Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
Die Leidendes jungen Werthers
Zweyter Theil
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am 8. Dez.
Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in dem jene Unglüklichen müssen gewesen seyn, von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's, es ist nicht Angst, nicht Begier! es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreissen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! Und dann schweif ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen Jahrszeit.Gestern Nacht mußt ich hinaus. Ich hatte noch Abends gehört, der Fluß sey übergetreten und die Bäche all, und von Wahlheim herunter all mein Liebesthal überschwemmt. Nachts nach eilf [173] rannt ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel. Vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln zu sehn, über Aekker und Wiesen und Hekken und alles, und das weite Thal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes. Und wenn denn der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich herrlichen Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach! Mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund, und athmete hinab! hinab, und verlohr mich in der Wonne, all meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen. Oh! Und den Fuß vom Boden zu heben! Vermochtest du nicht und alle Qualen zu enden! – Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen – ich, fühl's! O Wilhelm, wie gern hätt ich all mein Menschseyn drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreissen, die Fluthen zu fassen. Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zu Theil! –[174] Und wie ich wehmüthig hinab sah auf ein Plätzgen, wo ich mit Lotten unter einer Weide geruht, auf einem heissen Spaziergange, das war auch überschwemmt, und kaum daß ich die Weide erkannte! Wilhelm. Und ihre Wiesen, dacht ich, und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt vom reissenden Strome, verstört unsere Lauben, dacht ich. Und der Vergangenheit Sonnenstrahl blikte herein – Wie einem Gefangenen ein Traum von Heerden, Wiesen und Ehrenämtern. Ich stand! – Ich schelte mich nicht, denn ich habe Muth zu sterben – Ich hätte – Nun siz ich hier wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zäunen stoppelt, und ihr Brod an den Thüren, um ihr hinsterbendes freudloses Daseyn noch einen Augenblik zu verlängern und zu erleichtern. |