BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Stefan Zweig

1881 - 1942

 

Reise nach Rußland

 

1928

 

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Jasnaja Poljana

 

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Leo Tolstoi in seinem Haus in Jasnaja Poljana

 

Nachtfahrt ins flache Land. Am frühen Morgen Tula und dann mit linden Wiesen, kleinen fülligen Wäldchen dieses eine winzige Dorf, berühmt unter Hunderttausenden Rußlands: Jasnaja Poljana.

Alexandra Lwowna, die jüngste Tochter Tolstois, empfängt uns und führt erklärend zuerst in die Dorfschule, wo heute ein Denkmal Leo Tolstois enthüllt werden soll. Vom Vater hat sie die massive Gesundheit, die breite, wuchtige Vitalität, die beinahe bäuerliche Festigkeit und die ungebändigte Arbeitsenergie; sie hat nicht früher gerastet, als bis diese Schule, die ihr Vater vor sechzig Jahren in einer Dorfscheune begonnen, nun blank und neu aufgebaut ward in steinernen Mauern, das schönste Monument seines pädagogischen Willens, Sammelpunkt seiner Lehre. Das ganze Dorf ist versammelt, uralte Bauern mit langem, glattgestrichenem Haar und vereisten Bärten: wie herausgeschnitten aus Ikonen sehen sie aus, die meisten haben Leo Tolstoi noch selbst gekannt, einige sind darunter, die, weil sie seinen Lehren gehorcht, in den Gefängnissen gesessen haben und nach Sibirien gewandert sind. Neben ihnen junge Schüler in weißen Blusen, mit hellen, neugierigen Augen und grüßend, junge Mädchen, die ihre Kostüme schon bereithalten, um abends beim Bauerntanz die ländlichen Lieder den Gästen vorzuführen. Bei der Eröffnung gibt es einen schönen, starken Augenblick, wie Alexandra Lwowna sich erhebt und erklärt, in dieser Schule, die ihr Vater gegründet, dürfe niemals Militarismus und Atheismus gelehrt werden; dem widerspricht auch Lunatscharski nicht im Namen der Regierung, obwohl er nochmals mit seiner hämmernden, harten Energie den aktivistischen Standpunkt seiner Anschauung gegenüber dem passiv christlichen Tolstois energisch betont.

Dann zu Fuß, bis an die Knöchel einsinkend, nein, bis an die Knie, durch den fetten Lehm einer unergründlichen russischen Dorfstraße hin zum Schloß. Aber ist es wirklich ein Schloß? Beinahe lächelt man, wenn man sich der selbstanklägerischen Übertreibung Tolstois erinnert, der in seiner Bußhypertrophie immer ausschrie, er lebe „im Luxus“, er bewohne ein fürstliches Haus. Denn wie unschloßhaft ist dieser niedere, weißgetünchte Ziegelbau mit seinem kleinen Gärtchen, mitten im Walde, wie einfach und primitiv die Einrichtung. Der Frankfurter Kaufmannssohn Goethe, der schuldengehetzte Schreiber Balzac, sie haben in Weimar und Passy wie die Fürsten gewohnt im Vergleich zu diesen niederen, kahlen, mit billigem und oft zufälligem Kram gefüllten Gelassen. Knarrende Holzstiegen führen hinauf zu den Zimmern mit ihren schlecht gebohnten Weißholzdielen, der Schlafraum zeigt schmale, fast militärische Eisenbetten mit einfachsten Leinendecken, das Speisezimmer billige Thonet-Möbel oder dorfgezimmerte Ware, abends nur von Petroleumlampen mühselig erhellt. Kein einziger Gegenstand von Wert und wirklicher Kostbarkeit; an den Wänden verblaßte, schlecht gerahmte Photographien, auf den Gestellen Broschüren und kaum geordnete Bücher, kunterbunt auf dem Schreibtisch eine Grammophonwalze, die ihm Edison schickte, und ein gehämmerter Stein, den die Fabrikarbeiter ihm schenkten am Tage, als er aus der russischen Kirche austrat – eine wahrhaft spartanische Einfachheit, ohne das geringste Bemühen nach Bequemlichkeit und Fülle des Daseins. Eine Wachstuchottomane in seinem Arbeitszimmer als einzige Stelle der Rast, sie ist gleichzeitig das Bett, auf dem Tolstoi selbst und alle seine Kinder geboren wurden, dann ein Schachbrett und ein Klavier als einzige Zeichen der Ablenkung und geistiger Entlastung.

 

Tolstoi beim Schachspiel

 

Drückend und grau, wie sein eigenes Werk, und doch erschütternd durch seinen heroischen Ernst mutet es an, dieses triste, einstöckige Haus, nur die Fülle der Erinnerungen belebt es, einzig nur das Erinnern an seine fortgegangene Gestalt. Denn jedes winzige Ding hat noch seelisches Gewicht von seiner Legende. Hier vor dem Hause steht noch riesenhaft gewölbt, mit der kleinen Klingel daran, der „Baum der Armen“, wo alltäglich die Pilger und Bauern nachmittags den großen Dichter erwarteten. Hier im Arbeitsgemach unten im Kellerraum (in dem kein europäischer Schriftsteller heute seine Dienstboten wohnen ließe) steckt noch der Nagel in der Wand, an dem Tolstoi sich im Jahre der Krise erhängen wollte. Und mit unendlicher Ehrfurcht betrachtet man die nun welthistorisch gewordene Treppe vor dem engen Schlafraum, die der Dreiundachtzigjährige um vier Uhr morgens, plötzlich aufgerissen von seinem übermächtigen Gewissen, hinablief in den Stall, um seiner Heimat, seiner Familie zu entflüchten in seinen einzig heroischen Tod: hier atmet man Geschichte eines Gewaltigen in der Luft seines Lebens, und das Unvergängliche seines Werkes macht all die kleinen Vergänglichkeiten seines Heimes und seiner Hausung der aufgerüttelten Seele erschütternd und groß.