BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walther von der Vogelweide

nach 1170 - um 1230

 

Sprüche und Lieder

in chronologischer Anordnung

 

Späte Lieder und Sprüche

(ab 1220)

 

Späte Liedlyrik:

Ich bin als unschedelîchen frô (41,13)

Ich minne si nû lange zît (47,16)

Minne diu hât einen site (57,23)

Wie sol man gewarten dir (59,37)

Ich wil nû teilen, ê ich var (60,34)

Si frâgent unde frâgent aber al ze vil (63,32)

Ir reiniu wîp, ir werden man (66,21)

Friuntlîche lac (88,9)

Bî den liuten nieman hât (116,33)

Vil süeze wære minne (76,22)

Owê waz êren sich ellendet tiuschen landen (13,5)

Alrêrst lebe ich mir werde (14,38)

Frô Werlt, ir sult dem wirte sagen (100,24)

Ein meister las (122,24)

Owê, war sint verswunden alliu miniu jâr (124,1)

 

Späte Spruchlyrik:

Owê hovelîchez singen (64,31)

Mir ist diu êre unmære (102,29)

Ich sach hie vor eteswenne den tac (85,25)

 

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Frô Welt, ir sult dem wirte sagen

(Dialoglied, Alterslied, Weltklage)

I

L 100,24

Frô Welt, ir sult dem wirte sagen,

daz ich im gar vergolten habe,

mîn grœste gülte ist abe geslagen,

daz er mich von dem briefe schabe.

5

Swer im eht sol, der mag wol sorgen:

ê ich im lange schuldig wære,

ich wolt ê zeinem juden borgen.

er swîget unz an einen tag,

sô wil er danne ein wette hân,

10

sô jener niht vergelten mag.

 

II

L 100,33

«Walther, dû zürnest âne nôt,

dû solt bî mir belîben hie.

gedenke, waz ich dir êren bôt,

waz ich dir dînes willen lie,

5

als dicke dû mich sêre bæte.

mir was vil inneclîche leit,

daz dûz ie sô selten tæte.

bedenke dich, dîn leben ist guot.

sô dû mir rehte widersagest,

10

sôn wirst dû niemer wol gemuot.»

 

III

L 101,5

Frô Werlt, ich hân ze vil gesogen,

ich wil entwonen, des ist zît.

dîn zart hât mich vil nâch betrogen,

wand er vil süezer fröiden gît.

5

dô ich dich gesach reht under ougen,

dô was dîn schœne an ze schouwen

wunderlîch al sunder lougen.

doch was der schanden al ze vil,

dô ich dîn hinden wart gewar,

10

daz ich dich iemer schelten wil.

 

IV

L 101,14

«Sît ich dich niht erwenden mag,

sô tuo doch ein ding, des ich ger:

gedenke an mangen liehten tag,

und sich doch underwîlent her,

5

niuwan sô dich der zît betrâge.»

daz tæte ich wunderlîchen gerne,

wan daz ich fürhte dîne lâge,

vor der sich nieman kan bewarn.

got gebe iuch, frouwe, guote naht,

10

ich wil ze herberge varn.

 

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Ein meister las

(Alterslied)

I

L 122,24

Ein meister las,

troum und spiegelglas,

daz si zem winde

bî der stæte sîn gezalt.

5

loup und gras,

daz ie mîn fröide was

(swie ich nû erwinde,

ich dunke mich alsô gestalt),

dar zuo bluomen manigvalt,

10

diu heide rôt, der grüene walt,

der vogellîn sanc ein trûric ende hât;

darzuo der linde

süeze und linde.

sô wê dir, Werlt, wie dirz gebende stât!

 

II

L 122,38

Ein tumber wân,

den ich zer werlte hân,

der ist wandelbære,

wand er bœsez ende gît.

5

ich solte in lân,

wan ich mich wol verstân,

daz er iht gebære

mîner sêle grôzen nît.

mîn armez leben in sorgen lît,

10

der buoze wære michel zît.

nû vürhte ich siecher man den grimmen tôt,

daz er mit swære

an mir gebære.

vor vorhten bleichent mir diu wangen rôt.

 

III

L 123,13

Wie sol ein man,

der niuwan sünden kan,

hân gout gedingen

oder gewinnen hôhen muot?

5

sît ich gewan

den muot, daz ich began,

zer werlte dingen,

merken übel unde guot,

dô greif ich, als ein tôre tuot,

10

zer winstern hant reht in die gluot,

und mêrte ie dem tiuvel sînen schal.

des muoz ich ringen,

mit sorgen dingen.

nû ringe und senfte ouch Jêsus mînen val.

 

IV

L 123,27

Heiliger Krist,

sît dû gewaltic bist

der werlte gemeine,

die nâch dir gebildet sint,

5

gib mir die list,

daz ich in kurzer frist

alsam gemeine

dich sam dîne erwelten kint.

ich was mit gesehenden ougen blint

10

und aller guoten dinge ein kint,

swie ich mîne missetât der werlte hal.

mache mich reine

ê mîne unreine

sêle versinke in daz verlorne tal.

