BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Glückel von Hameln

um 1646 - 1724

 

Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln

übersetzt von Alfred Feilchenfeld

 

Einleitung

 

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[1]

Einleitung

 

Helden der Tat und des Geistes, auch Männer und Frauen der großen Welt haben oft schon am End" eines reichen und wechselvollen Lebens das Veijangen empfunden, das, was sie selbst gewirkt oder von ihrer hohen Warte aus erschaut haben, der Nachwelt zu überliefern. Aber die Vorgänge, die in ihren Sphären sich abspielen, und die Umgebung, aus der sie ihre Beobachtungen schöpfen, stehen ohnehin schon im Vordergrunde des Interesses und geben auch sonst mannigfachen Anlaß zur Erforschung und Aufzeichnung. Seltener kommt es vor, daß aus einfachen Lebensverhältnissen auch einmal eine Stimme aus der Vergangenheit zu uns dringt und uns von Menschenschicksalen erzählt, die sich fern vom großen Weltgetriebe vollzogen haben. Eine solche Stimme ist es, die aus den Lebenserinnerungen der Glückel Hameln, einer schlichten Hamburger Jüdin des 17. Jahrhunderts,, uns entgegentönt.

Zu den am wenigsten geachteten Ständen und Menschenklassen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörten noch im 17. Jahrhundert unzweifelhaft die Juden. Mochten auch sonst die Anschauungen des Mittelalters durch das Wiederaufleben der Wissenschaften und durch die Reformation etwas zurückgedrängt worden sein, mochte auch durch die großen Entdeckungen und Erfindungen der Gesichtskreis der Menschen sich im allgemeinen erweitert haben, so hatte doch den Juden [2] gegenüber auch in jener Zeit allgemeinen geistigen Aufschwunges das Mittelalter noch nicht aufgehört. Das Jahrhundert des großen Krieges aber, durch den der materielle Wohlstand unseres Vaterlandes gebrochen und die Gemüter aufs äußerste verroht wurden, war gewiß nidht dazu angetan eine mildere, menschenwürdigere Behandlung der im Reiche verstreuten Juden herbeizuführen. Noch warer die barbarischen Ausweisungen, die in vielen Teilen des Reiches über die Juden verhängt worden waren, nicht zurückgenommen, und wo die Unglücklichen geduldet wurden, da war ihre Existenz auch meist nur von den Launen absoluter Herrscher und ihrer Ratgeber, von der Willkür weiser und manchmal auch gar unweiser Stadtobrigkeiten abhängig; Die großen reichsunmittelbaren Handelsstädte des deutschen Nordens hatten den Juden am längsten ihre Tore verschlossen und wußten ihnen nach ihrer Aufnahme durch kleinliche Schikanen am meisten das Leben zu verleiden. In Hamburg, der Vaterstadt Glückels, war es hauptsächlich die damals zu großer Macht gelangte «erbgesessene Bürgerschaft», die im Gegensatz zu dem weitblickenderen Rate den Nutzen der jüdischen Einwanderung für die Entwicklung des städtischen Gemeinwesens nicht einsehen wollte und den dort ansässigen Juden portugiesischer und deutscher Nation die Existenz nach Möglichkeit zu erschweren und zu verkümmern suchte.

Glückel ist im Jahre 1646 in Hamburg als Tochter eines der ersten deutschen Juden, die dort die «Stättigkeit», d. i. die Erlaubnis zur Niederlassung, erhalten haben, geboren und hat mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens daselbst zugebracht, ihren Namen Hameln verdankt sie [3] der sagenumwobenen Heimat ihres Gatten Chajim Hameln, mit dem sie fast dreißig Jahre in glücklichster Ehe verbunden war. Der Drang ihre Erlebnisse aufzuzeichnen erwachte in ihr nach dem Tode ihres Gatten, der sie als 43-jährige Witwe mit einer großen Zahl unmündiger Kinder zurückließ (1689). Tagsüber nahm die Sorge für das weitverzweigte Geschäft, dem sie von nun an allein vorstand, und für die Erziehung ihrer Kinder ihre angestrengteste Aufmerksamkeit in Anspruch. In schlaflosen, tränenvollen Nächten aber fühlte sie oft das Verlangen sich von den melancholischen Gedanken loszuringen, die ihr Herz bewegten, und ihr Leid und ihre Klagen in verschwiegene Blätter auszuströmen, die nur ihrer Kinder Augen dereinst erblicken sollten. Mehr und mehr gestaltet sich in ihr ein fester schrift­stellerischer Plan. «So viel mir bewußt ist und so viel es sich tun läßt, will ich beschreiben von meiner Jugend an, was mir noch eingedenk ist, was passiert ist.» Sie nimmt sich vor dieses Programm «in sieben kleinen Büchlein» durchzuführen und sie hat diesen Plan auch verwirklicht, freilich in etwas anderer Art, als sie am Anfang gedacht hatte. Denn die zwei letzten Bücher der uns vorliegenden «Memoiren» sind in einer viel späteren Periode ihres Lebens (1715 - 19) hinzugefügt, als sie längst ihrer Vaterstadt Hamburg den Rücken gekehrt und ein zweiter zu Metz geschlossener Ehebund einen traurigen Abschluß gefunden hatte. In Metz, wohin sie (1700) in der Aussicht auf ein glänzendes Los gekommen war, mußte sie die schwersten Enttäu­schungen und Bitternisse erleben. Ihr zweiter Gatte, der hochgeachtete Bankier Cerf Levy, verlor nicht lange nach seiner Vermählung mit ihr sein [4] ganzes Vermögen und ließ sie wenige Jahre nachher in Armut und Unselbständigkeit zurück. Im Hause ihrer verheirateten Tochter in Metz verlebte sie dann noch eine ruhige, sorgenfreie Zeit, bis sie im Jahre 1724 als Greisin von beinahe 80 Jahren ins Grab sank.

