BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Stefan Zweig

1881 - 1942

 

Amerigo

 

Die Geschichte eines

historischen Irrtums

 

1944

 

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Für zweiunddreißig Seiten Unsterblichkeit

 

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1503 flattern beinahe gleichzeitig in den verschiedensten Städten – Paris, Florenz, man weiß nicht, in welcher zuerst – ein paar bedruckte Blätter auf, vier bis sechs im ganzen, „Mundus Novus“ betitelt. Als Verfasser dieses lateinisch geschriebenen Traktats wird bald ein Albericus Vespucius oder Vesputius genannt, der in der Form eines Briefes an Laurentius Petrus Franciscus de Medici über eine Reise berichtet, die er in bisher unbekannte Länder im Auftrag des Königs von Portugal unternommen habe. Solche brieflichen Berichte über Entdeckungsreisen sind in der damaligen Zeit nicht selten. Alle großen Handlungshäuser Deutschlands, Hollands und Italiens, die Welser, die Fugger, die Medici, und außerdem noch die Signoria von Venedig haben ihre Korrespondenten in Lissabon und Sevilla, die ihnen Nachricht über jede gelungene Expedition nach Indien zum Zwecke geschäftlicher Orientierung geben; diese Briefe ihrer Handelsattachés sind, weil sie eigentlich Geschäftsgeheimnisse vermitteln, sehr gesucht, und ihre Abschriften werden ebenso wie die Karten – die Portolane – der neugefundenen Küsten als Wertobjekte gehandelt. Manchmal fällt eine dieser Abschriften einem geschäftstüchtigen Buchdrucker in die Hand, der sie dann sofort in seiner Presse vervielfältigt. Und diese Flugblätter, welche für das große Publikum die damals noch nicht etablierte Zeitung ersetzen, indem sie interessante Neuigkeiten der Öffentlichkeit rasch zugänglich machen wollen, werden dann zwischen Ablaßzetteln und medizinischen Rezepten auf den Jahrmärkten verkauft. Ein Freund legt sie dem andern in Briefen, in Paketen bei; so erlangt ab und zu ein ursprünglicher Privatbrief eines Faktors an seinen Chef die Öffentlichkeit eines gedruckten Buchs.

Von all diesen Flugblättern der Zeit hat seit dem ersten Brief des Co­lumbus von 1493, der seine Ankunft an den Inseln „nahe des Ganges“ meldete, keines solch allgemeines und keines folgenreicheres Aufsehen erregt als diese vier Blätter des bishin völlig unbekannten Albericus. Schon der Text kündigt eine gewisse Sensation an. Dieser Brief sei „ex italica in latinam linguam“, aus dem Italienischen ins Lateinische übersetzt, „damit alle Gebildeten gewahr werden können, wieviele wunderbare Dinge in diesen Tagen entdeckt würden“ („quam multa miranda in dies reperiantur“), wieviel bis zum heutigen Tage unbekannte Welten aufgefunden und was alles in ihnen enthalten sei („quanto a tanto tempore quo mundus cepit ignota sit vastitas terrae et quod continetur in ea“). Diese marktschreierische Ankündigung ist an sich schon ein kräftiger Köder für die nach Nachrichten hungrige Welt; das kleine Flugblatt findet demgemäß reißenden Absatz. Es wird in den entlegensten Städten mehrmals nachgedruckt, ins Deutsche, ins Holländische, Französische, Italienische übersetzt und sofort in alle Sammlungen von Reiseberichten, wie sie jetzt in allen Sprachen zu erscheinen beginnen, aufgenommen; es ist ein Markstein, wenn nicht sogar der Grundstein der neuen Geographie für die noch ahnungslose Welt.

