BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Ludwig von Knebel

1744 - 1834

 

Schweizer Wanderungen

An den Großherzog Carl August

 

1780

 

______________________________________________________________________________

 

 

[128]

Gotthardtsberg, den 26. Juli.

 

Ich habe ihn gestern bestiegen, diesen berühmten Berg! Als wir bald nach der Mittagszeit ausgingen, hatten wir schwülen Sonnenschein, bald darauf etwas Regen, und nachher sich treibende Nebel, Kälte und mitunter noch Regen. Es ist seltsam, daß man von diesem Berge immer hört und ihn nicht sieht, da er eigentlich die ganze Masse des höchsten Schweizergebirges macht, das nun gegen Italien zu in etwas schnelleren Graden wieder abnimmt, als es von Deutschland aus hinaufgewachsen ist. Von Urselen aus bis zu dem Capuciner-Hospiz hierher sind es drei Stunden, Man kommt immer höher, und steigt nur selten. Keinen Baum, noch Strauch sieht man mehr von dem Urseler Thal aus. Selbst die Alprose blüht hier nicht mehr. Nichts als übereinander geworfene graue Felsstücke, breite lange Thäler, voll wilder Ruinen, mit einem trocknen verwitterten Moos umzogen. Baron Vrints sagte mir, daß solche den höchsten Felsen des Vesuvs vollkommen glichen.

 

Am Gotthard (Zeichnung von Goethe)

 

So wandelten wir fort, durch rauhen Wind, Nebel und mitunter Schneeflocken, der höchsten Spitze zu. Alles schweigt hier, außer den Winden. Das Rauschen der Flüsse, das nun unaufhörlich, beinahe seit wir den Vierwaldstätter See verlassen, in unsern Ohren tobte, verliert sich hier gänzlich, je höher man steigt, und man sieht nun die Quellen dieser mächtigen Ströme, in den vier auf der Höhe des Gotthardts liegenden Seen, wovon der Eine ungefähr eine halbe Stunde im Umkreise hat. Hier entspringt die Reuß und der Tessin, der nach Italien strömt. Diese Seen sind eiskalt ihrer Natur nach, nur ein paar Monate des Sommers vom Eise befreit, und kein Insect, viel weniger ein Fisch, hält sich in denselben auf.

 

Gotthard-Passhöhe mit den Hospizgebäuden, um 1780. (Radierung von Caspar Wyss, Museum für Kommunikation, Bern)

 

Der Baron Vrints und seine Frau gingen, nachdem sie sich eine Stunde hier in dem Capuciner-Hospiz aufgehalten hatten, wieder fort. Ich begleitete sie auf eine Strecke. Es war kalt und regnicht, wie bei uns im Februar, und wir fanden, wie schon vorher, vielen Schnee auf unserm Wege. Nun kehrte ich zurück, undwar ganz allein. Ein einziger Capuziner, der hier wohnt, da sein Kamerad abgereist war, machte meine Unterhaltung. Er hieß Pater Seraphim, ein geschickter, kluger Mann, der mir schon vorher dem Rufe nach bekannt war. Aber mehr als alles ergötzte mich das Schauspiel, das mir die von den Winden getriebenen Nebel gaben. Dieß war wunderbar anzusehen. In einem Augenblick lagen sie so dick um uns her, daß ich nicht vom Fenster hinaus auf den Weg sehen konnte, und im nächsten Moment waren sie auf eine große Strecke wie weggekehrt, enthüllten die gegenüber liegenden schneeweißen Berggipfel, und ließen von ihnen gleichsam einen Strom von Sonnenglanz über uns ausgießen. Dieser Anblick wechselte unaufhörlich, auf mancherlei Art, da die Nebel nirgend sich recht halten können, und von den verschiedenen die Bergklüfte durchziehenden Winden stets in anderen Formen getrieben werden.

Diese Übel sind indeß eine Wohlthat für diese hohen Bergspitzen. Sie erhalten noch das wenige d?nne und zarte Gras, das hier oben wächst, und das sonst gänzlich vertro?nen müßte, weil so selten Regen fällt. Ungewitter haben sie gar nicht, und sie hören den Donner nur aus der Tiefe.