Die Lebensgeschichte, die sie uns hinterlassen hat, läßt in ihrer einfachen, treuherzigen Schilderung das ehrliche Bestreben erkennen die Resultate eigener Wahrnehmungen oder zuverlässiger Mittei­lungen anderer genau wiederzugeben. Es kann wohl vorkommen, daß sie in Einzelheiten und namentlich in Zahlen (die man ja immer als die schwache Seite der Frauen betrachtet) kleine Irrtümer begeht. Aber jede Schönfärberei ist ihr fremd und sie ist weit davon entfernt durch Ineinanderweben von Dichtung und Wahrheit ihre Erlebnisse interessanter zu gestalten oder auch nur ihre Darstellung abgerundeter zu machen. Sie verschweigt sogar manchmal, um sich von übler Nachrede fernzuhalten, schonend die Namen derer, die ihr oder ihrem Gatten unrecht getan haben. Aber bei aller Zurückhaltung, die sie sich auferlegt, wirkt sie doch gerade durch die Schlichtheit ihrer Erzählung fesselnd und sie zeigt ein klares, sicheres Urteil über Personen und Zustände ihrer engeren und weiteren Umgebung.

Sei es, daß sie über Familienangelegenheiten oder über Vorgänge des geschäftlichen Lebens berichtet, sei es, daß sie die Verhältnisse ihrer Heimatgemeinde oder gar die hohe Politik in den Kreis ihrer Be­trachtungen zieht: überall erweist sie sich als eine kundige Be­obachterin des Lebens, zeigt sie reges Interesse und tiefes Verständnis für alles, was die Herzen der Menschen im [5] großen wie im kleinen bewegt. Wie klug und treffend urteilt sie z. B. über das Verhältnis der beiden Großmächte Schweden und Dänemark, die zwar 1658 Frieden miteinander geschlossen haben, aber doch noch immer einer auf den andern «picken»! (S. 20.) Wie klar erkennt sie den tieferen Grund der Verfolgungen und Schikanen, denen die deutschen Juden in Hamburg zu ihrer Zeit ausgesetzt waren, in dem zu großen Einfluß der erbgesessenen Bürgerschaft! (S. 18.)

Glückels Buch enthält eine reiche Fülle tatsächlichen Materials, das unsere Kenntnis der äußeren Geschichte der deutschen Juden und ihres Kulturzustandes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts außerordentlich erweitert. Namentlich wird das Bild von dem dama­ligen Leben der Juden in Hamburg und Altona durch Glückels Darstel­lung in mannigfacher Beziehung bereichert und vervollständigt. So gibt sie uns z. B. Kunde von den ersten Einwanderungen mittel­deutscher Juden nach Altona, das damals noch unter der Herrschaft der Grafen von Schaumburg stand, von dem heimlichen Vordringen einzelner dieser Altonaer Juden nach Hamburg und den mannigfachen Fährnissen, die sie dort durchzumachen hatten. (S. 14 ff., 24 ff.) Auch verdanken wir ihr interessante Aufschlüsse über einen sonst nur andeutungsweise bekannten Mordprozeß, der im Jahre 1687 in Altona gegen einen Hamburger Judenmörder eingeleitet wurde und zur Hinrichtung des Mörders führte. (S. 210–225.) Der bei weitem größte Teil dessen, was Glückels Lebenserinnerungen uns schildern, spielt sich auf dem Boden ihrer Vaterstadt Hamburg ab, für die sie trotz des Druckes, unter dem die Juden damals dort zu leiden hatten, eine [6] rührende Liebe und Anhänglichkeit zeigt. Aber auch mit vielen anderen jüdischen Gemeinden Deutschlands hat sie durch geschäftliche Beziehungen und durch Verheiratung ihrer zahlreichen Kinder Verbindungen angeknüpft und sie weiß uns von diesen Orten manches Neue und Wissenswertes zu berichten. Spezielle Nachrichten gibt sie uns noch in den letzten Partien ihres Buches von der altehrwürdigen jüdischen Gemeinde Metz, in der sie die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte und deren Gemeindeverhältnisse und führende Persönlichkeiten ihr lebhaftes Interesse erregten.

