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Der Brief, den mein Gemahl aus der Stadt Tobolskoy in Siberien an mich geschrieben, ist folgender:
Liebste Gemahlinn,
Ich hoffe, daß ihr noch lebt, weil es mein Herz wünscht, und ich hoffe so gar, daß dieser Brief, den ich in dem entferntesten und schrecklichsten Theile der Welt schreibe, gewiß in eure Hände kommen soll. Ein Pohlnischer Jude, der nach Tobolskoy handelt, und im Begriffe steht, wieder nach Pohlen abzureisen, ist mein Freund und großer Wohlthäter geworden, und vielleicht wird er gar mein Befreyer aus der Gefangenschaft. Ich habe ihm vor einem Jahre in einem nah an der Stadt gelegnen Gehölze, wo ich nach dem Willen meines Schicksals noch, wie andre Unglückliche, auf Zobel ausgehn mußte, das Leben erhalten, und ihn aus dem Schnee, in den er mit dem Pferde gefallen und fast schon erfroren war, mit der größten Gefahr errettet. Dieser Mann ist auf die edelste Art dankbar gewesen, und hat mir bewiesen, daß es auch unter dem Volke gute Herzen giebt, das sie am wenigsten zu haben scheint. Er hat nicht eher geruht, biß er mich vor den Gouverneur gebracht, bey dem er seines Reichthums wegen in Ansehn steht. Herr, sprach er, dieser Schwedische Officier hat mir, wie ihr wißt, das Leben erhalten, und ich habe Dankbarkeit und Geld genug, ihn zu ranzioniren. Der Gouverneur antwortete, daß dieses nicht bey ihm stünde, und daß er ohne Befehl von dem Hofe keinen Menschen freygeben könnte. Darauf gab ihm der Jude einen Beutel mit Golde und bat, daß er mir die beschwerlichen Dienste eines ins Elend Verwiesenen erlassen möchte. Der Gouverneur versprach ihm dieses, doch unter der Bedingung, daß er täglich etliche Copicken für mich erlegen sollte. Mein Wohlthäter bezahlte das Geld mit Freuden auf ein ganzes Jahr zum voraus und bat sich zugleich aus, daß er mich in dem Gefangenhofe einen Tag um den andern besuchen dürfte. Doch ehe ich euch meine itzigen Umstände weiter beschreibe, so muß ich euch erst sagen, wie mirs seit drey Jahren in Siberien gegangen ist, und wie ich in dieses Land gekommen bin.
Wenn ihr meinen letzten Brief aus Moskau erhalten habt: so werdet ihr wissen, daß Sidne, Steeleys Anverwandter, nunmehr mit uns an einem Orte verwahret wurde. Das Geld, das Steeley von seinen Landsleuten aufs neue bekommen, langte einige Monate zu, unsere äusserlichen Umstände zu verbessern. Wir durften nicht bloß von der elenden Kost leben, die man den Gefangnen reichte. Wir konnten wenigstens zu Mittage etwas bessers haben. Wir hatten dem Aufseher lange angelegen, uns einige Englische oder Französische Bücher zum lesen zu verschaffen; allein wir erhielten keine. Er gab uns etliche Russische Chroniken, und einen Popen, oder Geistlichen, der uns diese Sprache lehren sollte. Wie froh waren wir, daß wir etwas zu thun bekamen. Es waren sehr mittelmäßige Bücher, und dennoch lasen wir sie wohl zehnmal durch. Wir konnten wenigstens, so lange wir sie lasen, nicht an unser Elend denken, und dieser Vortheil war groß genug für die Mühe, die wir anwenden mußten, wenn wir die Geschichte der alten Barbarischen Fürsten in Rußland verstehn wollten. Unser Pope vertrieb uns durch seinen Unterricht in der Sprache alle Tage etliche Stunden für ein geringes Geld. Er brachte endlich einige kleine Bücher mit, welche von der Griechischen Religion handelten. Er war so unwissend darinn, als man nur seyn kann. Steeley widersprach ihm nach seiner Gemüthsart sehr oft, und so wenig er noch das Russische sprechen konnte: so konnte er doch genug, um ihn zu widerlegen. Ich und Sidne baten ihn oft, es nicht zu thun, weil wir nach und nach viel Bosheit bey dem Popen merkten. Da endlich unser Geld alle wurde und der Pope auf die letzt meistens betrunken zu uns kam: so dankten wir diesen Geistlichen ab. Dieses verdroß ihn. Er schalt auf Steeleyn und den armen Sidne, der ihm das letzte Geld für seine Unterweisung auszahlte. Wir suchten ihn bald durch gute Worte, bald