BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Glückel von Hameln

um 1646 - 1724

 

Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln

übersetzt von Alfred Feilchenfeld

 

Erstes Buch

 

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Erstes Buch

Glückels Kindheit und Elternhaus,

äußere Lage und Gemeindeverhältnisse der deutschen

Juden in Hamburg und Altona.

 

Im Jahre 5451 nach Erschaffung der Welt (= 1690/91 n. Chr.) beginne ich dies in meinen großen Nöten und in meinem schweren Herzeleid zu schreiben – Gott möge uns erfreuen und bald unsern Erlöser senden! . . . Meine lieben Kinder, ich habe dieses Buch zu schreiben angefangen nach dem Tode eures frommen Vaters um meine Seele ein wenig zu beruhigen, wenn mir die melancholischen Gedanken kamen und schwere Sorgen mich bedrückten, da wir unsern treuen Hirten verloren haben. So habe ich manche Nacht schlaflos zugebracht, dann bin ich oft aufgestanden, um mir die schlaflosen Stunden damit zu verkürzen. Meine lieben Kinder, ich bin nicht darauf aus, euch ein belehrendes Buch zu schreiben, ich bin auch nicht kapabel dazu, unsere Weisen haben gar viele Bücher zur Belehrung geschrieben und wir haben unsere heilige Thora, aus der wir alles sehen und begreifen können, was uns nützlich ist und was uns von dieser Welt zur künftigen Welt führt – – – Da ist ein Hauptpunkt: [12] Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Aber wir finden es in unserer Zeit sehr selten und gar wenig, daß ein Mensch den andern von Herzen liebt – umgekehrt, wenn einer den andern von Grund auf verderben kann, so geschieht es gern. – – – Es gibt nichts Besseres für euch, liebe Kinder: dient Gott mit eurem ganzen Herzen, ohne alle Falschheit und Heuchelei, daß ihr euch nicht etwa nur vor Leuten so stellet und – Gott behüte – in eurem Herzen anders denket. Euer Gebet sollt ihr mit Andacht und Gottesfurcht verrichten und nicht zur Zeit des Gebetes stehen und über andre Dinge sprechen. Haltet solches für eine Hauptsünde, mitten drin, während man zu dem großen Weltschöpfer betet, mit einem Menschen über eine ganz andre Sache zu reden. Soll denn der liebe Gott so lange auf ihn warten, bis er mit jenem fertig ist? Danach muß man regelmäßig ein Stück aus der Thora lernen, so gut man es weiß und kann, und alsdann fleißig auf seine Nahrung bedacht sein, daß man Weib und Kinder ehrlich ernährt, was auch ein wichtiges Gottesgebot ist, und besonders, daß man sein Geschäft ehrlich treibt, sowohl mit Juden wie mit Nichtjuden, daß nicht – Gott behüte – eine Entweihung des göttlichen Namens vorkommt. Hat man Geld oder Waren von anderen Leuten in Händen, so muß man mehr Sorge dafür haben als für das Eigene, damit man keinem – Gott behüte – ein Unrecht tut. Denn das ist die erste Frage in der künftigen Welt, ob man auch treu im Handel und Wandel war. Wenn man sich auch in dieser Welt viel bemüht und – Gott behüte – viel Geld auf unehrliche Weise gesammelt hat und davon seinen Kindern große Mitgiften gibt und ihnen nach seinem Tode große [13] Erbschaften hinterläßt – wehe und abermals wehe den Frevlern, die um des Reichtums ihrer Kinder willen die künftige Welt verlieren und . . . das Zeitliche für das Ewige verkaufen 1) . . .

Ich schreibe euch dieses nicht zur Belehrung, sondern, wie schon erwähnt, um mir in den langen Nächten die melancholischen Gedanken damit zu vertreiben. So viel mir bewußt ist und so viel es sich tun läßt, will ich beschreiben von meiner Jugend an, was mir noch eingedenk ist, was passiert ist. Nicht etwa, daß ich mich überheben oder mich als fromm hinstellen wollte. Nein, ich bin eine Sünderin, die alle Tage, alle Stunden, alle Augenblicke voll Sünde ist, und bin leider von wenig Sünden ausgeschlossen. Gebe Gott nur, daß ich für meine Sünden rechte Buße tun könnte! Aber die Sorge um meine verwaisten Kinder, mit denen ich allein zurückgeblieben bin, und das weltliche Wesen lassen mich nicht zu einem solchen Stande kommen, wie ich gern wollte. – – –

Ich habe die Absicht euch meine Lebenserinnerungen in sieben kleinen Büchelchen zu hinterlassen, wenn mich Gott am Leben läßt. Es wird sich wohl am besten schicken, wenn ich mit meiner Geburt anfange. Es war – meine ich – im Jahre 5407 (= 1646/47) in der Gemeinde Hamburg, daß mich meine fromme Mutter zur Welt gebracht hat. Wenn auch unsre Weisen sagen: «Es wäre besser, wenn man nicht erschaffen wäre», weil der Mensch auf dieser sündigen Welt so viel ausstehen muß, so danke ich doch meinem Schöpfer und lobe ihn, daß er mich nach seinem Willen und Wohlgefallen geschaffen [14] hat 1a), und bitte ihn, mich in seinen heiligen Schutz zu nehmen und mich vor den – – – – – – –

– – –  2) [Wer] hungrig in sein Haus hineingegangen ist, ist satt wieder herausgekommen. Er hat seine Kinder, sowohl Söhne als Töchter, in göttlichen und in weltlichen Dingen unterweisen lassen. Als ich noch keine drei Jahre alt war, wurden alle Juden von Hamburg ausgetrieben und mußten nach Altona ziehen, das dem König von Dänemark gehört, von dem die Juden gute Schutzbriefe haben 3). [15] Dieses Altona ist kaum eine Viertelstunde von Hamburg entfernt.