Manchem Leser dieser Lebenserinnerungen könnte es auffällig erscheinen, welch großes Gewicht die Verfasserin auf sogenannte «gute» Heiratspartien und überhaupt auf den Besitz von Geld und Gut legt. Die weitläufige und umständliche Behandlung dieser Dinge wird jedoch erklärlich, wenn man den ausgeprägten Familiensinn der Juden imd ihre Sorge für die Zukunft ihrer Kinder in Betracht zieht. Der materielle Besitz mußte aber notwendig bei den damaligen Juden eine große Rolle spielen, da das Recht zu leben und zu atmen und der Schutz für ihre Habe und ihren Erwerb ihnen nicht als etwas Selbstverständliches vom Staate gewährt wurde, sondern stets durch große Opfer erkauft werden mußte. Alle die vielen Schikanen und Beschwerden, denen die deutschen Juden jener Zeit ausgesetzt waren, konnten nur durch einen vollen Geldbeutel einigermaßen erträglich gemacht werden. Auch in dieser Beziehung gibt Glückel die Zustände, unter denen ihre Glaubensgenossen lebten, einfach und getreu wieder. Nur selten und nur da, wo ihr gar zu schlimme Wirkungen der [7] Rechtlosigkeit der Juden begegnen, läßt sie sich eine Aeußerung der Klage und des Mißvergnügens entschlüpfen. Von einer hohen Schätzung der materiellen Güter an sich aber ist sie so weit entfernt, daß sie wiederholentlich ihren Kindern zu Gemüte führt, wie wenig der Besitz von Geld und Gut ohne die richtige Erfüllung der Pflichten gegen Gott und die Nebenmenschen zu bedeuten hat.

Das Verdienst, die Aufzeichnungen Glückels der Vergessenheit entrissen zu haben, gebührt dem gelehrten Forscher und hervorra­genden Kenner jüdischen Schrifttums, Professor Dr. D. Kaufmann in Budapest (gest. 1899), der das Original 1896 unter dem Titel «Die Memoiren der Glückel von Hameln» (Frankfurt a. M., Verlag von J. Kauffmann) herausgegeben hat. Die Edition beruht hauptsächlich auf einer Handschrift der früheren – neuerdings der Frankfurter Stadt­bibliothek einverleibten – Merzbacherschen Bibliothek in München, neben der eine zweite, minder vollständige, im Privatbesitz zu Frankfurt a. M. befindliche Handschrift zu Rate gezogen wurde. Die erstere ist, wie auf dem Titelblatt vermerkt, von dem Sohne Glückels, Moses Hameln, damaligem Rabbiner in Baiersdorf, Wort für Wort von der ihm vorliegenden eigenhändigen Handschrift der Verfasserin abgeschrieben. (Siehe Vorwort zu Kaufmanns Ausgabe, S. VII ff.) Statt der in jüdisch-deutschen Werken üblichen Kurrentschrift der Vorlage sind in der Ausgabe Kaufmanns die Buchstaben der bekannteren hebräischen Quadratschrift verwendet. Infolge der ungenauen Wiedergabe mancher deutscher Vokale und Konsonanten in der hebräischen Schrift war es für den Herausgeber nicht [8] immer leicht den genauen Wortlaut zu entziffern und kleine Irrtümer haben sich auch hin und wieder eingeschlichen 1). Aber im ganzen erfüllt die Ausgabe aufs beste den Zweck, die Worte der Verfasserin möglichst getreu wiederzugeben und ihr Werk in seinem ursprünglichen Reize zu erhalten. Charakteristisch für ihre Sprache sind nicht nur die mannigfach eingestreuten Zitate aus der Bibel und den nachbiblischen Schriften des Judentums, sondern auch viele einzelne hebräische Worte, Wendungen und Sätze, durch die die jüdisch-deutsche Darstellung unterbrochen wird. Hauptsächlich mit Rücksicht auf diese Eigentümlichkeit des Werkes hat sich Professor Kaufmann nicht zu einer Veröffentlichung der Memoiren in deutscher Sprache entschlie­ßen können und es vorgezogen, Glückels Lebenserinnerungen in ihrer ganzen eigenartigen Form der Nachwelt zu überliefern.