Der große Erfolg dieses winzigen Büchleins ist vollkommen verständlich. Denn dieser unbekannte Vespucius ist der erste von all den Seefahrern, der gut und amüsant zu erzählen versteht. Was sonst auf solchen Abenteurerschiffen sich zusammentut, sind analphabetische Strandläufer, Soldaten und Matrosen, die nicht einmal ihren eigenen Namen zu unterzeichnen wissen, vielleicht allenfalls noch ein excribano, ein trockener Jurist, der nur Fakten kalt aneinanderreiht, oder ein Pilot, der Längengrade und Breitengrade notiert. Das große Publikum ist also noch zur Wende des Jahrhunderts ganz unbelehrt über das, was in diesen fernen Geländen eigentlich entdeckt worden ist. Und da kommt nun ein glaubhafter und sogar gelehrter Mann, der nicht übertreibt und fabuliert, sondern redlich berichtet, wie er am 14. Mai 1501 im Auftrag des Königs von Portugal über das große Weltmeer gefahren sei, zwei Monate und zwei Tage lang unter einem Himmel, der so dunkel und stürmisch war, daß man weder Sonne noch Mond habe erblicken können. Er läßt den Leser all die Schrecknisse miterleben, er erzählt, wie sie schon alle Hoffnung auf glückliche Landung aufgegeben hätten in ihren lecken und von den Würmern bereits durchhöhlten Schiffen; da hätten sie dank seiner Geschicklichkeit als Kosmograph endlich am 7. August 1501 – das Datum ist anders als in seinen anderen Berichten, aber an solche Ungenauigkeiten muß man sich bei diesem gelehrten Manne gewöhnen – Land gesehen, und welch ein gesegnetes Land! Arbeit und Qual sei hier für den Menschen nicht vonnöten. Die Bäume bedürfen keiner Pflege und geben Früchte im Überfluß, die Flüsse und Quellen reines, gutes Wasser; das Meer ist voller Fische, die Erde unglaublich fruchtbar und strotzend von wohlschmeckenden und völlig unbekannten Früchten; kühle Brisen wehen über das reiche Land, und die dichten Wälder machen auch die sonnigsten Tage erquicklich. Tausenderlei Getier und Vögel gebe es hier, von dessen Vorhandensein Ptolemäus nie eine Ahnung gehabt. Die Menschen leben noch im vollen Zustand der Unschuld; sie seien rötlicher Hautfarbe, und zwar, erklärt der Reisende, weil sie von der Geburt bis zum Tode nackt gehen und derart von der Sonne gebräunt werden; sie besitzen weder Kleider noch Schmuck noch irgendwelches Eigentum. Alles gehöre ihnen gemeinsam, auch die Frauen, von deren jederzeit gefälliger Sinnlichkeit der gelehrte Herr ziemlich pikante Anekdoten serviert. Scham und sittliche Gebote seien diesen Naturkindern völlig fremd, der Vater schläft mit der Toch­ter, der Bruder mit der Schwester, der Sohn mit der Mutter; es gibt keine Ödipuskomplexe, keine Hemmungen, und doch werden sie hundert­undfünfzig Jahre alt, falls sie nicht – dies ihre einzige unfreundliche Eigenschaft – sich zuvor kannibalisch verzehren. Kurzum, „wenn es irgendwo das irdische Paradies gibt, so kann es nicht weit von hier sein“. Ehe Vesputius von Brasilien – denn dies ist das geschilderte Paradies – Abschied nimmt, ergeht er sich noch ausführlich über die Schönheit der Sterne, die in andern Bildern und Zeichen über dieser gesegneten Hemisphäre leuchten, und verspricht, späterhin noch mehr von dieser und anderen Reisen in einem Buche zu berichten, „damit ein Erinnern an ihn an die Nachwelt komme“ („ut mei recordatio apud posteros vivat“) und man „Gottes wunderbare Werke auch in diesem bisher unbekannten Teile seiner Erde erkenne“.