durch Stillschweigen zu besänftigen; aber vergebens. Der Brandtwein und eine niederträchtige Seele tobten aus ihm, und er lärmte und schrie, biß die Wache hereintrat. Sie fragte, was es wäre, und der Bösewicht beschuldigte uns, daß wir wider den Zaar und die Kirche gesprochen hätten. Die Wache ward über diese Beschuldigung so rasend, daß wir in der Gefahr waren, umgebracht zu werden. Der Oberaufseher kam und versprach dem Popen Genugthuung; wir aber wurden gleich als die größten Missethäter geschlossen. Ach meine Gemahlinn, soll ich euch unsere damalige Angst beschreiben? soll ich euch alles sagen? Wir wurden den andern Tag zum Verhör gebracht. Der Pope, dessen Wort unbetrüglich war, widerholte seine Beschuldigung zuerst gegen Steeleyn. Mein Freund berufte sich auf seine Unschuld; aber vor diesem schrecklichen Gerichte galt sie nicht. Man verfuhr nach ihrer barbarischen Gewohnheit, die Wahrheit vor Gerichte herauszubringen. Man ließ ihn niederwerfen und ihm die Bodoggen geben, damit er bekennen sollte. Er stund diese Marter vor unsern Augen standhaft aus und ließ unter den Händen der Barbaren, die ihn mit zwey Stäben auf den blossen Leib schlugen, nicht die geringste Klage hören. Als seine Qvaal vorüber war, ohne daß man ihm ein Geständniß hatte abzwingen können, so kam die Reihe an den unglückseligen Sidne. Der Pope bekannte wider ihn, und Sidne, der mit tausend Thränen und Bitten dieser Marter vergebens zu entgehn suchte, ward endlich nieder gerissen. Ich wollte das Gesicht wegwenden, um seiner Qvaal nicht mit zuzusehn; allein die Wütriche nöthigten mich, der nächste Zeuge davon zu seyn. Er erduldete sie, ohne sie zu überleben. Sobald man ihm die gesetzte Zahl von Streichen gegeben hatte: so lag er ohne Bewegung da. Man nahm ein Geschirr Wasser und goß es ihm über das Gesicht, um ihn wieder zu sich selbst zu bringen; doch es war kein Leben in ihm; und dieses befremdete unsere Richter um desto weniger, weil viele von den Angeklagten unter dieser Marter das Leben einbüssen. Steeley war wegen seines Unvermögens bey Seite geschafft; Sidne war todt, und ich erwartete, ohne mir recht bewußt zu seyn, mein Schicksal. Der boshafte Pope verlohr entweder mit dem Leben des Sidne seine Rachbegierde, oder er hielt sich von mir am wenigsten beleidiget. Er beschuldigte mich keiner Lästerungen wider den Staat, er begehrte nur, daß ich gestehen sollte, daß meine beiden Cameraden welche ausgestoßen hätten. Ich vertheidigte mich, daß ich von nichts wüßte. Man befahl, eben die Marter an mir vorzunehmen. Man legte mich auf die Erde und fragte noch einmal, ob ich nichts gehört hätte. Die Furcht vor der Pein und vor dem Tode bestürmten mich entsetzlich. Dennoch beschloß ich eher zu sterben, als durch ein falsches Bekenntniß mir das Leben zu retten und es Steeleyn vielleicht zu nehmen. Ich weis nicht, ob mein trauriger Anblick den Popen zum Erbarmen bewegte; genug, er bat für mich um Gnade und sagte, daß ich vielleicht die Lästerungen nicht könnte verstanden haben, weil ich nicht so viel Russisch könnte, als die andern beide. Man ließ mich also wieder aufstehn und brachte mich in unser Gefängniß zurück, in welchem ich Steeleyn sinnlos antraf. Ich warf mich zu ihm auf das harte Lager und umarmte ihn mit der einen Hand; denn mit der andern war ich noch geschlossen. Er sprach die ganze Nacht kein Wort und lag in einem fühllosen Schlummer. Der Morgen brach an. Ich redte auf meinen Freund und er schlug endlich zu meiner Freude die Augen auf und reichte mir die Hand. Unser Aufseher kam und erkundigte sich, ob Steeley noch lebte. Er ließ mir die Banden abnehmen und schien uns beide zu bedauern. Ich versicherte ihn bey allem, was heilig ist, daß mein Freund so unschuldig wäre, als ich. Das hilft euch nichts, sprach er. Das Zeugniß des Popen, als eines Geistlichen, gilt, und ihr seyd beide verurtheilt, nach Siberien geschickt zu werden. Gott helfe euch! ich kann euch nicht helfen, sonst muß ich