 

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Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr!

(Elegie)

I

L 124,1

Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr!

ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?

daz ich ie wânde, daz iht wære, was daz iht?

dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.

5

nû bin ich erwachet und ist mir unbekant,

daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.

liute unde lant, danne ich von kinde bin gezogen,

die sint mir worden frœmde, reht als ob ez sî gelogen.

die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.

10

bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt.

wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,

für wâr, ich wânde, mîn ungelücke wurde grôz.

mich grüezet maniger trâge, der mich bekande ê wol,

diu welt ist allenthalben ungenaden vol.

15

als ich gedenke an manigen wunneclîchen tac,

die mir sint enphallen als in daz mer ein slac:

iemer mêre ouwê!

 

II

L 124,18

Owê, wie jæmerlîche junge liute tuont!

den ê vil wünnecîchen ir gemüete stuont,

die kunnen niuwan sorgen, ouwê, wie tuont si sô?

swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman frô:

5

tanzen unde singen zergât mit sorgen gar:

nie kristen man gesach sô jæmerlîche schar.

nû merkent, wie den frouwen ir gebende stât,

die stolzen ritter tragent dörpellîche wât.

uns sint unsenfte briefe her von Rôme komen,

10

uns ist erloubet trûren und fröide gar benomen.

daz müet mich inneclîchen – wir lebten ie vil wol –,

daz ich nû für mîn lachen weinen kiesen sol.

die wilden vogellîn betrüebet unser klage,

waz wunders ist ez denne, ob ich dâ von verzage?

15

waz spriche ich tumber man durch mînen bœsen zorn:

swer dirre wunne volget, der hât jene dort verlorn.

iemer mêr ouwê!

 

III

L 124,35

Owê wie uns mit süezen dingen ist vergeben!

ich sihe die bittern gallen in dem honige sweben:

diu werlt ist ûzen schœne, wîz, grüen unde rôt,

und innen swarzer varwe, vinster sam der tôt.

5

swen si nû verleitet habe, der schouwe sînen trôst:

er wirt mit swacher buoze grôzer sünde erlôst.

dar an gedenkent, ritter, ez ist iuwer dinc!

ir tragent die liehten helme und manigen herten rinc,

dar zuo die vesten schilte und diu gewîhten swert.

10

wolte got, wær ich der sigenünfte wert,

sô wolte ich nôtic man verdienen rîchen solt.

joch meine ich niht die huoben noch der hêrren golt.

ich wolte sælden krône êweclîchen tragen,

die mohte ein soldenær mit sînem sper bejagen.

15

möhte ich die lieben reise gevarn über sê,

sô wolte ich denne singen wol und niemer mêr ouwê!

niemer mêr ouwê.

 

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Owê, hovelîchez singen

(Kunstklage)

I

L 64,31

Owê, hovelîchez singen!

daz dich ungefüege dœne

solten ie ze hove verdringen!

daz die schiere got gehœne!

5

owê, daz dîn wirde alsô geliget,

des sint alle dîne friunde unfrô.

daz muoz eht alsô sîn, nû sî alsô!

frô Unfuoge, ir habt gesiget!

 

II

L 65,1

Der uns fröide wider bræhte,

diu rehte und gefüege wære, –

hei, wie wol man des gedæhte,

swâ man von im seite mære!

5

ez wære ein vil hovelîcher muot,

des ich iemer gerne wünschen sol.

frouwen unde hêrren zæme ez wol,

owê daz ez nieman tuot!

 

III

L 65,9

Die daz rehte singen stœrent,

der ist ungelîche mêre

danne die ez gerne hœrent.

doch folge ich der alten lêre:

5

ich enwil niht werben zuo der mül,

dâ der stein sô riuschent umbe gât

und daz rat sô mange unwîse hât.

merkent, wer dâ harpfen sül!

 

IV

L 65,17

Die sô frevellîchen schallent,

der muoz ich vor zorne lachen,

daz si in selben wol gevallent

mit alsô ungefüegen sachen.

5

die tuont sam die frösche in eime sê,

den ir schrîen alsô wol behaget,

daz diu nahtegal dâ von verzaget,

sô si gerne sunge mê.

 

V

L 65,25

Der ungefüege swîgen hieze,

– waz man danne fuoge vunde! –

und si von den bürgen stieze,

daz unfuoge dâ verswunde!

5

wurden ir die edelen habe benomen,

daz wære allez nâch dem willen mîn.

bî den gebûren lieze ich si wol sîn,

dannen ist si her bekomen.

 

Variante:

Swer unfuoge swîgen hieze,

waz man noch von fröiden sunge!

und si abe den bürgen stieze,

daz si uns da von niht twunge.

5

wurden ir die grôzen höve benomen,

daz wær allez nâch dem willen mîn.

bî den gebûren liez ich si wol sîn:

dannen ist si ouch her komen.