 

Altona

 

Die Synagoge in der Altonaer Bäckergasse

 

In Altona waren damals schon ungefähr 25 jüdische Haushaltungen; dort hatten wir auch unsre Synagoge und unsern Friedhof 4). So haben wir eine Zeitlang in Altona gewohnt und endlich in Hamburg durch große Bemühung erreicht, daß man den Juden in Altona Pässe gegeben hat, so daß sie in die Stadt (Hamburg) gehen und dort Geschäfte treiben durften. Ein jeder Paß hat für vier Wochen gegolten; man hat ihn von dem regierenden Oberhaupt des Rates (= regierenden Bürgermeister) in Hamburg [b]ekommen; er hat einen Dukaten gekostet, und wenn der Paß abgelaufen war, hat man wieder einen neuen nehmen müssen. Aber aus den vier Wochen sind oft acht Wochen geworden, wenn Leute Bekanntschaft mit dem Bürgermeister oder mit Beamten hatten. Die Leute hatten es leider Gottes sehr schwer, denn sie haben ihr ganzes Geschäft in der Stadt suchen müssen und so haben manche arme und bedürftige Leute oft gewagt sich ohne Paß in die Stadt hineinzuschleichen. Wenn sie dann von Beamten ertappt wurden, hat man sie ins Gefängnis gesteckt; das hat alles viel Geld gekostet und man hat Not gehabt, sie wieder frei zu bekommen. Des Morgens in aller Frühe, sobald sie aus dem Bethaus gekommen sind, sind sie in die Stadt gegangen und gegen [16] Abend, wenn man das Tor hat zumachen wollen, sind sie wieder nach Altona zurückgekehrt.

 

Hamburger jüdische Händler mit ihren Waren:

Lose, Nachtöpfe, Spazierstöcke, Hüte, Gläser, Teekannen,

Bleistifte, Strümpfe, Seidnbänder, Wachstücher

Quelle: Max Grunwald, Hamburgs deutsche Juden bis

zur Auflösung der Dreigemeinden 1811.

Hamburg: Alfred Janssen Verlag, 1904

 

Wenn die armen Menschen herausgegangen sind, sind sie oft ihres Lebens nicht sicher gewesen wegen des Judenhasses, der bei Bootsleuten, Soldaten und anderm geringen Volk herrschte, so daß eine jede Frau Gott gedankt hat, wenn sie ihren Mann wieder glücklich bei sich hatte. Zu jener Zeit waren kaum 40 Haushaltungen dort, mit denen, die von Hamburg nach Altona gekommen waren. Es sind unter ihnen damals keine besonders reichen Leute gewesen, doch jeder hat sich ehrlich ernährt. Die reichsten in jener Zeit waren: Chaim Fürst mit einem Vermögen von 10 000 Reichstalern, mein seliger Vater mit 8000, andere mit 6000, einige auch mit 2000. Aber sie haben in großer Liebe und Anhänglichkeit miteinander gelebt und haben im allgemeinen ein besseres Leben geführt als in jetziger Zeit die Reichsten; wer auch nur 500 Reichstaler im Vermögen gehabt hat, hat sich's ganz wohl sein lassen und jeder hat sich mit seinem Anteil viel mehr gefreut als in jetziger Zeit, wo die Reichen nicht zu ersättigen sind. Von ihnen heißt es: Kein Mensch stirbt, der auch nur die Hälfte seiner Wünsche erfüllt gesehen hätte. Von meinem Vater erinnere ich mich, daß er ein Mann von Gottvertrauen gewesen ist, der nicht seinesgleichen hatte, und wenn er nicht so sehr mit dem Zipperlein behaftet gewesen wäre, hätte er es noch weiter bringen können. Aber auch so hat er seine Kinder ganz gut und ehrlich ausgestattet.

 

Versöhnungstag. Innenansicht der (Amsterdamer aschkenasischen) Synagoge

mit Ansicht des Thoraschreins und mit betenden Juden.

(Stich, unterzeichnet: Dessiné d'après nature et gravé par B. Picart, 1725.

Aus: Picard, Cérémonies et Coutumes Réligieuses de Tous les Peuples du Monde I, S. 117).

 

Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, hat der Schwede mit dem König von Dänemark – Gott erhöhe seinen [17] Ruhm – Krieg geführt 5). Ich kann nicht viel Neues darüber schreiben, weil solches in meiner Kindheit geschehen ist, als ich noch im Cheder 6) habe sitzen müssen. In jener Zeit sind wir in Altona in großen Sorgen gewesen; denn es war ein sehr kalter Winter, wie er in 50 Jahren nicht vorgekommen ist; man hat ihn den «schwedischen Winter» geheißen. Der Schwede hat damals überall hinüberkommen können, weil es so hart gefroren war. Mit einem Mal, an einem Sabbat, ertönt das Wehgeschrei: Der Schwede kommt! Es war noch früh am Morgen, alle lagen noch im Bett, da sind wir alle aus den Betten gesprungen und nackt und bloß nach der Stadt (Hamburg) gelaufen und haben uns teils bei Portugiesen teils bei Bürgern behelfen müssen. So haben wir uns kurze Zeit so (= ohne Erlaubnis) dort aufgehalten, bis endlich mein seliger Vater es erreicht (d. h. das Wohnrecht erlangt) hat, und er ist der erste (deutsche) Jude gewesen, der sich wieder in Hamburg niedergelassen hat. Danach hat man allmählich erreicht, daß noch mehr Juden in die Stadt zogen. So ließen sich fast alle jüdischen Hausväter in Hamburg nieder, außer denen, die vor der Austreibung [18] in Altona gewohnt hatten; die blieben in Altona wohnen. Zu jener Zeit hat man sehr wenig Steuern an die Regierung gezahlt; ein jeder hat für sich selbst mit denen, die dazu eingesetzt waren, akkordiert 7). Aber wir hatten keine Synagoge in Hamburg und auch keine Aufenthaltsrechte; wir wohnten dort nur durch die Gnade des Rates. Die Juden sind aber doch zusammengekommen und haben Gebetsversammlungen in Zimmern abgehalten, so gut sie konnten. Wenn der Rat auch etwas davon gewußt hat, so hat er ihnen doch gern durch die Finger gesehen. Aber wenn Geistliche es gewahr wurden, haben sie es nicht leiden wollen und haben uns verjagt; wie schüchterne Schafe mußten wir dann nach Altona ins Bethaus gehen. Das hat eine Zeitlang gedauert; dann sind wir wieder in unsere Schülchen gekrochen. Also haben wir zuzeiten Ruhe gehabt, zuzeiten sind wir wieder verjagt worden – so geschieht es bis auf diesen Tag, und ich fürchte, daß solches immer dauern wird, so lange wir in Hamburg sind und so lange die Bürgerei in Hamburg regiert 8). Gott möge sich in seiner Gnade bald über uns [19] erbarmen und uns seinen Messias senden, daß wir ihm mit frommem Herzen dienen und unsre Gebete wieder in unserm Heiligtum in Jerusalem verrichten können. Amen!