alles von dem Popen befürchten. Seyd zufrieden, wenn euch die Zunge nicht aus dem Halse geschnitten wird, ehe ihr nach Siberien verwiesen werdet; denn dieses widerfährt denen, die wider den Staat, oder die Kirche gesprochen haben. Warum seyd ihr so unvorsichtig gewesen und habt den Popen beleidigt? In ein Paar Tagen wird man euch nebst andern Gefangnen nach Siberien schicken. Ich werde euch wohl nicht wieder sehn. Ich warf mich neben Steeleyn nieder, der immer noch in seiner Betäubung lag, und wenigstens itzt glücklicher war als ich, weil er sich seiner nicht mehr bewußt zu seyn schien. An Statt, daß der Aufseher mir einen Trost hätte zusprechen sollen: so foderte er für die grausame Nachricht, und für seine Dienste überhaupt, noch eine Belohnung. Ich griff in Steeleys Taschen, um für ihn etwas zu suchen; allein die Wache hatte ihm alles genommen. Da der Aufseher kein Geld mehr sah: so schien der Schatten von seinem Mitleiden zu verschwinden. Er gieng mißvergnügt fort und ließ mich in einem Zustande liegen, den ich euch nicht beschreiben kann. Ich versank in Schwermuth und Traurigkeit. Von Gott und Menschen in meinen Gedanken verlassen, und feindselig im Herzen wider beide, schlief ich schrecklicher Mensch ein, indem ich mir den Tod tausendmal wünschte. Es war viele Nächte kein Schlaf in meine Augen gekommen, und meine zerstörten und ermatteten Geister hatten eine lange Ruhe nöthig, wenn sie wieder zu sich selbst kommen sollten. Ich glaube, daß ich länger als vier und zwanzig Stunden in einem Stücke geschlafen habe. Ich erwachte und sah meinen Freund mit aufgeschlagnen Augen neben mir liegen. Er fragte mich, wo Sidne wäre, denn er war weggeschafft worden, ehe Sidne starb. Ich konnte ihm nicht antworten. Ist er todt? ach wenn doch Gott das wollte! so wäre er glücklicher, als wir. So ist er nicht mehr in den Händen der Henker? Ich sagte ihm, daß er todt wäre. Ich fragte ihn, ob er noch große Schmerzen empfände, und er fragte mich, ob ich sie noch sehr fühlte, denn er glaubte, daß ich seine Marter ebenfalls ausgestanden hätte. Also hat man euch verschont? fieng er, nach meiner Erzählung, an. Nun bin ich doppelt zufrieden. Sidne ist todt, und ihr habt meine Qvaal nicht gefühlt. Für beides müssen wir Gott danken.
Ich konnte ihm die Nachricht von unsrer Verweisung nach Siberien nicht länger verschweigen. Ich sagte ihm, was ich von dem Aufseher gehört hatte. Er schien durch das erlittene Unglück schon so unempfindlich geworden zu seyn, daß ihn Siberien nicht mehr schreckte. Als ich aber davon anfieng, daß man uns vielleicht noch grausamer begegnen würde: so rang er die Hände. Nein, nein, schrie er, lieber den Tod, tausendmal lieber, als jenes. Wollt ihr noch leben, wenn man euch so mißhandelt? Wir überliessen uns der Wut und der Verzweiflung vom neuen. Indem trat der Aufseher in unser Gefängniß und kündigte uns an, daß man uns Morgen früh nach Siberien abführen würde. Wird man uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun? Nein, sprach der Russe, nichts mehr, ihr seyd beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Arbeit verwiesen zu werden. Nun schien uns das größte Elend geringe zu seyn, da wir nur hörten, daß man keine weitere Gewalt an uns ausüben wollte; und wir fanden in dem Verlußte dieser Furcht eine Art des Trostes, den uns alles andere nicht hätte geben können. Steeley wollte dem Aufseher noch eine Belohnung geben, allein sein Geld war ihm genommen. Nachdem er lange gesucht, fand er endlich noch zween Rubel. Er stund vor Freuden zum erstenmale von seinem Lager auf und sagte dem Aufseher, daß er seinen Reichthum mit ihm theilen wollte. Dieser war auch so menschlich, daß er ihm die Hälfte zurück gab. Steeley fragte darauf, wo man den todten Körper des Sidne hingethan hätte, ob er ihn nicht noch einmal sehn könnte. Der Russe antwortete, daß man ihn schon an dem Orte eingescharret hätte, wo die Missethäter begraben würden. Er liege, wo er wolle, fieng