 

 

Man kann das Aufsehen verstehen, das dieser lebendige, farbige Bericht bei den Zeitgenossen erregt. Denn nicht nur die Neugier nach diesen unbekannten Zonen wird gleichzeitig befriedigt und angestachelt; unbewußt hat mit dem einen Wort, daß „das irdische Paradies, wenn es irgendwo existiere, nicht weit von hier sein könne“, dieser Vesputius an eine der geheimnisvollsten Hoffnungen seiner Epoche gerührt. Längst hatten die Kirchenväter, besonders die griechischen Theologen, die These aufgestellt, Gott habe nach Adams Sündenfall das Paradies keineswegs zerstört. Er habe es nur weggerückt auf die „Gegenerde“, in einen den Menschen nicht erreichbaren Raum. Diese „Gegenerde“ aber solle nach der mythischen Theologie jenseits des Ozeans gelegen sein, also hinter einer den Irdischen undurchdringlichen Zone. Nun aber, da die Kühnheit der Entdecker diesen bisher undurchdringlichen Ozean durchfahren und die Hemisphäre der anderen Sterne erreicht – könnte der alte Traum der Menschheit sich nicht doch erfüllen und das Paradies wiedergewonnen werden? Wie natürlich darum, daß die Schilderung jener von Vesputius erschauten Unschuldswelt, die sonderbar der Welt vor dem Sündenfall gleicht, eine Zeit erregt, die ähnlich wie die unsere inmitten von Katastrophen lebt. In Deutschland beginnen sich die Bauern zusammenzuscharen, weil sie die Fron nicht mehr ertragen wollen, in Spanien wütet die Inquisition und gönnt auch dem Verläßlichsten keinen Frieden, in Italien, in Frankreich toben die Kriege. Tausende und Hunderttausende von Menschen, die solcher täglichen Bedrängnis müde werden, sind schon aus Abscheu vor dieser überreizten Welt in die Klöster geflüchtet; nirgends ist Ruhe, ist Rast, ist Friede für den „Jedermann“, der nichts sucht als sein kleines unbehelligtes Dasein. Und plötzlich kommt Botschaft und flattert mit ihren paar schmalen Blättern von Stadt zu Stadt, ein verläßlicher Mann, kein Gaukler, kein Sindbad, kein Lügner, sondern ein gelehrter Mann, der vom König von Portugal ausgesandt sei, habe weit hinter allen bisher bekannten Zonen ein Land entdeckt, wo noch Frieden für die Menschen zu finden ist. Ein Land, wo nicht der Kampf um Geld, um Besitz, um Macht die Seelen verstört. Ein Land, wo es keine Fürsten, keine Könige, keine Blutsauger und Froneintreiber gibt, wo man nicht die Fäuste sich blutig schinden muß um sein täglich Brot, wo die Erde noch gütig den Menschen nährt und der Mensch nicht des Menschen ewiger Feind ist. Es ist eine uralte religiöse, eine messianische Hoffnung, die dieser unbekannte Vesputius mit seinem Bericht entfacht; er hat an die tiefste Sehnsucht der Menschheit gerührt, an den Traum der Freiheit von Sitte, Geld, Gesetz und Besitz, an jenes unstillbare Verlangen nach einem Leben ohne Mühe, ohne Verantwortung, das in jedes Menschen Seele geheimnisvoll dämmert wie eine dunkle Erinnerung aus dem Paradies.

 

 

Dieser sonderbare Umstand mochte wohl geneigt sein, jenen wenigen und schlecht gedruckten Blättern eine Wirkung in die Zeit zu geben, die weitaus diejenige aller anderen Berichte, selbst des Columbus, übertraf; aber der eigentliche Ruhm und die welthistorische Bedeutung dieses winzigen Flugblatts beruhen weder auf seinem Inhalt noch auf der seelischen Spannung, die es unter den Zeitgenossen erregte. Das eigentliche Geschehnis dieses Briefes ist merkwürdi­gerweise nicht der Brief selbst, sondern sein Titel, die zwei Worte, die vier Silben „Mundus Novus“, die eine Revolution ohnegleichen in der Betrachtung des Kosmos hervorgerufen haben. Bis zu dieser Stunde hatte Europa als das große geographische Ereignis der Zeit betrachtet, daß Indien, das Land der Schätze und der Gewürze, innerhalb eines Jahrzehnts auf einem zwiefachen Wege erreicht worden war: durch Vasco da Gama auf dem Wege nach Osten rund um Afrika und durch Christoph Columbus auf dem Wege nach Westen quer durch den bisher undurchfahrbaren Ozean. Mit Bewunderung hatte man die Schätze gesehen, die Vasco da Gama aus den Palästen Calicuts heimgebracht, mit Neugier von den vielen Inseln gehört, die der Großadmiral des Königs von Spanien, Christoph Columbus, seiner Meinung nach der Küste von China vorgelagert gefunden. Auch er hatte also seiner ekstatischen Aussage gemäß das Land des Großen Khans betreten, das Marco Polo beschrieben; damit schien die Welt umrundet, Indien, das seit tausend Jahren unerreichbare, von beiden Seiten erreicht.