Sie wohnten also in Hamburg und mein Vater machte Geschäfte mit Edelsteinen und andern Sachen, wie ein Jude, der von allem etwas nascht. Der Krieg zwischen Dänemark und Schweden wurde immer heftiger und der König von Schweden hatte großes Glück, so daß er dem Dänenkönig alles wegnahm und vor dessen Hauptstadt zog und sie belagerte, und es fehlte nicht viel, daß er sie genommen hätte, wenn nicht der Dänenkönig so getreue Räte und Untertanen gehabt hätte, die ihm mit Gut und Blut beistanden, daß er alles behalten hat. Dies geschah wirklich nur durch Gottes besonderen Beistand; denn er war ein gerechter, frommer König, bei dem wir Juden es sehr gut gehabt haben. – Obwohl wir in Hamburg wohnten, hat doch jeder nur seine 6 Reichstaler Steuern an Dänemark zahlen müssen und weiter nichts. Nachher haben die Holländer dem König beigestanden und sind mit ihren Schiffen durch den Sund gekommen und haben ein Loch in den Krieg gemacht, daß Friede [20] geworden ist 9). Aber Dänemark und Schweden sind sich nimmer gut; wenn sie auch Freunde sind und sich miteinander verschwägern, so picken sie doch allezeit einer auf den andern.

In dieser Zeit war meine selige Schwester Hendele mit dem Sohn des gelehrten Rabbi Gumpel von Cleve 10) verlobt. Sie bekam 1800 Reichstaler als Mitgift; das war zu jener Zeit gar viel und es hatte bis dahin in Hamburg noch keiner so viel mitgegeben. Dafür ist es auch die prinzipalste Heiratspartie in ganz Deutschland gewesen und alle Welt hat sich über die große Mitgift und die gute Partie gewundert. Aber mein sel. Vater hatte sein gutes Geschäft und baute darauf, daß Gott ihn nicht verlassen und ihm helfen würde seine anderen Kinder auch mit [21] Ehren zu verheiraten. Er hat in seinem Hause größere Gastfreundschaft geübt als jetzt die Reichen, die 30 000 Taler und mehr in Besitz haben.

Nun soll ich von der Hochzeit meiner sel. Schwester und von den wackeren, angesehenen Leuten schreiben, die mit Rabbi Gumpel gekommen sind. Was der für ein heiliger Mann gewesen ist, kann ich nicht genug rühmen. Er war mit keinem von jetzt zu vergleichen, wie ehrlich er geliefert hat 11). Es ist nicht zu beschreiben, wie magnifique es auf der Hochzeit zugegangen ist und hauptsächlich, wie er Arme und Dürftige erfreut hat.

 

 

Grab von Glückels Vater Josef Jehuda ben Natan

auf dem alten jüdischen Friedhof an der Königstraße in Altona.

Inschrift: Hier ist geborgen ein aufrechter und getreuer Mann, zum Gebotstun war er stets willig und bereit, Segen hinterließ er «in seinem Hause, denn es war weit geöffnet» die Mehrzahl seiner Tage, so war sein Lebens- und Leitweg, er, der beglückt ist mit allen aufrechten Eigenschaften, der Einflußreiche, Vorsteher und Leiter, der geehrte Herr Josef Jehuda, Sohn des Natan, sein Andenken zum Segen, «sein Wohltun schreitet vor ihm einher» «und in Frieden möge er ruhen auf seinem Lager und Ruhestätte»; er verschied «mit gutem Namen» am Tag 6, Rüsttag des heiligen Schabbat, 24. des Monats Tewet des Jahres 430 der Zählung. Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens.

Quelle: Epidat- Epigrafische Datenbank

 

Mein Vater war nicht so sehr reich; aber, wie schon erwähnt, er hatte großes Gottvertrauen; er ist keinem etwas schuldig geblieben und hat sich's gar sauer werden lassen sich und seine Familie ehrlich zu ernähren. Er hatte schon viel Schweres durchgemacht und war damals schon bejahrt; darum hat er sich auch sehr beeilt seine Kinder zu verheiraten  11a). Als er meine Mutter nahm, war er schon Witwer; er war schon 15 Jahre oder mehr mit einer wackeren und sehr vornehmen Frau namens Reize verheiratet gewesen, die ein großes und feines Haus geführt haben soll. Mein Vater hat von ihr keine Kinder gehabt. Sie hatte aber aus ihrer früheren Ehe eine einzige Tochter, die an Schönheit und Tugend nicht ihresgleichen hatte. Französisch konnte sie wie Wasser 12), was [22] meinem sel. Vater auch einmal zu nutze gekommen ist. Mein Vater hatte nämlich ein Pfand von einem Vornehmen für ein Darlehen von 500 Reichstalern. Nach einiger Zeit kommt der Herr mit noch zwei anderen Vornehmen und will das Pfand auslösen. Mein sel. Vater hat kein Arg dabei gehabt; er geht hinauf und holt das Pfand; seine Stieftochter steht bei dem Clavicymbel und spielt darauf, damit den vornehmen Herren die Zeit nicht zu lang werde. Die Herren stehen unterdessen bei ihr und bereden sich miteinander; Wenn der Jude mit unserm Pfand kommen wird, wollen wir es nehmen ohne Geld [zu bezahlen] und davongehen. Das haben sie auf französisch gesagt und nicht gedacht, daß das junge Mädchen es versteht. Als nun mein sel. Vater mit dem Pfande kam, fing sie laut auf hebräisch an zu singen: «Um Himmels willen, nicht das Pfand – heute hier, morgen ist er entflohen.» In der Hast konnte die Aermste nichts andres herausbringen. Mein sel. Vater sagt nun zu dem vornehmen Mann: «Mein Herr, wo ist das Geld?*' Dieser sagt darauf: «Gebt mir das Pfand!» Mein sel. Vater sagt: «Ich gebe kein Pfand, ich muß erst das Geld haben.» Da beginnt der eine Vornehme zu den andern: «Brüder, wir sind verraten, die Dirn' muß Französisch können» und laufen mit Drohworten zum Hause hinaus. Den andern Tag kommt der vornehme Mann allein, gibt meinem sel. Vater sein Kapital und die Zinsen für das Pfand und [23] sagt: «Ihr habt es sehr zu genießen gehabt und Euer Geld gut angelegt, daß Ihr Eure Tochter habt Französisch lernen lassen.» Damit geht er seines Weges.