er mit einem thränenden Ungestüm an, er ist doch ein ehrlicher Mann und mein Freund: es ist ihm unrecht geschehn – Ich rief ihm zu, daß er schweigen und sich aus Liebe zu seinem todten Freunde nicht noch unglücklicher machen sollte. Er fragte, ob es nicht noch möglich wäre, einen von seinen Landsleuten zu sprechen; aber daran war nicht mehr zu gedenken. Nunmehr nahm unser Aufseher Abschied. Wir dankten ihm unaussprechlich für seine Menschenliebe, ob wir sie gleich meistens erkauft hatten. Wir umarmten ihn und fragten ihn immer, ob es auch gewiß wäre, daß man uns nichts weiter thun würde. Er versicherte uns dieses mit dem größten Eide, den sie in ihrer Sprache haben. Wir wollten ihm noch etwas Geld geben, daß er uns zu essen schaffen sollte; denn es war wohl der dritte Tag, daß wir nichts zu uns genommen hatten. Auf einmal ward er großmüthig und sagte, daß er uns zu essen und auch ein Glas Brandtwein auf unsere traurige Reise, und Steeleyn ein Pflaster über den Leib bringen wollte, welches ihm gute Dienste thun würde. Er hielt sein Wort und brachte uns, was er uns versprochen hatte. Wir assen den Abend ziemlich ruhig und ergaben uns in alles, was uns begegnen würde, weil wir sicher waren, daß uns fast nichts schrecklichers begegnen konnte, als was wir schon ausgestanden hatten. Der Schmerz, den Steeley noch in dem Leibe fühlte, minderte sich durch das empfangne Pflaster. Der Morgen brach an, ohne daß wir geschlafen hatten, und man foderte uns zur Reise auf. Der Aufseher empfahl uns dem Officier, der uns zu den übrigen acht Gefangnen führte, welche mit uns nach Siberien sollten gebracht werden, und welche, wie ich nachdem erfuhr, meistens vornehme Russen und wegen der Rebellion verdächtig waren. Wir wurden alle zehn auf zwey Fahrzeuge vertheilt, und ich hatte gleich das Unglück, daß man Steeleyn von mir trennte und auf den andern Wagen wies. Mehr hatte zu meinem Elende nicht gefehlt. So wie wir auf einer Station ankamen, mußten wir auch wieder fortgebracht werden, also kam Steeley niemals zu mir, und ich habe auf dem ganzen Wege nichts, als einzelne Worte, mit ihm sprechen können. Drey von meinen Gefährten waren Russen, und ihre Herzen waren so wild, als ihre Gesichter. Ihr Unfall machte ihre Gemüther nur mehr erbittert, und sie schämten sich, daß sie, als Rußische Knees, mit einem Schweden und einem Franzosen, denn dieses war mein vierter Gefährte, ein gleiches Unglück theilen sollten. Der Franzose, der Major gewesen war, und sich unglücklicher Weise seinem Obersten mit dem Degen widersetzt hatte, ward bald mein Vertrauter, und wir waren um desto glücklicher, weil die Russen kein Französisch verstunden. Er hatte die edlen Meinungen einer guten Erziehung im Felde nicht verlohren; und so unterschieden seine Gemüthsart von der meinigen war: so machte uns doch das Unglück schon halb zu Freunden. Er hatte ein von Natur ehrliches Gemüth, und das Mißtrauen, das ich anfangs bey ihm merkte, verlohr sich völlig, da er mein Herz kennen lernte. Ich bildete ihn auf unserm elenden und beschwerlichen Wege so, wie ich ihn haben wollte, und wie er seyn mußte, wenn er mir Steeleys Verlust einiger massen ersetzen sollte. Je näher wir Siberien kamen, desto unfreundlicher wurden wir an denen Orten aufgenommen, wo man uns weiter fortschaffen mußte. Wir achteten die Niederträchtigkeiten, ich und Remour, so hieß der Franzose, kaum mehr, mit denen man uns begegnete. Wir bleiben doch rechtschaffene Leute, sprach der Major immer zu mir, wenn uns gleich der Pöbel verunehrt. Er, ich, und die vornehmen Russen, wir waren einer so arm, als der andre; und wenn wir auch etwas gehabt hätten: so würde uns doch der Pöbel, oder unsere eigene Bedeckung nichts gelassen haben; so feindselig geht man mit denen um, die das Unglück haben, nach Siberien bestimmt zu seyn. Wir hatten nichts als trocknes Brodt, und auch damit waren wir zufrieden. Die Kälte quälte uns am meisten. Niemand empfand sie mehr als der