eine Silbe merken. –

Selbst bei seinem Vetter, dem Perukenmacher beklagte er sich nie, wenn er zu ihm kam, und ging weg, sobald er sahe, daß gegessen werden sollte – aber eines Kunstgriffes bediente er sich doch, wodurch es ihm gelang, sich vom Verhungern zu retten. –

Er bat sich nehmlich für einen Hund, den er bei sich zu Hause zu haben vorgab, von seinem Vetter die harte Kruste von dem Teich aus, worin das Haar zu den Peruquen gebacken wurde, und diese Kruste, nebst dem Freitische bei dem Schuster S..., und dem warmen Wasser das er trank, war es nun, womit er sich hinhielt.

Wenn nun sein Körper einige Nahrung erhalten hatte, so fühlte er ordentlich zuweilen wieder etwas Muth in sich – Er hatte noch einen alten Virgil, den ihm der Bücherantiquarius nicht hatte abkaufen wollen; in diesem fing er an die Eklogen zu lesen – Aus einer Wochenschrift die Abendstunden die er sich von Philipp Reisern geliehen hatte, fing er an ein Gedicht der Gottesleugner, das ihm vorzüglich gefiel, und einige prosaische Aufsätze auswendig zu lernen – Aber mit dem bald wieder fühlbaren Mangel an Nahrung erlosch auch dieser aufglimmende Muth wieder, und dann war die Thätigkeit seiner Seele wie gelähmt – Um sich vor den Zustande des tödtlichen Aufhörens aller Wirksamkeit zu retten, mußte er zu kindischen Spilen wieder seine Zuflucht nehmen, in so fern dieselben auf Zerstörung hinaus liefen. –

Er machte sich nehmlich eine große Sammlung von Kirsch- und Pflaumenkernen, setzte sich damit auf den Boden, und stellte sie in Schlachtordnung gegen einander – die schönsten darunter zeichnete er durch Buchstaben und Figuren, die er mit Dinte darauf mahlte, von den übrigen aus, und machte sie zu Heerführern – dann nahm er einen Hammer, und stellte mit zugemachten Augen das blinde Verhängniß vor, indem er den Hammer bald hie, bald dorthin fallen ließ – wenn er dann die Augen wieder eröfnete, so sah er mit einem geheimen Wohlgefallen, die schrekliche Verwüstung, wie hier ein Held und dort einer mitten unter dem unrühmlichen Haufen gefallen war, und zerschmettert da lag – dann wog er das Schicksal der beiden Heere gegen einander ab, und zählte von beiden die Gebliebenen.

So beschäftigte er sich oft den halben Tag – und seine ohnmächtige kindische Rache am Schicksal, das ihn zerstörte, schuf sich auf die Art eine Welt, die er wieder nach Gefallen zerstören konnte – so kindisch und lächerlich dieses Spiel jedem Zuschauer würde geschienen haben, so war es doch im Grunde das fürchterlichste Resultat der höchsten Verzweiflung die vielleicht nur je durch die Verkettung der Dinge bei einem Sterblichen bewirkt wurde. –

Man sieht aber auch hieraus, wie nahe damals sein Zustand an Raserei gränzte – und doch war seine Gemüthslage wieder erträglich, sobald er sich nur erst wieder für seine Kirsch und Pflaumensteine interessiren konnte – ehe er aber auch das konnte; wenn er sich hinsetzte und mit der Feder Züge aufs Papier mahlte oder mit dem Messer auf dem Tisch krizelte – das waren die schrecklichsten Momente, wo sein Daseyn wie eine unerträgliche Last auf ihm lag, wo es ihm nicht Schmerz und Traurigkeit, sondern Verdruß verursachte – wo er es oft mit einem fürchterlichen Schauder, der ihn antrat, von sich abzuschütteln suchte. –

Seine Freundschaft mit Philipp Reisern konnte ihm damals nicht zu statten kommen, weil es jenem nicht viel besser ging – und so wie zwei Wandrer, die zusammen in einer brennenden Wüste in Gefahr vor Durst zu verschmachten sind, indem sie forteilen, eben nicht im Stande sind viel zu reden, und sich wechselsweise Trost einzusprechen, so war dieß auch jetzt der Fall zwischen Anton Reisern und Philipp Reisern.

