Johann Christoph Gottsched
1700 - 1766
Der Biedermann
1727
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0:3 | Achtes Blatt 1727. den 23. Junii.___________________________________________________________
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0:4 | HORATIUS. |
0:5 | Quid voveat dulci nutricula majus alumno; |
0:6 | Quam sapere, & fari ut possit quae sentiat? ___________________________________________________________
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29:1 | DIe freundliche Einladung, so ich in dem ersten Blatte an meine Leser ergehen |
29:2 | lassen, zu meinem Vorhaben einen beliebigen Beytrag zu thun; hat eine |
29:3 | so gute Wirckung gehabt, daß ich bereits ein sehr wohlabgefaßtes Schreiben, |
29:4 | voll gründlicher Gedancken bekommen; welches ich meinen übrigen Lesern zur |
29:5 | Aufmunterung gantz ungeändert mittheilen will. Es lautet so:
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29:6 | Mein ehrlicher Biedermann, |
29:7 | DIe Abbildung, welche Ihr in dem ersten Stücke eurer wöchentlichen Blätter von |
29:8 | Euch selbst gegeben, hat in mir ein Verlangen nach eurer Freundschaft erwecket. |
29:9 | Ihr werdet mich nicht tadeln, wenn ich dasselbe zu stillen suche. Ich richte mich hierinnen |
29:10 | nach Eurem Exempel. Ihr liebt denjenigen, an welchem Ihr etwas Gutes findet. |
29:11 | Sollte ich nicht dergleichen thun, da ich so viel löbliches auf einmahl an Euch gewahr werde? |
29:12 | Ich verlange Euch nicht von Person zu kennen, weil ich bey meinen Freunden auf die |
29:13 | Gestalt, Schönheit und Geschicklichkeit ihres Leibes am wenigsten zu sehen pflege. Wenn |
29:14 | ich gnugsame Proben von ihrem erleuchteten Verstande und redlichen Hertzen habe, so |
29:15 | halte ich mich vor glücklich, ihre Freundschaft zu besitzen. Ich wünsche, durch ihr Licht, |
29:16 | das Gute, das ich noch nicht weiß, zu erkennen, und durch ihre Aufrichtigkeit meine Fehler |
29:17 | entdeckt zu sehen, welche mich verhindern, täglich vollkommener, und durch diese |
29:18 | Vollkommenheit immer mehr und mehr glückseeliger zu werden. Sehet! das ist die Absicht, welche |
29:19 | ich durch eure Freundschaft zu erhalten gedencke. Ich begehre dieselbe noch nicht in |
29:20 | so hohem Grade zu besitzen, als euer geliebter Sophroniscus. Ihr habt noch nicht Ursache, |
29:21 | mich so sehr als ihn zu lieben: Denn ich bin Euch zur Zeit noch unbekannt. Jedoch ich |
29:22 | will Euch die Eigenschaften meiner Seele in etwas beschreiben. |
29:23 | Der gütige Schöpfer hat mir die Kräfte des Verstandes in einem solchen Maasse |
29:24 | gegeben, daß ich nicht weiß, wie ich ihm genung davor dancken soll. Ein anderer würde |
29:25 | sich zwar beschweren, wenn er mit der Kraft, etwas zu behalten, in so geringem Grade |
29:26 | als ich, versehen wäre. Ich aber glaube, daß es zu meinem Vortheile dienet. Wieviel unnütze |
29:27 | und schädliche Sachen vergesse ich gantz leichte, da es einem andern, bey seinem guten |
29:28 | Gedächtnisse schwer ankommt, dieselben aus der Acht zu lassen? Was vor Vergnügen |
29:29 | bringt es mir nicht, so offt ich das Gute, welches ich niemahls zu vergessen gesonnen bin, fleissig |
29:30 | wiederhole? Ich gedencke dadurch unaufhörlich an dasselbe, und diese Erinnerung |
30:1 | macht, daß ich dessen Süßigkeit allemahl von neuem empfinde; welches ein Mensch von |
30:2 | gutem Gedächtniß entbehren muß. Denn er ist zu nachläßig, sich dasselbe so vielfältige |
30:3 | mahl vorzustellen, weil er glaubt, daß er es niemahls vergessen könne. Meine Einbildungs=Kraft |
30:4 | ist so groß, als es der Zustand meiner übrigen Gemüthskräfte erfordert. Ich |
30:5 | finde sie bey andern in weit höherm Grade: Allein ich vermuthe auch, daß sie entweder |
