BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

____________________________________________

 

 

 

am 24. Dec.

 

Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich hab es voraus gesehn. Es ist der pünktlichste Narre, den's nur geben kann. Schritt vor Schritt und umständlich wie eine Baase. Ein Mensch, der nie selbst mit sich zufrieden ist und dem's daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern leicht weg, und wie's steht so steht's, da ist er im Stande, mir einen Aufsaz zurükzugeben und zu sagen: er ist gut, aber sehen sie ihn durch, man findt immer ein besser Wort, eine reinere Partikel. Da möcht ich des Teufels werden. Kein [119] Und, kein Bindwörtchen sonst darf aussenbleiben, und von allen Inversionen die mir manchmal entfahren, ist er ein Todtfeind. Wenn man seinen Period nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt; so versteht er gar nichts drinne. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu thun zu haben.

Das Vertrauen des Grafen von C. ist noch das einzige, was mich schadlos hält. Er sagte mir lezthin ganz aufrichtig: wie unzufrieden er über die Langsamkeit und Bedenklichkeit meines Gesandten sey. Die Leute erschweren sich's und andern. Doch, sagt er, man muß sich darein resigniren, wie ein Reisender, der über einen Berg muß. Freylich! wär der Berg nicht da, wäre der Weg viel bequemer und kürzer, er ist nun aber da! und es soll drüber! –

Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm giebt, und das ärgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, übels gegen mich vom Grafen zu reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die Sache nur schlimmer. Gestern gar bracht er mich auf, denn [120] ich war mit gemeint. Zu so Weltgeschäften wäre der Graf ganz gut, er hätte viel Leichtigkeit zu arbeiten und führte eine gute Feder, doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangelt es ihm, wie all den Bellettristen. Darüber hätt ich ihn gern ausgeprügelt, denn weiter ist mit den Kerls nicht zu räsonniren; da das aber nun nicht angieng, so focht ich mit ziemlicher Heftigkeit, und sagt ihm, der Graf sey ein Mann, vor dem man Achtung haben müßte, wegen seines Charakters sowohl, als seiner Kenntnisse; ich habe, sagt ich, niemand gekannt, dem es so geglükt wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über unzählige Gegenstände zu verbreiten, und doch die Thätigkeit für's gemeine Leben zu behalten. Das waren dem Gehirn spanische Dörfer, und ich empfahl mich, um nicht über ein weiteres Deraisonnement noch mehr Galle zu schlukken.

Und daran seyd ihr all Schuld, die ihr mich in das Joch geschwazt und mir so viel von Aktivität vorgesungen habt. Aktivität! Wenn nicht der mehr thut, der Kartoffeln stekt, und in die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als ich, [121] so will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin.

Und das glänzende Elend die Langeweile unter dem garstigen Volke das sich hier neben einander sieht. Die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen, einander ein Schrittgen abzugewinnen, die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Rökgen! Da ist ein Weib, zum Exempel, die jederman von ihrem Adel und ihrem Lande unterhält, daß nun jeder Fremde denken muß: das ist eine Närrin, die sich auf das Bißgen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche einbildet – Aber es ist noch viel ärger, eben das Weib ist hier aus der Nachbarschaft eine Amtschreibers Tochter. – Sieh, ich kann das Menschengeschlecht nicht begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich so platt zu prostituiren.

Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber, wie thöricht man ist andre nach sich zu berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu thun habe, und dieses Herz und Sinn so stürmisch ist, ach ich lasse gern die andern ihres Pfads gehen, wenn sie mich nur auch könnten gehn lassen.

[122] Was mich am meisten nekt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weis ich so gut als einer, wie nöthig der Unterschied der Stände ist, wie viel Vortheile er mir selbst verschafft, nur soll er mir nicht eben grad im Wege stehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Glük auf dieser Erden geniessen könnte. Ich lernte neulich auf dem Spaziergange ein Fräulein von B.. kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben erhalten hat. Wir gefielen uns in unserm Gespräche, und da wir schieden, bat ich sie um Erlaubniß, sie bey sich sehen zu dürfen. Sie gestattete mir das mit so viel Freymüthigkeit, daß ich den schiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von hier, und wohnt bey einer Tante im Hause. Die Physiognomie der alten Schachtel gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein Gespräch war meist an sie gewandt, und in minder als einer halben Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräulein nachher selbst gestund: daß die liebe Tante in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom [123] anständigen Vermögen an bis auf den Geist keine Stüzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm, als den Stand, in dem sie sich verpallisadirt, und kein Ergözzen, als von ihrem Stokwerk herab über die bürgerlichen Häupter weg zu sehen. In ihrer Jugend soll sie schön gewesen seyn, und ihr Leben so weggegaukelt, erst mit ihrem Eigensinne manchen armen Jungen gequält, und in reifern Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehrne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und starb, und nun sieht sie im eisernen sich allein und würde nicht angesehn, wär ihre Nichte nicht so liebenswürdig.