Allein eben der G..., welcher einst den sterbenden Sokrates gespielt hatte, wovon Reiser noch immer den Spottnahmen trug, entschloß sich bei ihm zu ziehen, und war auch gerade in denselben Umständen, wie Reiser, nur mit dem Unterschiede, daß er durch wirkliche Liederlichkeit hinein gerathen war – an ihm fand also Reiser nun einen würdigen Stubengesellschafter.

Es dauerte nicht lange, so zog auch der Bauernsohn Nahmens M... zu diesen beiden, der ebenfalls in keinen bessern Umständen war – Es fand sich also hier eine Stubengesellschaft von drei der ärmsten Menschen zusammen, die vielleicht nur je zwischen vier Wänden eingeschlossen waren. –

Mancher Tag ging hin; wo sie sich alle drei mit nichts als gekochtem Wasser und etwas Brodt hinhielten – Indes hatten G... und M... doch noch einige Freitische. –

G... war im Grunde ein Mensch von Kopf, der sehr gut sprach, und gegen den Reiser sonst immer viel Achtung empfunden hatte. –

Einmal bekamen beide auch noch eine Anwandlung von Fleiß, und fingen an, Virgils Eklogen zusammen zu lesen, wobei sie wirklich das reinste Vergnügen genossen, nachdem sie eine Ekloge mit vieler Mühe für sich selbst herausgebracht hatten, und nun ein jeder eine Übersetzung davon niederschrieb – allein dieß konnte natürlicher Weise unter den Umständen nicht lange dauren – sobald ein jeder seine Lage wieder lebhaft empfand, so war aller Muth und Lust zum Studieren verschwunden. –

In Ansehung der Kleidung war es mit G... und M... eben so schlecht, wie mit Reisern bestellt – sie machten daher, wenn sie ausgingen, zusammen einen Aufzug, der das wahre Bild der Liederlichkeit und Unordnung schien, so daß man mit Fingern auf sie wieß, weswegen sie denn auch immer auf Abwegen und durch enge Straßen aus der Stadt zu kommen suchten, wenn sie spatzieren gingen.

Diese drei Leute führten nun auch völlig ein Leben, wie es mit ihren Zustande übereinstimmte – sie blieben oft den ganzen Tag im Bette liegen – oft saßen sie alle drei zusammen, den Kopf auf die Hand gestützt, und dachten über ihr Schicksal nach; oft trenten sie sich, und ein jeder ließ für sich seiner Laune freien Lauf – Reiser gieng auf den Boden, und musterte seine Kirschkerne – M... ging bei sein großes Brodt, daß er sorgfältig in einem Koffer verschlossen hatte – und G... lag auf dem Bette, und machte Projekte, die denn nicht die besten waren, wie sich bald nachher zeigte – zwei Bücher laß doch Reiser damals, weil er kein anders hatte, zu verschiedenenmalen durch, indem er auf dem Boden zwischen seinen Kirschkernen saß – das waren die Werke des Philosophen von Sanssouci, und Popens Werke nach Duschens Übersetzung, die er beide von dem Schuster S... geliehen bekommen hatte.

Diese drei Leute gingen nun auch eines Tages zusammen in einer schönen Gegend von H... längst dem Fluß spatzieren, in welchem sich eine kleine Insel erhob, die ganz voller Kirschbäume stand. –

Für unsre drei Abentheurer waren diese Kirschbäume, die alle voll der schönsten Kirschen saßen, ein so einladender Anblick, daß sie sich des Wunsches nicht enthalten konnten, auf diese Insel versetzt zu seyn, um sich an dieser herrlichen Frucht nach Gefallen sättigen zu können.