Mein sel. Vater hat diese Stieftochter bei sich gehabt und sie ebenso wie sein leibliches Kind gehalten; er hat sie auch verheiratet. Sie hat eine sehr gute Partie gemacht; sie bekam den Sohn von Kaiman Aurich, aber sie ist im ersten Kindbett gestorben. Einige Zeit danach hat man sie (die Leiche) beraubt und ihr ihre Leichengewänder ausgezogen. Da ist sie (jemandem) im Traum erschienen und hat es enthüllt; man hat sie ausgegraben und hat solches gefunden. Da sind die Weiber flugs gegangen und haben ihr andre Gewänder genäht 13). Wie sie beim Nähen sitzen, kommt die Magd in die Stube gelaufen und sagt: «Um Gottes willen, eilt euch mit euerm Nähen! Seht ihr nicht, daß die Tote zwischen euch sitzt?» Aber die Weiber haben nichts gesehen. Wie sie fertig gewesen sind, haben sie der Leiche ihre Gewänder gegeben. So ist sie auch ihr Lebtag nicht wiedergekommen und in ihrer Ruhe geblieben.

Nach dem Tode seiner ersten Frau hat mein Vater meine Mutter geheiratet, die eine verlassene Waise war. Meine liebe, fromme Mutter – sie soll leben – hat mir oft erzählt, wie sie als Waise mit ihrer frommen sel. Mutter Mate in Not gelebt hat. Ich habe meine sel. Großmutter auch noch gekannt und es hat keine frommere und klügere Frau gegeben als sie. Mein Aeltervater Nathan [24] Melrich hatte früher in Detmold gelebt und war ein sehr reicher, wackerer und vornehmer Mann. Er wurde aber von dort ausgetrieben und zog mit Frau und Kindern nach Altona. Zu jener Zeit wohnten dort kaum zehn Familien und diese hatten erst angefangen, sich dort niederzulassen. Altona gehörte damals noch nicht zum Königreich Dänemark, sondern zur Grafschaft Pinneberg, die dem Grafen von Schaumburg zu eigen war. Aber nachher ist der erwähnte Graf ohne Nachkommen gestorben, da fiel das Gebiet an das Königreich Dänemark. Nathan Spanier war der erste, der bewirkt hat, daß Juden in Altona wohnen durften 14). Sie haben sich aber damals nur vereinzelt hier niedergelassen. Nathan Spanier hat seinen Schwiegersohn Loeb auch in Altona eingesetzt. Der ist ein Hildesheimer gewesen. Er war zwar kein reicher Mann, hat aber doch seine Kinder gut verheiratet, wie es in jener Zeit üblich war. Seine Frau Esther war eine sehr wackere, fromme, ehrliche Frau, die das Geschäft gut verstanden hat. Sie hat wirklich die ganze Familie ernährt und ist immer mit Waren zum Kieler Umschlag 15) gereist. Sie brauchte freilich nicht viel Waren mitzunehmen; denn die Leute haben sich in jener Zeit (mit wenigem) begnügt. Sie verstand gut zu reden; Gott hat ihr Gunst gegeben in den Augen [25] aller, die sie sahen; adlige Damen in Holstein haben sie sehr gern gemocht. Loeb Hildesheim und seine Frau haben ihren Kindern nur 3–400 Reichstaler mitgegeben und doch Eidame gehabt, die sehr reiche Leute waren, so den Elia Ballin, der ein Mann von 30 000 Reichstalern war, den Moses Goldzieher u. a. m. Ihr Sohn Moses war bis an sein Ende ein sehr reicher und wackerer Mann, ihr Sohn Lipmann war zwar nicht so reich, hat sich aber doch hübsch ehrlich ernährt und ebenso ihre andern Kindern (sic). Das schreibe ich um zu zeigen, daß es (= das Vorwärtskommen) nicht immer an den großen Mitgiften gelegen ist, wie es denn in jenen Zeiten vorgekommen ist, daß Leute ihren Kindern nur wenig mitgegeben haben und diese doch sehr reich geworden sind.

Um wieder zu unserm Zweck zu kommen – als mein Aeltervater Nathan Melrich ausgetrieben worden war, hat er sich in das Haus Loeb Hildesheims, des Schwiegersohns von Nathan Spanier, begeben und hat große Reichtümer mitgebracht. Esther, die Frau des Loeb, hat mir wunderbare Dinge von diesem Reichtum erzählt: er hätte ganze Kisten voll goldener Ketten und andere Schmucksachen und ganz große Beutel mit Perlen mitgebracht, so daß es in jener Zeit auf 100 Meilen keinen so reichen Mann gegeben hätte.

 

Pesthospital zu Hamburg (Kupferstich von C.Fritzsch)

 