30:6 | dabey mit einer gleichen Kraft ausgerüstet sind, ihren Ausschweifungen Grentzen zu setzen; |
30:7 | oder daß sie, wo es ihnen daran fehlet, tausendfachem Verdruß unterworffen sind, dessen |
30:8 | ich überhoben seyn kan. Sie macht mir durch Erdichtung unzehliger und vergebner |
30:9 | Einwürfe die Erkenntniß der Wahrheit nicht schwer. Sie stellet mir das Ubel, welches |
30:10 | ich zu erwarten habe, nicht grösser vor, als es in der That ist, und schmeichelt mir mit keinen |
30:11 | wichtigern Vortheilen, als ich würcklich erhalten kan So werde ich weder durch eine |
30:12 | vergebene Furcht zusehr niedergeschlagen; noch durch eine falsche Hoffnung zusehr betrogen. |
30:13 | Ich halte die Kraft zu urtheilen vor die stärckste Kraft meines Verstandes; wiewohl |
30:14 | ich derselben nicht zuviel zutraue, indem ich oft gewahr werde, daß ich geirret habe, da ich |
30:15 | es nicht gemeynet hätte. Ich bemühe mich, durch Fleiß und Ubung sie zu verbessern. Denn |
30:16 | nachdem ich den rechten Geschmack der Wahrheit in etwas bekommen habe, so finde ich, |
30:17 | daß nichts lieblichers sey als eben dieselbe. Ich suche sie mit grossem Eifer; und weil sie |
30:18 | am ersten in der Gesellschaft vernünftiger Leute gefunden wird, so freue ich mich, wenn ich |
30:19 | in derselben Bekanntschaft gerathen kan. Jede Wahrheit, die ich erkannt habe, suche ich |
30:20 | auszubreiten: Ich hüte mich aber, dieselbe niemand aufzudringen. |
30:21 | Mein Wille ist verderbt, wie der Wille aller anderer Menschen, und die übeln Gewohnheiten, |
30:22 | in welche er durch Irrthum und Nachahmung böser Muster gerathen ist machen |
30:23 | dem Verstande seine Herrschaft über denselben zuweilen noch etwas schwer. Es thut |
30:24 | ihm wehe, wenn er sich derselben entschlagen soll; er wiedersetzt sich, oder wo es mit Gewalt |
30:25 | nicht angehen will, so ist er so listig, daß er den Verstand durch einen verstellten Gehorsam |
30:26 | einschläfert, damit er ihn destoweniger in seinem Vorsatze hindere. Allein anietzo |
30:27 | bemühe ich mich bis in sein innerstes zu dringen, und hoffe in der Entdeckung des Ursprunges, |
30:28 | aus welchem seine Kraft herstammet, das Mittel zu finden, ihn derselben, so viel möglich, |
30:29 | zu berauben. Ihr werdet mir durch eure Schriften dazu behülflich seyn; oder zum |
30:30 | wenigsten melden, ob ich mich mit einer vernünftigen Art zu verbessern trachte, so oft ich |
30:31 | mir die Freyheit nehmen werde, Euch dieselbe zu beschreiben. Ich zweifle an einer guten |
30:32 | Würckung im geringsten nicht. Ich habe bereits angemercket, daß er sich überwinden |
30:33 | lässet, wenn er mit Vernunft und Nachdruck angegriffen wird. Urtheilet aus dieser aufrichtigen |
30:34 | Entwerffung meiner innerlichen Beschaffenheit, ob ich eurer Freundschaft werth |
30:35 | bin; und wenn ich in dieselbe aufgenommen werden kan, so vergönnet, daß ich auch gleich |
30:36 | das erstemahl eine Probe davon fordere. Ihr sollt mir eure Meynung entdecken, ob der |
30:37 | Rath gültig sey, welchen ich einem meiner guten Freunde gegeben habe? |
30:38 | Herr Ehrlieb heisset derjenige, von welchem hier die Rede ist. Er hat schon seit |
30:39 | einigen Jahren auf einer berühmten Universität gelebt, und sein vernünftiger Vater, welcher |
30:40 | bey seinen guten Verdiensten bereits ein rühmliches Alter erreichet hat, läßt sich die |
30:41 | Absicht seines Sohnes wohl gefallen. Denn er hat zur Zeit noch nicht Ursache gefunden, |
30:42 | zu glauben, daß sein Sohn etwas anderes im Sinne führe, als ein nützliches Mitglied der |
31:1 | menschlichen Gesellschaft, und die Freude seiner werthesten Eltern zu werden. Andere, |
31:2 | welchen es weniger angehet als ihn, und die sonst keine Schuldigkeit haben, sich um fremde |
