Stefan Zweig
1881 - 1942
Reise nach Rußland
1928
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Moskau: Museen
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Sonderbar, immer wird es die erste Frage an jeden Zurückkehrenden: ob er die neuen Reichen gesehen, die Neppmänner, die Nutznießer der Revolution. Vielleicht habe ich kein Glück gehabt: mir ist keiner begegnet. Die einzigen großen Revolutionsprofiteure, die ich in Rußland sah, waren die Museen: sie hat die konsequente Konfiskation sämtlichen privaten Kunsteigentums wahrhaft zu Fürsten und Magnaten gemacht. Man hat die Palais, die zahllosen Klöster, die Privatwohnungen mit einem Ruck ausgeräumt und die reichsten davon selbst wieder in Museen verwandelt, so daß sich deren Zahl zumindest vervierfacht, wahrscheinlich aber verzehnfacht hat. Die großen Galerien sind durch so unvermuteten Zuwachs über den Rand gequollen, sie fordern ungestüm Platz zu Bauten und Neubauten und wissen heute noch gar nicht wohin mit der plötzlich hereingeströmten Fülle. Überall wird noch gehämmert, gezählt, umgehängt, inventarisiert, überall entschuldigen sich die Direktoren, sie könnten nur einen kleinen Teil erst aufgehängt zeigen, und führen einen in Nebenräume, wo noch unbekannte Schätze der Aufstellung warten; nach zehn Jahren fehlt noch der vollkommene Überblick über die ungeheuren Bestände, die infolge der Kommunisierung so übermächtig in die Säle geströmt sind.Über diese gewaltsame Requirierung privaten Kunsteigentums zugunsten der ganzen Nation sich zu begeistern oder zu erbittern, bleibt ein Politikum: jedenfalls genießt zurzeit der Fremde und der Kunstfreund das aktuelle Resultat als eine Überwältigung mit beispielloser Vielfalt und Fülle. Aber nicht nur, daß all dieser ungeahnte Reichtum, bisher verschlossen und unsichtbar in fürstlichen Gemächern und Klöstern, sich nun jedem darbietet zu Augenlust und Gewinn, auch die Kunstgeschichte wird dieser gewaltsamen Zusammenfassung noch Anregungen für Jahrzehnte verdanken. Eine ist schon offenkundig: die vollkommene Umwertung in der Betrachtung der Ikone und damit in der Einstellung zur alten russischen Kunst. Denn verstreut in Tausenden unzugänglichen Kirchen und Klöstern, überleuchtet von Edelsteinen, erstickt von Blumenbehängen, verräuchert, verschmutzt und verklebt durch den Ruß der vorgesteckten Kerzen, waren bisher alle diese Ikone als eine Art Dunkelmalerei erschienen, schwarze Madonnen, finstere Heilige, eine freudefeindliche, beinahe spanisch düstere Kunst. Nun, im historischen Museum vereinigt, werden die Tausende eines um das andere gereinigt, und dabei ergibt sich die Überraschung, daß alle diese Bilder in ihrem Urzustand hellfarbig und heiter waren, bunt wie die Tücher der russischen Dorffrauen und hell wie der Himmel am Bosporus, von wo sie erstmalig ausgegangen. Mit den schwarzen Krusten, die jetzt abgetragen werden, mit dieser jahrhundertealten Verräucherung und Vernachlässigung wird jetzt zugleich eine ganz falsche Anschauung abgewaschen, und wenn nun bald die alten Basiliken (man beginnt schon damit) systematisch aufgehellt werden und den finsteren Fresken ihre Naivheit und Farbenfreudigkeit zurückgegeben wird, so dürfte Europa erstaunt vor einem vollständig neuen Kunstphänomen stehen, ähnlich erstaunt wie damals, als es entdeckte, daß die Plastiken der Griechen ursprünglich polychrom, ihre Tempel nicht marmorweiß und kalt, sondern von grellem Farbentumult erfüllt waren.
Die Tretjakow-Galerie
Solcher Entdeckungen stehen noch mehrere durch die plötzliche Konzentration und geeinte Schaustellung bevor, und schon begegnet man in der Tretjakow-Galerie einer völlig unverhofften Heerschau einer bei uns unbekannten und großartigen russischen Malerei. Aber was man nicht vermutete und was die Fremden vielleicht am meisten in Erstaunen setzt, ist, daß man nirgends außer in Paris eine solche Sammlung der französischen Impressionisten sehen kann wie in Moskau, dank der Konfiskation der beiden berühmten Sammlungen Morosow und Schutkin, dreißig Van Goghs enthaltend, die prächtigsten Manets, Courbets, Gauguins und anschließend daran die ganze moderne Malerei bis 1914. Um auch nur im Fluge den Reichtum der vierzig oder fünfzig Museen von Moskau allein zu durchmessen, brauchte man Wochen und Monate, so sind sie jetzt angefüllt und beinahe überfüllt; nirgends so sinnlich, so glücklich wie in der Kunst drückt sich der marxistische Gedanke aus, daß alles allen gehören solle.Und tatsächlich hat diese Gewißheit, daß all diese Schätze einer seelisch fremdartigen und gleichsam unbekannten Oberwelt an sie gefallen sind und ihnen gehören, den Massen hier einen fast religiösen Respekt vor den Museen gegeben. Ununterbrochen sind sie von Besuchern durchflutet, Soldaten, Bauern, Volksfrauen, die vor einem Jahrzehnt noch nicht wußten, was ein Museum ist, sie alle durchziehen jetzt in breiten, andächtigen Trupps die Schauräume, und es ist rührend anzusehen, wie vorsichtig, respektvoll sie mit ihren schweren, hochschäftigen Stiefeln über die Parkette schreiten, wie achtungsvoll und lernbegierig sie in Gruppen mit freiwilligen Führern vor den Kunstwerken stehen. Und es ist der größte Stolz der Museumsleiter, der Führer und des ganzen Volkes, daß im Gegensatz zur Französischen Revolution, die kirchenstürmerisch und plündernd ungeheure Werte sich selbst entwendete, die russische (härter sonst und radikaler als die andere) sich und der Welt kein einziges wesentliches Kunstwerk zerstört hat.Diese Rettung der musealen Werte in den furchtbarsten Tagen des Umsturzes danken Rußland und mit ihm alle Kunstfreunde der rechtzeitigen Energie einiger Führer, Lunatscharskis vor allem, aber nicht minder der stillen, unscheinbaren und doch heroischen und aufopferungsvollen Arbeit einzelner unbekannter Museumsleiter. Während die Regierung von einer Hand in die andere überging, während die Maschinengewehre auf den Straßen knatterten, haben diese unbekannten Helden, schlecht bezahlt und vergessen, hungernd und frierend, bei zehn Grad unter Null in ungeheizten Räumen diese unermeßlichen Werte gehütet, geschützt, geordnet und der Weltgemeinschaft bewahrt. Niemand kennt, niemand nennt heute die Namen dieser Rührenden und Redlichen, niemand hat noch die Geschichte ihrer Aufopferungen und Entbehrungen erzählt; erst die Zukunft wird ihrer im Tumult des Umsturzes unscheinbar verborgenen Tat für das große Werk dieser Rettung dankbar sein. |