Aber leider hat das nicht lange gewährt; da ist – Gott bewahre uns – die Pest ausgebrochen, mein Großvater und etliche seiner Kinder sind daran gestorben. Meine sel. Großmutter hat noch zwei ledige Töchter übrig behalten und ist mit ihnen, von allen Mitteln entblößt, aus dem Hause gegangen. Sie hat mir oft erzählt, die Aermste, wie sie sich hat quälen müssen. Sie hatte kein Bett mehr und [26] mußte ihr Nachtlager auf Holz und Stein haben. Obschon sie eine Todhter verheiratet hatte, konnte diese ihr doch nicht zu Hilfe kommen. Sie hatte auch einen verheirateten Sohn Mordechai gehabt, dem es sehr gut gegangen war, aber derselbe ist auch in jener Zeit mit Frau und Kind leider Gottes an der Pest gestorben 16). So hat meine liebe Großmutter mit ihren beiden Waisen sehr große Not 'ausgestanden und wirklich von Haus zu Haus kriechen müssen, «bis der (göttliche) Zorn vorüber war» 16a). Als die Pest schon einigermaßen aufgehört hatte, wollte sie ihr Haus wieder bewohnen und ihre Sachen auslüften lassen. Aber da hat sie wenig gefunden, ihre besten Sachen waren weg; Nachbarn hatten die Bretter aus dem Boden aufgehoben und alles aufgebrochen; sie hatten das meiste von dem Ihrigen weggenommen und gar wenig für sie und ihre Waisen übrig gelassen. Was sollten sie nun tun? Meine fromme Großmutter hatte noch einige Pfänder; damit hat sie sich und ihre Waisen ernährt 17). Die beiden Waisen waren meine Tante Ulk (= Ulrike) und meine Mutter Bela – sie soll leben! Endlich hat die gute Frau, meine sel. Großmutter, so viel zusammengeschrappt 18) und gespart, [27] daß sie ihre Tochter Ulk verheiraten konnte. Der Vater des Bräutigams war Rabbi David Hanau, ein hervorragender Mann in seiner Zeit; er hat den Titel Morenu gehabt und war, wie ich glaube, Landrabbiner in Friesland gewesen. Danach ist er nach Altona gekommen und sie haben ihn dort als Rabbiner aufgenommen 19). Der Bräutigam hieß Elias Cohen. Sein Vater hat ihm 500 Reichstaler als Mitgift gegeben; er ist aber in kurzer Zeit zu großem Reichtum gekommen und hat viel Glück in seinen Unternehmungen gehabt. Aber er ist leider jung gestorben, ist noch nicht einmal 40 Jahre alt gewesen. Wenn Gott ihn hätte leben lassen, so wäre ein großer Mann aus ihm geworden; denn Gott hat ihm Glück gegeben. Wenn er – mit Verlaub – Kot in die Hand genommen hat, ist gewiß Gold daraus geworden. Aber die Schicksalswendung ist gar zu geschwind gekommen. Zu jener Zeit ist Streit um die Vorsteherämter gewesen. Mein sel. Vater war viele Jahre lang Vorsteher. Der Elias Cohen aber war ein junger Mann, dessen Reichtum täglich größer wurde, dabei auch ein kluger Mann und von sehr guter Familie. So hat er sich eingeredet und sich auch oftmals verlauten lassen: «Warum soll ich nicht ebenso gut Vorsteher sein wie mein Schwager Loeb 19a)? Bin ich nicht so klug, wie mein Schwager Loeb ist? Bin ich nicht so reich, wie er ist? Bin ich nicht von ebenso guter Herkunft, wie er ist?» Aber Gott, der seine [28] Zeit und sein Ziel so bestimmt hat, hat ihn damals hinweggerafft 20).

Zu seinen Lebzeiten ist die Gemeinde in Streitigkeiten gekommen und, wie es so in der Welt geht, da hat der eine diese, der andere jene Partei gehalten. So ist es leider damals in unserer Gemeinde gar übel zugegangen. Zuerst starb der Vorsteher Feibelmann. Danach ist Chaim Fürst gestorben, der der reichste Mann in der Gemeinde und auch Vorsteher war. Danach hat sich der Synagogendiener Abraham niedergelegt und ist gestorben; bevor er seinen letzten Atemzug aushauchte, sagte er: «Man hat mich vor das himmlische Gericht geladen, daß ich als Zeuge aussage.» Chaim Fürst hat einen Sohn Salomon gehabt, der Synagogenvorsteher war; der ist auch damals gestorben; er war ein vortrefflicher Mann und ein großer Talmudkenner 21). Auch noch andere Gemeindemitglieder, die ich vergessen habe [sind damals gestorben]. So hat Gott den Streit unter den Vorstehern beendet 22).

 

Grabstein (Nr. 1089) der Mate Mehlreich,

Großmutter der Glückel. (Gestorben am 6. Juli 1656).

Der Grabstein befindet sich auf dem alten jüdischen

Friedhof an der Königstraße in Altona.

Das Ornament gehört dem etwas steifen Hamburgischen

Barock an. Über der oberen Randleiste dürften eine

oder mehrere Kugeln zu ergänzen sein.

Inschrift: Hier ist geborgen die Herrin und die Züchtige Mate, Tochter des Jaakow, sein Andenken zum Segen Gattin des Vorstehers und Leiters, des geehrten Meisters, Herrn Natan aus Ellrich, das Andenken des Gerechten zum Segen, die hinging in ihre Welt und «ließ das Leben wie ganz Israel» verschieden am Tag 4, 14. Tammus, und begraben Tag 5, 15. Tammus 416 der Zählung. Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens.

Quelle: Epidat- Epigrafische Datenbank

 

Um wieder zu meiner sel. Großmutter Mate zu kommen – als sie meine Tante Ulk verheiratet und ausgestattet [29] hatte, blieb ihr selbst nichts übrig. Sie hatte nur noch meine Mutter, die damals ein junges Mädchen von elf Jahren war. Mit ihr ging sie nun in das Haus ihrer Tochter Glück, die mit Jakob Ree verheiratet war. Nun war der Jakob Ree zwar nicht sehr reich, aber doch ein ehrlicher (= rechtschaffener) Mann, der seinen Kindern Mitgiften von 4–500 Reichstalern gegeben hat. Aber er hat ganz ausbündige Heiratspartien mit seinen Kindern gemacht und lauter feine junge Leute aus guten Familien zu Schwiegersöhnen bekommen. Als nun meine Großmutter einige Zeit bei ihnen gewesen war – sie hatte auch einige verwaiste Enkelchen, die vielleicht zeitweise etwas zu viel zu ihr kamen, oder vielleicht ist auch sonst etwas Widriges vorgefallen, wie es wohl bei Eltern und Kindern vorzukommen pflegt – da ist sie mit ihrer Tochter zu meiner Tante Ulk gegangen und sie haben sich allein ernährt. Meine Mutter hat nämlich gut verstanden Gold- und Silberspitzen zu klöppeln. So hat Gott ihr Gnade erwiesen, daß Kaufleute in Hamburg ihr Gold und Silber zu klöppeln gegeben haben, und Jakob Ree sel. hat das erste Mal Bürgschaft für sie geleistet. Danach haben die Kaufleute gesehen, daß sie [ihre Verpflichtungen] ehrlich hält und ihnen das Ihrige zu rechter Zeit wieder liefert; da haben sie ihr allein (= ohne Bürgschaft) getraut. Meine Mutter hat auch eine Anzahl Mädchen bei sich gehabt, die für sie geklöppelt haben, und meine Mutter ist ihre Lehrmeisterin gewesen. Sie kam schließlich so weit, daß sie sich und ihre Mutter davon ernährt hat und sich auch hübsch und reinlich davon hat kleiden können. Aber sie haben nicht viel übrig gehabt, so daß meine liebe Mutter sich oft [30] den ganzen Tag mit einem Stück Brot beholfen hat. Sie hat mit allem vorlieb genommen und ihr Vertrauen auf Gott gesetzt, der sie bis hierher nicht verlassen hat. Dasselbe Gottvertrauen hat sie bis auf den heutigen Tag behalten. Ich wünsche mir, daß ich auch eine solche Natur annehmen könnte. Aber Gott gibt nicht jedem Menschen das Gleiche.