arme Steeley an seinem mißhandelten Körper. Nach ungefehr sechs oder sieben Wochen kamen wir in Tobolskoy an, wohin wir verwiesen waren. Wir fanden, daß ichs kurz sage, hier alles, was eine Gegend fürchterlich und das Leben eines ins Elend Verwiesenen traurig machen kann. Wir wurden dem Gouverneur vorgestellt und ich hatte das Unglück von meinem lieben Steeley getrennt zu werden; doch blieb mir Remour. Der Gouverneur legte uns allen nach der eingeführten Gewohnheit einerley Schicksal auf, nämlich die elende Beschäftigung, Zobel zu fangen, deren Felle an den Russischen Hof geliefert werden. Stellt euch vor, was ein Mann von meinem Stande und von meiner Gemüthsart fühlen muß, der sich zu der niedrigsten Verrichtung verdammet sieht, der mit stumpfen Pfeilen in den Wäldern herumirren und Zobel erlegen, oder sie mit Fallen fangen, und unter den Befehlen solcher Menschen stehen muß, die nicht viel vernünftiger, und oft grausamer, als Thiere sind. Wenn nicht die größte Plage durch die Länge der Zeit etwas von ihrer Last verlöre; wenn nicht die größten Beschwerlichkeiten dem Körper endlich zur Gewohnheit würden, oder, daß ich mehr sage, wenn Gott denen, die ohne ihre Schuld unglücklich sind, nicht selbst ihr Schicksal durch ihre Unschuld und durch die geheimen Vergnügungen eines guten Gewissens in gewissen Stunden erleichterte: so würde mein Zustand in Siberien ein Stand der Verzweiflung gewesen seyn. So elend jeder Tag verstrich: so fand ich doch wenigstens alsdann eine Beruhigung, wenn ich meinen Remour sehn und sprechen, und das, was mir begegnet war, und auch das, was ich ihm schon hundertmal gesagt hatte, in seine Seele ausschütten konnte. Ein Sclave zu seyn, bleibt allemal das größte Unglück; allein einen Freund in diesem Elende zum Gefährten zu haben, ist zugleich die größte Wohlthat. Eine Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm, alles ist ein Trost, der sich nicht ausdrücken läßt, alles ist Mitleiden; und was sucht ein unglückliches Herz, das der Nothwendigkeit elend zu seyn unterworfen ist, mehr, als Mitleiden? Ich würde undankbar gegen mein Schicksal seyn, wenn ich, da ich euch mein Ungemach erzähle, nicht auch der kleinen Annehmlichkeiten gedächte, die der Elendeste noch in seinen Umständen zuweilen empfindet. Die Natur der Dinge scheint sich, den Unglücklichen zu gefallen, oft zu verändern; und das, was mir im Glücke eine Betrübniß gewesen seyn würde, ward mir im Unglücke ein Trost. Ich habe, seit dem ich so glücklich bin, weniger ein Sclave zu seyn, diesen Spuren der Vorsehung oft mit tiefer Ehrfurcht, obgleich mit einem innerlichen Schauer, nachgedacht. Vielmal habe ich, wenn ich der Verzweiflung am nächsten war, und in der Ferne einen andern Verwiesenen erblickte, in diesem Anblicke einen Trost gefunden. Der Tod selbst, der uns sonst so schrecklich scheint, ist mir tausendmal zur Wollust geworden, und der Gedanke von ihm, der uns sonst niederschlägt, hat mich unter der Last, unter der ich seufzte, recht göttlich aufgerichtet. Ich bin in der Vorstellung, daß ich in dieser oder jener Nacht vielleicht sterben könnte, oft so freudig eingeschlafen, als ob ich alles hätte, was ich wünschte. Und wenn ich um und neben mir kein Vergnügen erblicken konnte: so brachte mir die Religion doch oft die Freuden aus einer andern Welt herüber. Nachdem ich also drey Jahre in einer vollkommenen Knechtschaft zugebracht, und, gleich den andern Gefangnen, mir das Brodt aus den Händen meiner Gebieter durch eine gewisse bestimmte Anzahl der Thiere, die wir fiengen, erkaufen müssen: so ereignete sich die Begebenheit mit dem Pohlnischen Juden. Dieser dankbare Mann, wie ich euch schon erzählt habe, hat mich durch seine Vorbitte bey dem Gouverneur und durch sein erlegtes Geld von der Arbeit befreyet. Er hat es nach und nach so weit gebracht, daß ich in ein lichter und geraumer Behältniß gekommen bin. Sobald ich dieses nur hatte: so suchte er mir meine Gefangenschaft noch