Ich aß mit meinem Kapuziner, und war froh, einmal wieder gekochtes Fleisch zu finden; denn im Urseler Thal hatt' ich nichts als etwa Fische und ein paarmal geräuchertes Murmelthierfleisch, das gut ist. Unser Kapuziner brachte uns, als es Nacht war, mich und meinen Bedienten, jeden in ein besonderes, enges, aber sehr reinliches Schlafcabinetchen, worin reinliche Betten waren, nur wegen der hohen Luft etwas kühl. Ich schlief gut, und erwachte unter den lieblichsten Träumen. Sobald ich erwacht war, sah ich meine Träume erfüllt, indem ich ans Fenster sprang, und den ganzen Himmel heiter, die Gegend im lieblichsten Morgenschimmer erleuchtet sah. Dieß [130] Glück konnte ich mir am gestrigen Abend noch nicht versprechen.

Ich machte mich also eilend zurecht, und nachdem mich mein Kapuziner mit einer Tasse guter Chocolate – denn sie nehmen hier alle ihre Lebensmittel aus Italien – bedient hatte, machte ich mich davon, um meine Absicht zu erfüllen, nämlich den gegenüber liegenden Pettinenberg, oder Monte Fibia, wie ihn der Kapuziner nannte, zu ersteigen, und mich also rühmen zu können, auf der höchsten Spitze von Europa gestanden zu sein, Ich unternahm diese Reise allein, ob mir gleich mein Kapuziner eine Strecke weit das Geleit gab, mit der Warnung, mich nicht zu verirren, und mich bei dem Heruntersteigen in Acht zu nehmen. Ich hielt Ersteres für unmöglich, weil ich immer das Kapuziner-Hospiz konnte vor Augen sehen, und mich kein Baum noch Strauch an der Aussicht verhinderte, doch hätte ich's fast zuletzt erfahren. Alles freute mich, und ich lief wie ein Begeisterter. Der Tag war ganz heiter, aber die Sonne nicht wärmer, als bei uns an einem schönen Märztage. Ich war eine Stunde lang so fortgeklettert über gehäufte hohe Felsstücke und durch Thäler von eisichtem Schnee. Immer wurde mir indeß der Berg noch höher und größer, und ich sah, daß ich noch gute zwei Stunden brauchte, um seine Spitze zu erreichen. Ich richtete also meinen Weg nach der Seite von Italien zu, um dieses glückliche Land, so viel ich konnte, zu übersehen, Ich machte mich bis an den Rand dahin; nun legt' ich mich ruhig hin und übersah die Gegend. Das ganze Lernier-Thal lag ausgestreckt vor mir da, und in demselben wohl mehr als zwölf bis vierzehn italienische Dörfer. Der Tessin strömte an ihnen vorbei, und durchschnitt mit seinem Glanze das Thal. An den untersten Wänden der Berge sah man schon wieder Wälder aufsteigen, und überhaupt schon den Anfang der Fruchtbarkeit, die dieses Land beglückt.

Nun wandt' ich meinen Blick und sah gegen Deutschland [131] zu über die Spitzen der höchsten Alpen weg, deren Gipfel wie Meereswellen sich erhoben, Der Anblick ist unaussprechlich. Ich sehnte mich nach Italien, und da ich fand, daß mein Schicksal mir für dießmal nicht dahin zu gehen erlaubte, so rief ich mir aus meinem Vaterlande das Liebste von meinen Freunden her, und theilte mit ihnen den Anblick und den Genuß meiner Freuden und meines Herzens.

Immer noch verweilt' ich hier und wollte nimmer von diesem Platze weichen. Ich grub ein Andenken in den Felsen, welches wohl schwerlich irgend ein Wandrer besuchen wird, und nahm mir dafür ein Blümchen, das ich dabei fand, mit.

Mein Herabsteigen war äußerst beschwerlich. Ich hatte schon ein paarmal die Glocke des Hospiz läuten hören, weil der Pater mich erinnern wollte, es sei Zeit zum Essen, und zuletzt glaubte, es sei mir etwas zugestoßen. Sie konnten mich nicht mehr aus dem Hospiz mit dem Perspectiv sehen. Es war nach ein Uhr Mittags, als ich herabstieg. Ich brauchte beinahe zwei Stunden, und verirrte mich alle Augenblicke in Felsen, so daß ich einmal einen heftigen Sprung wagte, und als ich dabei fiel, Beinkleider und Strümpfe mir sogleich von den Gliedern herunterriß.

Endlich kam ich gegen drei Uhr, zu großer Freude des Paters, wieder in dem Hospiz an, und nachdem ich eine gute Mahlzeit zu mir genommen, machte ich mich zum weitern Marsch fertig.