Sobald mein sel. Vater mit meiner Mutter Hochzeit gemacht hat, hat er sofort meine Großmutter Mate sel. A. zu sich genommen und sie oben an seinen Tisch gesetzt; er hat sie alle ihre Lebenstage bei sich behalten und ihr alle Ehre in der Welt angetan, als wenn es seine eigene Mutter gewesen wäre. Die Hemden, die meine Großmutter meiner Mutter mitgegeben hatte, hat ihr meine Mutter alle wieder zurückgegeben und zwar mit Wissen meines Vaters – kurz, sie ist so gut gehalten worden, als wenn sie in ihrem eignen Haus gewesen wäre. Sie ist mehr als 17 Jahre bei ihm gewesen. Der Allgütige soll sein Verdienst uns und unsere Kinder genießen lassen!

Zu jener Zeit ist es geschehen, daß die Wilnaer aus Polen auswandern mußten 23). Viele von ihnen kamen [31] auch nach Hamburg und hatten ansteckende Krankheiten an sich. Man hatte aber damals noch kein (jüdisches) Spital oder sonstige Häuser, in die man kranke Leute hätte hineinlegen können. Daher hatten wir wohl zehn kranke Leute auf unserem Boden liegen, für die mein sel. Vater gesorgt hat; einige von ihnen sind gesund geworden, einige sind gestorben. Ich und meine Schwester Elkele – sie soll leben – lagen dazumal auch krank. Meine fromme Großmutter ist zu allen diesen Kranken gegangen und hat gesehen, daß keiner Mangel litt. Wenn auch mein Vater und meine Mutter es nicht gerne leiden wollten, so hat sie sich's doch nicht nehmen lassen und ist alle Tage drei- oder viermal zu den Kranken auf den Boden gegangen. Endlich ist sie auch krank geworden und hat zehn Tage gelegen, danach ist sie in schönem Greisenalter gestorben und hat einen guten Namen hinterlassen. Sie ist 74 Jahre alt geworden, aber sie war noch [32] so frisch wie eine Frau von 40. Es ist nicht zu besdireiben, was sie alles noch auf ihrem Sterbebette gesagt und gebetet hat, und wie sie meinen sel. Vater gelobt und ihm Dank ausgesprochen hat. Mein Vater und meine Mutter hatten ihr alle Woche einmal 1/2 Reichstaler und einmal 2 Mark 24) gegeben, damit sie sich etwas dafür zugute tun und nach ihrem Belieben etwas kaufen solle; auch ist mein sel. Vater in keine Messe gereist oder wieder heimgekommen, ohne daß er ihr etwas mitgebracht hat. Das, was sie bekommen hat, hat sie alles zusammengespart und auf kleine Pfänder verliehen. Als sie nun hat sterben sollen, hat sie zu meinem sel. Vater gesagt: «Mein Sohn, ich gehe jetzunder den Weg aller Menschen 25); ich bin so lange in Euerm Haus gewesen und Ihr habt mich gehalten, als wenn ich Eure leibliche Mutter wäre; nicht allein, daß Ihr mir das beste Essen und Trinken gegeben und mich in Ehren gekleidet habt, Ihr habt mir noch Geld dazu gegeben. Was habe ich mit dem Geld getan? Das habe ich mir so zusammengehalten und gespart, daß ich nichts davon genommen, und habe alles nach und nach auf kleine Pfänder verliehen, so daß ich ungefähr 200 Reichstaler beisammen haben werde. Nun, wem sollte das billiger gehören als meinem lieben Eidam? Denn es ist alles von dem Seinigen. Aber wenn mein lieber Eidam darauf verzichten und es meinen zwei armen Enkelchen, den Waisen meines Sohnes Mordechai, überlassen wollte – ich stelle es in sein Belieben, wie [33] er will.» Juda und Anschel und alle Kinder und Schwiegersöhne der Sterbenden mußten dabei sein. Da antwortete ihr mein sel. Vater: «Meine liebe Schwiegermutter, seid ruhig, Gott wird geben, daß ihr noch lange bei uns bleiben werdet und daß Ihr das Geld selber austeilen möget, an wen Ihr wollt; ich verzichte von Herzen gern darauf, und wenn Euch der Allgütige wieder aufhilft, will ich Euch noch 100 Reichstaler dazu schenken, damit Ihr mehr Zinsen davon bekommt und dann damit machen könnt, was Euch beliebt.» Als meine Großmutter dies von meinem Vater gehört, ist die Aermste voller Freude gewesen und hat angefangen ihn und meine Mutter – sie soll leben! – und alle seine Kinder mit allen Segnungen der Welt z:u segnen und vor allen Leuten ihr Lob erzählt. Am andern Tag ist sie ruhig und sanft eingeschlafen und mit großer Ehre zu Grabe gekommen, wie sie es verdient hat;. Ihr Verdienst sollen wir und unsere Kinder und Kindeskinder genießen 26)!

Zur Zeit, als mein Vater Vorsteher war, ist es der Gemeinde gut gegangen, so daß wirklich «jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaume» saß 27). Die Gemeinde hat keinen Pfennig Schulden gehabt. Ich erinnere mich aber aus meiner Jugendzeit, daß gegen meinen Vater und seine Genossen große Bösewichter aufgestanden sind, die der Gemeinde viel Böses antun [34] wollten. Zwei von ihnen schafften sich Schreiben von der Regierung, daß sie Vorsteher sein sollten, das heißt königliche Vorsteher. Nachdem sie jetzt tot sind und ihr Recht vor dem Höchsten über sich ergehen lassen müssen, so will ich sie auch nicht nennen. Es ist bekannt genug in unserer Gemeinde, wer sie waren. Aber Gott hat den Plan der Frevler zerstört. Die Vorsteher und Leiter der Gemeinde haben alles Gottlob gedämpft und sind zum Könige nach Kopenhagen gereist und haben ihm alles berichtet. Der König war sehr fromm und gerech­tigkeitsliebend, so daß alles Gottlob zu gutem Ende kam und die Frevler erniedrigt wurden. Es hat sogar nicht viel Geld gekostet; denn sie haben ihre Gemeinde und ihre Mitglieder geschont wie ihren Augapfel, daß sie nicht in Schulden gekommen sind. Haben sie einige hundert Reichstaler nötig gehabt, so hat der Vorsteher das Geld ausgelegt und es einzeln wiederbekommen, damit es der Gemeinde nicht beschwerlich fiele. Mein Gott, wenn ich es recht bedenke, so ist damals so ein glückseliges Leben gewesen im Vergleich zu dem jetzigen Zustand, obschon die Leutchen damals nicht die Hälfte von dem hatten, was die Leute – Gott gönne es ihnen – jetzt haben,. Gott soll es ihnen mehren und nicht mindern! «In ihren und in unseren Tagen möge Israel erlöst werden!»