mehr zu erleichtern. Er brachte mir ein beqvemes Kleid und entriß mich dem groben und wilden Anzuge, in welchem ich nun schon so lange gegangen war. Schreckliches Kleid, das noch hier vor meinen Augen hängt und mich an das vorige Unglück erinnert! Er brachte mir allerhand Decken und Pelzwerke zum Schlafen, wiewohl mich diese Anfangs nur an dem Schlafe hinderten. Eine lange Gewohnheit, hart zu liegen, hatte sie fast unnütz für mich gemacht. Er besuchte mich oft, und niemals, ohne mir eine Gutthat zu erweisen. So sehr mein Zustand von dem vorigen unterschieden war: so war er mir doch nicht angenehm genug, weil ich ihn nicht mit Steeleyn oder mit Remourn, theilen konnte. Von Steeleyn hatte mein Wohlthäter auf mein Bitten die Nachricht eingezogen, daß er nach Pohem, vierzehn Tagereisen von Tobolskoy, gebracht worden wäre, ob er aber noch lebte, das konnte ich nicht erfahren. Der Jude hatte mir ein Geschenk von ein Duzend Dukaten gemacht, damit ich in seiner Abwesenheit etwas zu meiner Versorgung hätte. Ich wagte es und bat ihn, daß er drey davon Remourn überbringen, oder ihm einige Erquickungen dafür schaffen möchte, die übrigen hub ich in Gedanken für Steeleyn auf. Er that es, und das war nicht genug: er brachte es noch denselben Tag dahin, daß Remour etliche Stunden zu mir gelassen wurde. Ich theilete mein Herz mit ihm und alles, was ich hatte. Ich hoffte dieses Vergnügen noch mehrmal zu geniessen; allein er ward darauf krank und starb; und ich erhielt nicht eher, als etliche Stunden vor seinem Tode die Erlaubniß ihn zu besuchen, da er kaum noch etliche Worte stammeln konnte. Der Jude setzte, wie er mir versprochen hatte, seine Besuche fleißig fort. Er gab mir allerhand Anschläge, allerhand Nachrichten von dem Gouverneur, und sagte mir, daß er bey dem Zaar in grossen Gnaden stünde, daß er mit ihm in Deutschland gewesen wäre, daß seine Gemahlinn aus Curland gebürtig und eine Vertraute der Catharina gewesen sey. Er erzählte mir ferner, daß der Gouverneur ein grosser Liebhaber vom Bauen wäre, und daß ich, wenn ich etwas von der Baukunst verstünde, mir vielleicht gar seine Gnade erwerben würde. Dieß war mir eine sehr angenehme Nachricht. Ich sagte ihm, daß ich zeichnen und Risse zu Gebäuden machen könnte, und wenn er mir die nöthigen Sachen schaffte, so würde ich wenigstens eine Beschäftigung in meiner Einsamkeit mehr haben. Er that es, und ich übte mich einige Wochen. Sobald ich einen nicht ungeschickten Riß fertig hatte: so trug ihn der Jude zum Gouverneur. Den andern Tag wurde ich schon zu ihm geholt. Er verstund zu meinem Glücke etwas von der Baukunst, und würdigte mich, als mein Befehlshaber, etlicher freundlichen Minen und unterredte sich mit mir bald auf deutsch, bald im gebrochnen Latein. Er erschrack, daß ich so fertig Latein sprechen konnte, und von diesem Augenblicke an schien er mich zu bedauern. Wenn es bey mir stünde, sprach er, so wollte ich euch die Freyheit schenken; allein ihr seyd auf zeitlebens nach Siberien verbannet, und ich kann nichts thun, als euch eure Gefangenschaft erträglicher machen. So lange ich lebe, soll euch alle Arbeit der Gefangnen erlassen seyn, ohne daß der Jude etwas weiter für euch bezahlt. Seyd ihr damit zufrieden? Ich bedankte mich sehr ehrerbietig und sah ihn beweglich an. Ihr könnt leicht denken, warum ich ihn nunmehr bat. Ich nahm alle meine Beredsamkeit zusammen, um ihn zu bewegen, daß er einem Freunde von mir, der zugleich mit mir nach Siberien verwiesen worden, und Steeley hiesse, eben die Großmuth erzeigen sollte, die er mir erwiesen hätte. Ihr bittet mehr, fieng er an, als mir zu thun frey steht. Ich will mich entschliessen. Itzt könnt ihr gehn und mir den Riß von dem Gebäude machen, von dem ich mit euch gesprochen habe. Indem er dieses noch sagte, trat ein sehr schönes Frauenzimmer mit einer viel versprechenden und großmüthigen Mine in das Zimmer. Wartet, rief er mir zu. Hier, meine Gemahlinn, fuhr er fort, ist der unglückliche