Aber nun kommt dieser andere Seefahrer, dieser merkwürdige Albericus, und meldet etwas noch viel Erstaunlicheres. Was er auf dieser Reise nach Westen erreicht habe, sei gar nicht Indien, sondern ein ganz neues, unbekanntes Land zwischen Asien und Europa, also ein völlig neuer Teil der Welt. Wörtlich schreibt Vesputius, daß man jene Regionen, die er im Auftrag des Königs von Portugal gefunden habe, getrost eine neue Welt nennen dürfe, „Novum Mundum appellare licet“, und begründet ausführlich diese seine Ansicht. „Denn keiner unserer Vorfahren hatte von diesen Ländern Kenntnis, die wir gesehen, und von dem, was sie enthalten; unser Wissen geht weit über das ihre hinaus. Die meisten von ihnen glaubten, daß sich südlich des Äquators kein Festland befände, sondern nur eine unendliche See, die sie die atlantische nannten, und auch diejenigen, die hier einen Kontinent für möglich hielten, waren aus verschiedenen Gründen der Meinung, er müsse unbewohnbar sein. Meine Fahrt hat nun bewiesen, daß diese Ansicht irrig ist und der Wahrheit schroff entgegensteht, da ich südlich des Äquators einen Kontinent fand, der in manchen Tälern viel mehr von Menschen und Tieren bevölkert ist als unser Europa, Asien und Afrika und überdies ein angenehmeres und milderes Klima besitzt als die anderen uns bekannten Erdteile.“

Diese wenigen, aber entschiedenen Worte machen den „Mundus Novus“ zu einer denkwürdigen Urkunde der Menschheit; sie sind – zweihundertsiebzig Jahre vor der anderen – die erste Unabhängig­keitserklärung Amerikas. Columbus, bis zu seiner Todesstunde blind in den Wahn verstrickt, er habe auf Guanahani und Cuba Indien betreten, hat mit diesem Wahn eigentlich seinen Zeitgenossen den Kosmos verkleinert; erst Vespucci gibt, indem er die Hypothese zerstört, dieser neue Kontinent sei Indien, und klar behauptet, es sei eine neue Welt, zugleich das neue und bis zum heutigen Tage gültige Maß. Er sticht den Star, der dem großen Entdecker den Blick auf seine eigene Tat verschattete, und wenn er selbst auch nicht im entferntesten ahnt, welche Dimensionen dieser Kontinent haben wird, so hat er doch wenigstens die Selbständigkeit seines Südteils erkannt. In diesem Sinn vollendet Vespucci tatsächlich die Entdeckung Amerikas, denn jede Entdeckung, jede Erfindung wird gültig nicht nur durch den, der sie macht, sondern mehr noch durch den, der sie in ihrem Sinne, in ihrer wirkenden Kraft erkennt; wenn Columbus das Verdienst der Tat, so gehört Vespucci durch diese seine Worte das historische Verdienst ihrer Deutung. Er hat als Traumdeuter sichtbar gemacht, was sein Vorläufer traumwandlerisch gefunden.