 

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1) Die Verfasserin will offenbar umgekehrt sagen: für das Zeitliche das Ewige verkaufen. 

1a) In den Segenssprüchen des Morgengebetes dankt die jüdische Frau ihrem Schöpfer, daß er sie nach seinem Willen, d. h. als Weib, geschaffen hat.  

2) Hier fehlt ein Blatt aus der Merzbacherschen Handschrift; in der anderen Handschrift fängst die Lücke schon früher an und erstreckt sich noch weiter. Glückel redet an dieser Stelle von ihrem Vater Loeb Pinkerle. 

3) Die hier erwähnte Austreibung bezieht sich auf die sogenannten ,, hochdeutschen Juden'', die aus dem inneren Deutschland nach Altona und Hamburg gekommen waren. Im Gegensatz zu den portugiesischen Juden, die seit 1612 vertragsmäßiges Niederlassungsrecht in Hamburg hatten, waren vereinzelte deutsche Juden ohne Erlaubnis der Behörden dort ansässig. Die älteste urkundliche Erwähnung der deutschen Juden in Hamburg findet sich in einem Schutzbrief vom 1. August 1641, in welchem der Dänenkönig Christian IV. nach Uebergang der Grafschaft Pinneberg an Dänemark die den dortigen Juden früher verliehenen Rechte bestätigte. (Archiv der hochdeutschen Israelitengemeinde zu Altona.) Hier heißt es, daß auch «diejenigen, so in Hamburg wohnen», dasselbe Schutzgeld wie die Altonaer Juden bezahlen sollen. Durch Beschluß der Hamburger «Bürgerschaft'' vom 16. August 1648 wird bestimmt, daß «die hochdeutschen Juden sofort aufgekündigt und zu Ostern 1649 alle ausgeschafft werden» sollen. (Akten des Hamburger Staatsarchivs.) Diese Vertreibung ist, wie auch aus der Hamburger Chronik des Janibal hervorgeht, wirklich zu diesem Zeitpunkt (Ostern 1649) erfolgt. Siehe A. Feilchenfeld, Zur ältesten Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 1899, S. 277 ff. Glückels Angabe über ihr Geburtsjahr (5407 = 1646/47) läßt sich also ganz gut damit vereinbaren, daß sie bei der Vertreibung aus Hamburg (1649) noch nicht 3 Jahre alt war. 

4) Der seit 1621 benutzte Friedhof in der Königsstraße zu Altona wurde erst im Dezember 1872 endgültig geschlossen.  

5) Der kriegsgewaltige König Kari X. Gustav von Schweden zog 1657 nach der Besiegung Polens gegen Dänemark, das sich seinen Feinden angeschlossen hatte. Er nahm seinen Weg über Hamburg und Schleswig-Holstein nach Jütland. In dem furchtbar strengen Winter 1657/58 zog er über das Eis des festgefrorenen kleinen Belts nach Fünen und von da über den großen Belt nach Seeland. Der Einzug der Schweden in Altona war wohl schon vor Beginn der strengen Kälte; aber Glückel hat doch den «schwedischen Winter» noch in richtiger Erinnerung.  

6) Cheder ist die Kinderschule, in der die Kleinen hauptsächlich in den heiligen Schriften der jüdischen Religion unterwiesen wurden.  

7) Die Vereinbarung wurde mit den Kämmereibürgern getroffen, die seit 1563 die Kämmereikasse verwalteten. Vgl. Wohlwill, Aus drei Jahrhunderten Hamburgischer Geschichte, S. 16. 

8) Glückel erkennt hier mit Recht den Grund für alle solche Verfolgungen und Plackereien darin, daß der Einfluß der von Demagogen aufgehetzten und fanatisierten «erbgesessenen Bürgerschaft» den des toleranten Senats überwog. Siehe Monatsschrift, a. a. O. S. 277/78.

Die Verfasserin hat selbst noch stärkere Proben dieser Unduldsamkeit mit erlebt. 1697 wurde in den «Revidierten Articuli» den portugiesischen sowie den hochdeutschen Juden das Halten von Synagogen verboten und nur Zusammenkünfte in kleinen Privathäusem unter großen Beschränkungen gestattet. 1698 findet noch in Hamburg ein umfangreiches Zeugenverhör «wegen der Juden und dero Gottesdienstes Kontinuierung» statt, wobei über «der Juden Geplärr in ihrer Synagoge auf dem Dreckwall» über das unberechtigte Halten einer Synagoge am Schelengang, über laute hebräische Gesänge in einzelnen Häusern der Neustadt, über das bei den Juden beobachtete Brennen von Lampen am Freitag abend u. a. m. detaillierte Aussagen, meist von Theologie-Studierenden und Predigtamts­kandidaten, gemacht werden. (Akten des Hamburger Stadtarchivs.) 

9) Gl. spricht hier von dem zweiten Teil des schwedisch-dänischen Krieges, der unmittelbar nach dem Frieden von Roeskilde 1658 wieder ausgebrochen war. Karl Gustav landete damals mit einer Flotte in Seeland und belagerte Kopenhagen, das jedoch von der Bürgerschaft tapfer verteidigt wurde. Einer holländischen Flotte gelang es, sich die Durchfahrt durch den Sund zu erkämpfen und Kopenhagen zu beschützen. Auch der Sturm zu Lande, den Karl X. alsdann auf die dänische Hauptstadt unternahm, wurde mit Hilfe holländischer Geschütze und Schiffsmannschaften abgeschlagen. Erst nach dem Tode des Königs, 1660, kam zwischen Schweden und Dänemark ein endgültiger Friede zustande. 