Schwede, von dem ich euch neulich gesagt habe. Wenn es euch gefällt, so könnt ihr selbst mit ihm reden, und ihm etwas zu essen reichen lassen. Ich will ein Paar Stunden auf die Jagd reisen. Er gieng fort, und seine Gemahlinn redte auf eine sehr liebreiche Art mit mir, und sagte, daß sie Ursache hätte, an meinem Unglücke Theil zu nehmen, weil ich, wie sie hörte, ein halber Landsmann von ihr wäre. Sie that tausend Fragen an mich und belohnte meine Erzählungen mit einer mitleidigen Aufmerksamkeit und mit einer Höflichkeit, die mir alle Furcht benahm, frey und edel mit ihr zu reden. Nichts hörte sie lieber als die vortheilhaften Beschreibungen, die ich ihr von euch machte, und die Wünsche, euch, meine Gemahlinn, wieder zu sehn. Ich bedaure sie, fieng sie an, nachdem sie wohl zwo Stunden mit mir gesprochen hatte; und ich würde ihren Verdiensten ein besser Schicksal anweisen, wenn ich dem Hofe näher wäre. Vielleicht ist es möglich, daß ich mit der Zeit noch etwas zur Rückkehr in ihr Vaterland beytragen kann. Die ausnehmende Liebe, die sie wider die Gewohnheit ihres Geschlechts für ihre Gemahlinn haben, und ihr Unglück sind genug, mich zu ihrer Freundinn zu machen, und ich kann ihnen meine Hochachtung nicht entziehn, wenn gleich ihre Gebieter ihnen als einem Sclaven begegnen. Gefällt ihnen mein Mitleiden: so beruhigen sie sich damit in einem Lande, wo die Barbarey die Stelle der Tugend zu vertreten scheint. Ich würde diesen Mittag mit ihnen speisen, wenn ich meinem Willen folgen dürfte. Darauf langte sie von der Tafel, die schon gedeckt war, eine Flasche Wein, und trank mir eure Gesundheit zu. Ich ward von ihrer Großmuth bis zu den Thränen gerühret, und es war mir unmöglich, ihr meinen wahren Nahmen länger zu verschweigen. Ich warf mich zu ihren Füssen. Madam, fieng ich an, sie verdienen, daß ich ihnen auf den Knien für die Freundschaft danke, die sie mir Unglücklichen schenken. Ich muß ihnen alles sagen, wenn auch mein Bekenntniß mit der Gefahr meines Lebens verknüpft seyn sollte. Alles ist wahr, was ich ihnen erzählt habe, allein ich heisse nicht Loewenhoek. Nein, ich bin der Graf von G** und ich bitte sie bey ihrer edlen Seele und bey meiner Gemahlinn, meinen Namen nicht zu entdecken. Sie hob mich freundlich auf, und ich erzählte ihr mein Unglück bey der Armee. O Gott! rief sie, sind sie der Graf von G**? Mein Gemahl hat ihren Vater als Gesandten in Moskau gekannt. Unglücklicher Graf! Sagen sie ihm ja nichts davon. So viel ich Ursache habe mit seiner Aufführung gegen mich zufrieden zu seyn: so hat er doch gegen andere ein hitziges und rachgieriges Herz, und wie bald könnte es nicht geschehn, daß sie ihn wider ihren Willen beleidigten. Begegnen sie ihm ja allezeit mit einer tiefen Unterwerfung, und alsdann am allermeisten, wenn er am gnädigsten mit ihnen umgeht, ausserdem stehn sie in der Gefahr, noch weit mehr zu erfahren. Er liebt das Geld, und es wird gut für sie seyn, wenn ihm der Jude von Zeit zu Zeit ein Geschenk macht. Ich habe kein Geld, fuhr sie fort, um ihnen zu dienen: allein ich habe Juwelen, von denen mein Gemahl nichts weis, davon will ich ihnen einige holen. Der Jude ist ein ehrlicher Mann und wird ihnen doch wenigstens die Hälfte so viel dafür geben, als sie werth sind; allein ich wollte es nicht gern, daß sie ihm sagten, von wem sie solche bekommen hätten. Sie brachte mir darauf zwo goldne Einfassungen, die wie ich muthmaßete, von ein Paar Portraits abgenommen waren. Sie waren mit kostbaren Steinen besetzt. Nehmen sie, sprach sie, dieses Geschenk als einen Beweis an, daß es mir nicht an dem Willen fehlt, ihr Elend zu mindern. Ich zweifle, daß ich iemals wieder die Gelegenheit erhalten werde, sie allein zu sprechen: darum wiederhole ich ihnen mein Mitleiden und meine Hochachtung, und bitte sie, in mir auch alsdann ihre Freundinn zu erkennen, wenn ich genöthigt seyn werde, die Person einer Gebieterinn anzunehmen. Begeben sie sich nunmehr wieder in ihren