31:3 | Handlungen zu bekümmern, als welche ihnen ihre Neugierigkeit aufleget, verlangen |
31:4 | zu wissen, warum Ehrlieb sich so lange auf Universitäten aufhalte, und ob er willens |
31:5 | sey, sein Glücke daselbst zu suchen? Ehrlieb, der sich nicht schämet, einem iedweden von |
31:6 | seiner redlichen Absicht Rechenschaft zu geben, war entschlossen, diese zwey Fragen zu |
31:7 | beantworten; und weil er mir sein gantzes Hertze vertrauet hat, so nahm er auch ietzo seine |
31:8 | Zuflucht zu mir. Ich gab ihm darauf folgenden Bescheid. |
31:9 | Man will von euch wissen, sprach ich, warum ihr so lange auf der Universität verziehet? |
31:10 | Ihr werdet nicht besser antworten können, als wenn ihr sagt, daß ihr nirgends |
31:11 | mehr Gelegenheit fändet, als eben hier ein geschickter und vernünftiger Mensch zu werden. |
31:12 | Die meisten besuchen die hohen Schulen nur zu dem Ende, damit sie in drey Jahren lernen |
31:13 | mögen, was man insgemein bey denjenigen Aemtern, zu welchen sie sich von Kindesbeinen |
31:14 | an gewidmet, von ihnen zu fordern pflegt. Was sie in ihr Gedächtniß nicht bringen können, |
31:15 | das verwahren sie so lange in ihren Schriften, bis sie es bey Gelegenheit wiederum |
31:16 | mit gutem Vortheile an Mann bringen. Das ist der Lauff der Welt. Man muß aber hierinnen |
31:17 | anders gesinnet seyn. Die Erfahrung lehret, daß nicht alles, was man vor Wahrheit |
31:18 | ausgiebt, die richtige Probe halte. Dadurch muß man mißtrauisch werden, und nicht |
31:19 | eher ruhen, als bis man durch eine gründliche Uberzeugung ausser allen Zweifel gesetzet |
31:20 | wird. Es kostet viel Mühe dahin zu gelangen. Ich will eben nicht sagen, daß es schwer sey, |
31:21 | von einer Wahrheit überzeugt zu werden. Wenn die Sache deutlich vorgestellet, und |
31:22 | der Beweiß gründlich geführet wird, so ist nichts leichters als dieses. Allein wenn der |
31:23 | Verstand, durch eine üble Anführung, einmahl verwirret, und zum blinden Glauben angeführet |
31:24 | worden, so muß man aus allen Kräften arbeiten, wenn man sein Gemüthe von |
31:25 | diesen erschrecklichen Hindernissen befreyen, und zur vernünftigen Erkenntniß der Wahrheit |
31:26 | gewöhnen will. Wer dabey zugleich genöthiget ist, vor seinen Unterhalt zu sorgen, |
31:27 | wie kan sich der in Sinn kommen lassen, in weniger Zeit seinen Zweck zu erlangen? Und |
31:28 | was ist der Zweck eines Gelehrten? Nichts anders als eine gründliche Erkenntniß der |
31:29 | Wahrheit. Saget also, daß Euch die Begierde zur Wahrheit, und die Gelegenheit, solche |
31:30 | allda am besten zu finden, wo sie mit Fleiß von so vielen wackern Köpfen gesucht wird, |
31:31 | verpflichte, einen so nützlichen Ort so bald nicht zu verlassen. |
31:32 | Wenn sie euch fragen, ob ihr euer Glücke daselbst suchen wollt? so müst ihr die Frage |
31:33 | zuerst von ihrer Dunckelheit befreyen, ehe ihr geschickt darauf antworten könnt. Sein |
31:34 | Glücke suchen, heist sich in den Stand der Vergnügung setzen. Das geschieht anders auf |
31:35 | philosophische, anders nach der gemeinen Weise. Ein Philosoph befördert sein Vergnügen |
31:36 | durch Erlangung wahrer Vollkommenheiten; und zu diesen kan er kommen, er mag |
31:37 | sich befinden, wo er wolle. Die meisten Menschen suchen ihr Glücke in den äusserlichen |
31:38 | Umständen, und weil sie die besten in einem austräglichen Amte, oder in einer reichen Heyrath |
31:39 | anzutreffen gedencken, so richten sie auch darauf hauptsächlich ihre Gedancken. Es können |
31:40 | nur wenige Menschen durch Aemter versorgt werden, und es giebt nicht allenthalben |
31:41 | reiche Väter, die ihre Töchter mit einer herrlichen Aussteuer versehen können. Da ero |