Nun fügte es sich gerade, daß eine Menge Floßholz den Fluß hinunter geschwommen kam; welches sich in der Verengung des Flusses zwischen dem Ufer und der Insel zuweilen stopfte, und eine anscheinende Brücke bis zu der Insel bildete.

Unter G... s Anführung, der in der Ausführung solcher Projekte schon geübt zu seyn schien, wurde nun ein Wagestück unternommen, das leicht allen dreien das Leben hätte kosten können – Sie zogen nehmlich da, wo das Floßholz sich gestopft hatte, ein Stück nach dem andern aus dem Wasser heraus, und trugen es alle auf einen Fleck, wo ihnen die Passage über den Fluß zwischen dem Ufer und der Insel am engsten zu seyn schien, und nun bauten sie die Brücke, worüber sie gehen wollten erst vor sich her, indem sie ein Stück Holz nach dem andern vor sich hin warfen, um festen Fuß zu fassen – natürlicher Weise mußte diese Brücke unter ihnen zu sinken anfangen, und sie kamen sehr tief ins Wasser, ehe sie kaum die Hälfte ihres gefährlichen Weges zurückgelegt hatten – endlich landeten sie denn doch, obgleich mit Lebensgefahr auf der Insel an –

Und nun bemächtigte sich aller dreier auf einmal ein Geist des Raubes und der Gier, daß ein jeder über einen Kirschbaum herfiel, und ihn mit einer Art von Wuth plünderte. –

Es war, als hätte man eine Vestung mit Sturm erobert; man wollte für die überstandene Gefahr, die man sich selbst gemacht hatte, Ersatz haben, und dafür belohnt seyn.

Da man sich satt gegessen hatte, wurden alle Taschen, Schnupftücher, Halstücher, Hüte, und was nur etwas in sich fassen konnte, von Kirschen voll gestopft – und in der Dämmerung wurde der Rückweg über die gefährliche Brücke, wovon indes schon in Theil weggeschwommen war, wieder angetreten, und ohngeachtet der Beute womit die Abentheurer belastet waren, mehr durch Zufall als Geschicklichkeit oder Behutsamkeit, glücklich geendet. –

Reiser fand sich zu dergleichen Expeditionen gar nicht übel aufgelegt – dies däuchte ihm eigentlich nicht Diebstahl, sondern nur gleichsam eine Streiferei in ein feindliches Gebiet zu seyn, die, wegen des Muths der dabei erfordert wird, immer noch eine ehrenvolle Sache ist. –

Und wer weiß zu welchen Wagestücken von der Art, er noch unter G... s Anführung mit geschritten wäre, wenn er länger bei diesem gewohnt hätte. –

Allein dieser G... gehörte denn doch im Grunde mehr zu den abgefeimten, als zu den herzhaften Partheigängern – denn er war niederträchtig genug, selbst seine beiden Stubengesellschafter und Gefährten, Reisern und M... zu bestehlen, indem er ihnen ein paar Bücher und andre Sachen, die sie noch hatten nahm, und heimlich verkaufte, wie sich nachher zeigte. –

Kurz dieser G... mit dem Reiser so nahe zusammen wohnte, war im Grunde ein abgefeimter Spizbube, der, wenn er den ganzen Tag über auf dem Bette lag, und nachsann, auf nichts als Bübereien dachte, die er ausführen wollte – und der demohngeachtet von Tugend und Moralität sprechen konnte, wie ein Buch, wodurch er Reisern zuerst eine solche Ehrfurcht gegen ihn eingeflößt hatte.

