Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
Die Leidendes jungen Werthers
Erster Theil
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am 16. Juli.
Ach, wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehns den ihrigen berührt, wenn unsere Füsse sich unter dem Tische begegnen. Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts, mir wirds so schwindlig vor allen Sinnen. O und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt, und im Interesse der Unterredung näher zu mir rückt, daß der himmlische Athem ihres Mundes meine Lippen reichen kann. – Ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt. Und Wilhelm, [67] wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen – Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach! schwach genug! Und ist das nicht Verderben?Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weis nimmer, wie mir ist, wenn ich bey ihr bin, es ist als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte. Sie hat eine Melodie, die sie auf dem Clavier spielt mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll, es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift.Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich, wie mich der einfache Gesang angreift. Und wie sie ihn anzubringen weis, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor'n Kopf schiessen möchte. Und all die Irrung und Finsterniß meiner Seele zerstreut sich, und ich athme wieder freyer. |