 

Neujahrsfest. Innenansicht der (Amsterdamer sephardischen) Synagoge,

auf deren mittlerer Estrade ein Schofarbläser steht.

 

Aber nachdem diese Forderung der Wissenschaft Genüge geleistet war, galt es durch Verdeutschung des Originals die neu gewonnene Quelle auch der Benützung vieler zugänglich zu machen.

Die Uebertragung, die hier dargeboten wird, schließt sich dem Wortlaut des Originals nach Möglichkeit an. Doch ist nicht darauf Gewicht gelegt worden, Eigentümlichkeiten des Satzbaues und des Ausdruckes, die unserm deutschen Sprachgefühl störend erscheinen, mit herüberzunehmen. An einzelnen Stellen sind zur Erzielung [9] eines besseren Zusammenhanges kleine Verschiebungen und Zusammen­ziehungen vorgenommen worden. Abgesehen von solchen formalen Aenderungen sind die geschichtlichen und biographischen Partien des Originalwerkes hier vollständig wiedergegeben und, soweit es nötig erschien, durch erläuternde Anmerkungen dem Verständnis näher gebracht 2). Die längeren erbaulichen Erzählungen, die sich im Original vielfach eingestreut finden, sind, um die biographische Darstellung nicht zu unterbrechen, auch um den Umfang des Buches nicht zu sehr anschwellen zu lassen, im Einverständnis mit dem Verlage hier fortgeblieben. Einige Proben aus diesen Märchen und Erzählungen, die uns von dem damals in jüdischen Kreisen beliebten deutschen Lesestoff eine Vorstellung geben, sind im Anhang beigefügt.

Für die Zwecke wissenschaftlicher Spezialforschung, namentlich für die Betrachtung der Darstellungsform, wird natürlich immer auf die Kaufmannsche Originalausgabe zurückgegangen werden müssen, deren Seitenzahlen des bequemeren Vergleichens wegen hier beigefügt sind. Dem Historiker aber, der das reiche geschichtliche Material in Glückels Lebenserinnerungen kennen lernen und verwerten will, und jedem gebildeten Leser, dem daran liegt in ein interessantes Kapitel der Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts Einblick zu gewinnen, hofft der Uebersetzer eine wichtige Quellenschrift, die bisher den meisten verschlossen war, zugänglich gemacht und ihr Verständnis erleichtert zu haben. [10] Insbesondere der Frauenwelt kann dieses Bild einer selbständigen, tatkräftig ins Leben eingreifenden Frau aus einer Zeit, in der an den Kampf für Frauenrechte noch nicht gedacht wurde, reichlichen Stoff zur Betrachtung und Vergleichung darbieten.

Nach Vollendung der vorliegenden Uebertragung erhielt ich durch die Güte des Herrn Dr. Wilhelm Pappenheim in Wien Einblick in die 1910 in Wien erschienene Uebersetzung von Bertha Pappenheim in Frankfurt a. M., die den Inhalt des Kaufmannschen Originals ohne jede Kürzung in getreuem Anschluß an die Worte der Verfasserin wie­dergibt. Die Ausgabe ist ein zunächst für die Mitglieder eines be­stimmten Familienkreises «als Manuskript hergestellter Privatdruck» und erklärt ausdrücklich sich der gelehrten Kritik nicht aussetzen zu wollen. Der sorgfältigen Uebersetzung, aus der ich bei der letzten Durchsicht meines Manuskriptes noch manche Anregung gewonnen habe, sind wertvolle genealogische Tabellen vorausgeschickt, die den Zusammenhang der Familie Hameln mit einigen anderen angesehenen Familien, insbesondere mit den Vorfahren der Uebersetzerin, ersicht­lich machen. Daß die beiden Uebertragungen in der Auffassung vieler Stellen der Memoiren voneinander abweichen, ist selbstverständlich; die Verschiedenheiten bedürfen im einzelnen, schon mit Rücksicht auf die erwähnte Erklärung der Frankfurter Uebersetzerin, keiner näheren Erörterung.

 

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1) Zur Berichtigung solcher Irrtümer hat A. Landau in seinem Aufsatze: Die «Sprache der Memoiren Glückels von Hameln (Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, Jahrg. 1901, S. 20 - 47) und dem dazu gehörigen Glossar (S. 47 - 66) vielfach beigetragen. 

2) Die historischen Erläuterungen zu den ersten Kapiteln gründen sich zumeist auf eigene Forschungen des Uebersetzers zur Geschichte der Juden in Hamburg.