einsamen Auffenthalt. Ich will sehn, ob ichs bey meinem Gemahle so weit bringen kann, daß ihr Freund, von dem sie mir erzählt haben, zu ihrer Gesellschaft hieher verlegt wird. Gewiß kann ichs ihnen nicht versprechen. Gehn sie und leben sie wohl, armer Graf! Ich kehrte als im Triumpfe zurück, und hielt mich nunmehr unter den Händen der Barbaren für geehrt und glücklich; so sehr erfüllte das Mitleiden dieser so großmüthigen Seele mein Herz mit Hoheit und Hoffnung. Mein Jude besuchte mich den Tag darauf. Und ehe ich ihm erzählte, wie ich von dem Gouverneur aufgenommen worden: so sagte ich ihm, daß ich so glücklich gewesen wäre, in dem alten Kleide meines verstorbenen Freundes, das er, da er bey mir war, zurück ließ, weil ich ihm ein neues gab, und das ich itzt vor mich hingelegt hatte, einige Kostbarkeiten zu finden, wodurch ich ihm vielleicht die Kosten ersetzen könnte, die er als mein Freund für mich zeither aufgewandt hätte. Er betrachtete die beiden Einfassungen mit Erstaunen und schien mein Vorgeben zu glauben. Das sind fürstliche Kostbarkeiten, fieng er an, und ich kann euch meine Aufrichtigkeit nicht besser beweisen, als daß ich euch sage, daß sie fünf bis sechs tausend Thaler werth sind. Wollt ihr mir sie anvertrauen: so will ich sie euch bey einem Juden, der Steine einkauft, verhandeln. Ein Mann, sprach ich, der mir so viel Gutes erwiesen hat, wie ihr, verdient das größte Vertrauen. Allein, versetzte er, was wollt ihr mit so vielem Gelde anfangen? Man könnte es euch über lang oder kurz nehmen. Wißt ihr, was ich machen will? Ich will das Geld, das ich dafür bekomme, bey einem Juden, der hier wohnhaft ist, niederlegen; er soll euch nicht um einen Groschen betriegen. Ich will ihm, und wenn ich binnen acht Tagen wieder zurück nach Polen reise, auch dem Gouverneur sagen, daß ich euch als dem Erhalter meines Lebens so und so viel zu eurer Versorgung, und wenn es möglich wäre, zu eurer baldigen Befreyung zurückgelassen hätte. Kurz, ich war alles zu frieden. Er verkaufte die Juwelen für fünftausend Thaler und brachte mir tausend baar und das Uebrige durch eine Anweisung mit. Ich bot ihm für seine treuen Dienste zweyhundert Thaler an; allein er nahm sie unter keiner andern Bedingung, als daß er sie bey seiner Abreise dem Gouverneur schenken wollte, damit er mir günstig bliebe. Dieß ist geschehn. Er hat mir durch meinen lieben Juden versprechen lassen, daß ich Steeleyn gewiß zu mir bekommen sollte, zumal wenn er auch etwas von der Baukunst verstünde. Der Jude selbst steht nunmehr im Begriffe fortzureisen. Ich verliere sehr viel an diesem treuherzigen Manne; doch ich will ihn gern verlieren, wenn er das Werkzeug ist, durch den ihr von mir und ich von euch eine Nachricht erhalte. Er kennt meinen wahren Stand, und er hat mirs auf die heiligste Art versprochen, weder mich zu verrathen, noch zu ruhn, bis er euern Aufenthalt in Liefland ausfündig gemacht. In dieser letzten Absicht hat er hundert Thaler zu Reisekosten von mir angenommen. Er kömmt, der ehrliche Mann, und will Abschied nehmen und seinen Brief haben. Ich umarme euch, wo ihr auch seyd, mit der treusten Liebe. Möchten doch meine Umstände so bleiben, wie sie itzt sind! so hoffe ich noch, euch wieder zu sehn und alle mein ausgestandnes Elend in euern Armen zu vergessen. Bittet den Himmel um diese Glückseligkeit. Ja, meine liebste Gemahlinn, er wird sie uns noch schenken.
P. S. Ich habe, weil Steeley noch nicht zugegen ist, an seinen Vater nach London, und auch an den Englischen Gesandten nach Stockholm geschrieben, und unter dem Namen Loewenhoek beiden von meines Freundes neuem Unglücke Nachricht gegeben.
Dieses sind die beiden Briefe, die mein Gemahl in seiner Gefangenschaft an mich geschrieben. Er hat von dem Abgange des letzten Briefs an, ungefehr noch anderthalb Jahre in Siberien zugebracht. Ich will das übrige so erzählen, wie er mirs mündlich erzählet hat.
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