10) Rabbi Mordechai Gumpel, amtlich Marcus Gumperts genannt, war der bekannte Landesrabbiner und Vorsteher der Gemeinden des Herzogtums Cleve, der Stammvater der Familie Gompertz. Er hatte zuerst seinen Sitz in Emmerich, später in Cleve, wo er 1664 starb. Er hat sich als Lieferant der brandenburgischen Regierung in Cleve besonders gut bewährt und bei dem großen Kurfürsten und seinen Räten hohe Anerkennung gefunden. Siehe Kaufmann – Freudenthal, Die Familie Gompertz, S. 6 ff.  

11) Siehe die vorige Anmerkung. 

11a) Der folgende Abschnitt, der von Glückels Stiefschwester handelt, steht im Original einige Seiten später, ist aber des besseren Zusammenhanges wegen hier eingeschoben worden. 

12) Daß die Kenntnis fremder Sprachen in jüdischen Familien damals nicht überall so außerordentlich selten war, zeigt uns eine Stelle im Kab hajaschar des Hirsch Kaidenower (Frankfurt 1705), wo gegen die Unsitte geeifert wird, die Kinder Französisch, Italienisch u. a. fremde Sprachen lernen zu lassen, bevor sie noch recht beten können. Siehe Güdemann, Quellenschriften zur Geschichte des Unterrichts und der Erziehung bei den deutschen Juden, S. 179ff. 

13) Nach alter jüdischer Sitte nähten die Frauen der Gemeinde die bei arm und reich gleichmäßig zur Verwendung kommenden weißen Sterbekleider unmittelbar vor der Beerdigung. 

14) Nathan Moses Spanier aus Stadthagen starb als Vorsteher der Gemeinde Altona im Jahre 1647 (Grabstein Nr. 854 in Altona). Als Gründer der Gemeinde Altona wird allerdings Samuel ben Juda, gestorben 1621, auf dem Grabstein Nr. 846 bezeichnet.  

15) Die unter dem Namen «Kieler Umschlag» bekannte Messe wird noch heute im Januar abgehalten und namentlich von schleswig-holsteinischen Gutsbesitzern viel besucht. 

16) Mordechai, Sohn des Nathan, und seine Frau Hanna sind, wie aus den nebeneinander stehenden Grabsteinen (Nr. 1019 und 20) auf dem Friedhof zu Altona hervorgeht, gegen Ende des Jahres 1638 daselbst an der Pest gestorben. 

16a) Zitat aus Jesaias 26, 20. 

17) Die alte Frau hat, wie es scheint, den Erlös der früher erhaltenen Pfänder dazu benutzt, kleine Geldverleihgeschäfte zu machen. 

18) schrappen, niederdeutsch = sparen, kratzen, scharren. Heyne, Deutsches Wörterbuch III, 467. 

19) Bei E. Duckesz, Iwoh Iemoschaw, enthaltend Biographien und Grabsteininschriften der Rabbiner der Drei-Gemeinden Hamburg, Altona, Wandsbek, wird Rabbi David Cohen aus Hanau als ältester Rabbiner von Altona angeführt.  

19a) Glückels Vater. 

20) Elias Cohen ist doch noch, wenn auch nur für kurze Zeit, Vorsteher geworden, wie sein Grabstein (Nr. 618) auf dem alten Friedhof zu Altona aufweist, auf dem er als Parnos bezeichnet wird. 

21) Feibelmann (= Philipp) Heilbutt, Vorsteher, gestorben 1653 (Grabstein Nr. 655); Chaim Fürst, Vorsteher, gestorben 1653 (Nr. 855); Salomon, Sohn des Chaim Fürst, gestorben 1653 (Nr. 856). 

22) Gl. will offenbar die hier berichteten Todesfälle, die so schnell aufeinander folgten, als eine göttliche Strafe für die in der Gemeinde vorgekommenen schweren Streitigkeiten aufgefaßt wissen. 

23) Der furchtbare Aufstand der Kosaken unter Bogdan Chmelnicki gegen den polnischen Adel (1648) traf zuerst mit seiner ganzen Wucht die Juden, die als Pächter der polnischen Gutsherren an der Ausbeutung der Kosaken teilgenommen hatten. In wilder Wut stürzten sich die zuchtlosen Scharen auf die blühenden jüdischen Gemeinden der Ukraine, Wolhyniens und Podoliens und richteten daselbst ein schreckliches Gemetzel an. Schon damals flüchteten viele Tausende, die nur eben das nackte Leben retten konnten, außer Landes, insbesondere nach Deutschland. Nachdem ein kurzer Stillstand in den Verfolgungen eingetreten war, verbanden sich 1654 die Kosaken mit den Russen zu einem neuen Kriege gegen Polen. Jetzt wurden die westlichen Provinzen Polens und Lithauens von den Kosakenschwärmen verwüstet. Unter anderen großen Gemeinden wurde auch Wilna durch ein furchtbares Gemetzel heimgesucht und die vom Schwerte Verschonten retteten sich durch schleunige Flucht. (Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, Band X, S. 70 ff.)

In dem ältesten Protokollbuch der Hamburger Portugiesengemeinde, von dem neuerdings J. Cassuto im Jahrbuch der Jüdisch-literarischen Gesellschaft von 1909 ein großes Stück veröffentlicht hat, findet sich (p. 59) zum Jahre 1656 die Angabe, daß 130 Glaubensgenossen aus Polen in sehr elendem Zustande in Lübeck angekommen seien und am folgenden Tage in Hamburg erwartet würden. Später wird erwähnt, daß für die in Hamburg eingetroffenen Vertriebenen in den portugiesischen Synagogen Sammlungen veranstaltet worden seien. Aus Glückels Erzählung entnehmen wir, daß viele dieser unglücklichen Wilnaer krank in Hamburg liegen blieben.  

24) So die Uebersetzung- der hebräischen Münzbezeichnung Schuk bei Landau, Glossar, S. 61. Kaufmann: Schock Heller. 

25) Worte des sterbenden Königs David im 1. Buch der Könige 2, 2. 

26) Die Inschrift auf ihrem Grabstein (Nr. 1089 in Altena) lautet: Hier ruht die vornehme und fromme Frau Mate, Tochter des Jakob, Frau des verstorbenen Vorstehers Nathan Meirich, gestorben am 14. Tamus 5416 (= 1656). 

27) Zitat aus Micha, K. 4, V. 4: Beschreibung des Messionischen Zeitalters.