31:42 | haben dergleichen Leute auch nöthig, ihr Glücke sehr mühsam zu suchen. Ein ehrliches |
32:1 | Amt, und eine vergnügte Heyrath geben freylich ein wahres Vergnügen; weil sie aber |
32:2 | ausser dem Menschen sind, und also in seiner Gewalt nicht stehen, so sorget ein Philosoph |
32:3 | nicht ängstlich davor: doch ergreifft er die Gelegenheit, welche sich ihm zur Erlangung |
32:4 | solcher Güter darbietet. Saget also, schloß ich darauf, daß Ihr im philosophischen Verstande |
32:5 | nicht nöthig habt, euer Glücke zu suchen; weil ihr dasselbe bereits besitzet: oder wo |
32:6 | ihr dasselbe in einem noch höhern Grade genüssen wollet, dasselbe in keiner Stadt, auch in |
32:7 | keinem Lande, sondern in euch selbst suchet. Saget aber auch, daß ihr keine Gelegenheit |
32:8 | versäumen würdet, in ein Amt zu treten, wenn sich dasselbe zu euren Kräften schickete: |
32:9 | oder eine Frau zu nehmen, die den wahren Caracter einer vernünftigen Freundin hätte; |
32:10 | wenn ihr nur erst in dem Stande seyn würdet, sie ehrlich zu ernähren. |
32:11 | Dieses waren meine Gedancken, welche ich dem Herrn Ehrlieb gantz aufrichtig entdeckte. |
32:12 | Gefallen sie Euch, mein werther Biedermann, so werde ich sie vor gut halten. Habt |
32:13 | Ihr dabey etwas zu erinnern, so werde ich es mit Danck annehmen. Lebet wohl. Ich bin |
32:14 | Euer |
32:15 | Freystadt den 14. Jun. aufrichtiger Freund |
32:16 | 1727. Gotthold Redlich.
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32:17 | Eine so offenhertzige Abbildung, als Herr Redlich von seiner Gemüths- und Lebensart, |
32:18 | im Anfange dieses Schreibens gegeben, zeiget sattsam an, daß er sich diesen Nahmen |
32:19 | nicht mit Unrecht gewehlet habe. Es leuchtet auch aus seinem tiefen Erkenntnisse seiner |
32:20 | selbst, ein so durchdringender Verstand hervor, daß man wohl sehen kan, wie eifrig |
32:21 | sich derselbe den Gebrauch und die Verbesserung desselben habe angelegen seyn lassen. Dieses |
32:22 | alles sind solche gute Eigenschaften, die mich von sich selbst reitzen, den rechtschaffenen |
32:23 | Herrn Ehrlich zu lieben, wenn er mir gleich nicht mit seiner Liebe zuvorgekommen wäre; |
32:24 | und mich also verpflichtet hätte, ihm aus Erkenntlichkeit meine Gegenliebe zu schencken. |
32:25 | Ich sehe Euch also, mein lieber Herr Redlich, vor vollkommen geschickt an, in eine genauere |
32:26 | Freundschaft mit Euch zu treten, als man mit dem gantzen menschlichen Geschlechte |
32:27 | treten kan. Ihr habt die Fähigkeit, nicht nur andrer Menschen, sondern auch meine |
32:28 | Glückseeligkeit insbesondere zu befördern. Ich wünsche, daß Ihr nicht unterlassen möget |
32:29 | beydes zu thun, und erbiete mich wiederum, Euch nach Möglichkeit alle Dienste zu |
32:30 | erweisen, die nach Beschaffenheit meiner Umstände, in meinen Kräfften stehen. |
32:31 | Die Anschläge, so Ihr eurem Freunde gegeben habt, sind überaus vernunftmässig. |
32:32 | Es ist wahr, daß der meiste Theil unsrer lieben Mitbürger und Brüder keinen |
32:33 | rechten Begriff von Glück und Unglück hat; und ich werde mirs angelegen seyn lassen, |
32:34 | in dem nechsten Blatte, ihnen einige Anleitung zu geben, wie sie sich von ihren Irrthümern |
32:35 | in diesem Stücke befreyen sollen. Euch, mein Geliebter, sehe ich schon auf dem |
32:36 | rechten Wege, und erfreue mich darüber. Helfet mir nur auch andere zurechtbringen, |
32:37 | die durch den Schein einer falschen Glückseeligkeit verblendet worden, nach Dingen zu |
32:38 | streben, die sie entweder nicht glücklicher; oder wohl gar noch unglücklicher machen. |
32:39 | Die Glückseeligkeit kan nicht blindlings gefunden werden: Wer ihrer |
32:40 | theilhaftig werden will, der muß erst wissen, |
32:41 | wo er sie suchen soll. |