Denn von der Tugend hatte er sich damals ein sonderbares Ideal gemacht, welches seine Phantasie so sehr einnahm, daß ihn oft schon der Nahme Tugend bis zu Thränen rührte. –

Er dachte sich aber unter diesem Nahmen etwas viel zu Allgemeines, und dachte dieß allgemeine viel zu dunkel, und mit zu weniger Anwendung auf besondre Vorfälle, als daß es ihm je hätte gelingen können, auch den aufrichtigsten Vorsatz tugendhaft zu seyn, auszuführen – denn er dachte immer nicht daran, wo er nun eigentlich anfangen sollte. –

Einmal kam er an einem schönen Abend von einem einsamen Spatziergange zu Hause, und der Anblick der Natur hatte sein Herz zu sanften Empfindungen geschmolzen, daß er viele Thränen vergoß, und sich in der Stille gelobte, von nun an der Tugend ewig getreu zu seyn! – und da er diesen Vorsatz fest gefaßt hatte, so empfand er ein so himmlisches Vergnügen über diesen Entschluß, daß es ihm nun fast unmöglich schien je von diesem beglückenden Vorsatze wieder abzuweichen – Mit diesen Gedanken schlief er ein – und da er am Morgen erwachte, so war es wieder so leer in seinem Herzen; die Aussicht auf den Tag war so trübe und öde; alle seine äußern Verhältnisse waren so unwiederbringlich zerrüttet; ein unüberwindlicher Lebensüberdruß trat an die Stelle der gestrigen Empfindung, womit er einschlief – er suchte sich vor sich selbst zu retten, und machte den Anfang, tugendhaft zu seyn, damit daß er auf den Boden ging, und in Schlachtordnung gestellte Kirschkerne zerschmetterte. –

Dieß nun zu unterlassen, und statt dessen etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine Ekloge zu lesen, wäre der eigentliche Anfang zur Ausübung der Tugend gewesen – aber auf diesen zu geringfügig scheinenden Fall hatte er sich bei seinem heldenmüthigen Entschlusse nicht gefaßt gemacht.

Wenn man die Begriffe der Menschen von der Tugend prüfen wollte, so würden sie vielleicht bei den meisten auf eben solche dunkle und verworrene Vorstellungen herauslaufen – und man sieht wenigstens hieraus, wie unnütz es ist, im Allgemeinen, und ohne Anwendung auf ganz besondre und oft geringfügig scheinende Fälle, von Tugend zu predigen. –

Reiser wunderte sich damals oft selbst darüber, wie seine plötzliche Anwandlung von Tugendeifer sobald verrauchen, und gar keine Spur zurück lassen konnte – aber er erwog nicht, daß Selbstachtung, welche sich damals bei ihm nur noch auf die Achtung anderer Menschen gründen konnte, die Basis der Tugend ist – und daß ohne diese das schönste Gebäude seiner Phantasie sehr bald wieder zusammenstürzen mußte.

So oft es ihm während dieses Zustandes noch möglich gewesen war, einige Groschen zusammenzubringen, so oft hatte er sie auch in die Komödie getragen – da aber die Schauspielergesellschaft in der Mitte des Sommers wieder wegzog, so war nun eine Wiese vor dem neuen Thore nicht nur das Ziel seiner Spatziergänge, sondern fast sein immerwährender Aufenthalt – er lagerte sich hier zuweilen den ganzen Tag auf einen Fleck im Sonnenschein hin, oder ging längst dem Flusse spatzieren, und freute sich vorzüglich, wenn er in der heißen Mittagsstunde keinen Menschen um sich her erblickte. –

Indem er hier ganze Tage lang seinen melancholischen Gedanken nachhing, nährte sich seine Einbildungskraft unvermerkt mit großen Bildern, welche sich erst ein Jahr nachher allmälig zu entwickeln anfingen. –

Sein Lebensüberdruß aber wurde dabei aufs äußerste getrieben – oft stand er bei diesen Spatziergängen am Ufer der Leine, lehnte sich in die reißende Fluth hinüber, indes die wunderbare Begier zu athmen mit der Verzweiflung kämpfte, und mit schrecklicher Gewalt seinen über hängenden Körper wieder zurückbog. –