Die Überraschung, welche die Ankündigung dieses bisher unbe­kannten Vesputius hervorruft, ist eine ungeheure und freudige; sie greift tief in das allgemeine Empfinden der Zeit, tiefer sogar und nachhaltiger als die Entdeckung des Genuesers. Daß ein neuer Weg nach Indien gefunden sei, daß man die von Marco Polo längst beschriebenen Länder auch mit Schiffen von Spanien aus erreichen könne, hatte als kommerzielle Angelegenheit immerhin nur einen kleinen, an dieser Entdeckung unmittelbar interessierten Kreis beschäftigt: die Kaufleute, die Händler in Antwerpen und Augsburg und Venedig, die bereits eifrig kalkulierten, auf welchem Weg – dem Vasco da Gamas über den Osten oder dem des Columbus über den Westen – man die Gewürze, den Pfeffer und den Zimt billiger verschiffen könne. Die Mitteilung dieses Alberico aber, daß ein neuer Teil der Welt mitten im Ozean aufgefunden sei, wirkt auf die Phantasie der großen Masse mit unwiderstehlicher Kraft. Ist es die sagenhafte Insel Atlantis der Alten, die er gefunden? Sind es die glückseligen, die halkyonischen Inseln? Wunderbar wird das Selbstgefühl der Zeit gesteigert durch das Gefühl, daß die Erde weiter und überraschungsreicher sei, als selbst die weisesten Männer der Vorzeit vermutet, und daß es ihnen, daß es ihrer eigenen Generation vorbehalten sei, die letzten Geheimnisse des Erdballs zu ergründen. Und man versteht, mit welcher Ungeduld die Gelehrten, die Geographen, die Kosmographen, die Drucker und hinter ihnen die unermeßliche Schar der Leser warten, daß dieser unbekannte Albericus sein Versprechen erfülle und mehr erzähle von seinen Forschungen und Reisen, die zum erstenmal die Welt und die Menschheit über die Größe des Erdballs belehren.

 

 

Die Ungeduldigen müssen nicht allzulange warten. Zwei oder drei Jahre später erscheint bei einem Drucker in Florenz, der seinen Namen – wir werden später sehen, aus welchen Gründen – wohlweislich verschweigt, ein dünnes Heftchen von sechzehn Seiten in italienischer Sprache. Es nennt sich: „Lettera di Amerigo Vespucci delle isole nuovamente trovate in quattro suoi viaggi“ (Brief Amerigo Vespuccis über die auf seinen vier Reisen entdeckten Inseln). Am Ende trägt dieses Opusculum das Datum: „Data in Lisbona a di 4 septembre 1504. Servitore Amerigo Vespucci in Lisbona.

Schon durch diesen Titel erfährt endlich die Welt mehr von diesem geheimnisvollen Manne. Erstens, daß er Amerigo heißt, nicht Alberico, und Vespucci statt Vespucius. Aus der Einleitung, die an einen großen Herrn gerichtet ist, werden weitere Lebensumstände klar. Vespucci berichtet, in Florenz geboren zu sein und sich nach Spanien als Kaufmann begeben zu haben („per tractare mercantie“). In diesem Berufe habe er vier Jahre verbracht, während derer er die Wandelbarkeit des Glücks erfahren habe, „das seine vergänglichen und unbeständigen Güter ungleichmäßig verteilt, eines Tages den Menschen auf den Gipfel trägt, um ihn den nächsten wieder herabzuschleudern und der sozusagen geliehenen Güter wieder zu berauben“. Da er aber gleichzeitig beobachtet habe, welche Fährlichkeiten und Unannehmlichkeiten in dieser Jagd nach dem Gewinne liegen, habe er sich entschlossen, dem Handel abzusagen und sich ein höheres und ehrenvolleres Ziel zu setzen, nämlich einen Teil der Welt und seine Wunder zu sehen („mi disposi d'andare a vedere parte del mondo e le sue maraviglie“). Dazu habe sich nun gute Gelegenheit geboten, indem der König von Castilien vier Schiffe ausgerüstet hätte, um neues Land im Westen zu entdecken, und ihm sei verstattet worden, in dieser Flotte mitzureisen, um bei der Entdeckung hilfreich mitzutun („per aiutare a discoprire“). Aber Vespucci berichtet nicht nur von dieser ersten Reise, sondern auch von drei anderen (darunter der bereits im „Mundus Novus“ geschilderten); und zwar unternahm er – die Chronologie ist wichtig –:

die erste vom 10. Mai 1497 bis 15. Oktober 1498 unter spanischer Flagge,

die zweite vom 16. Mai 1499 bis 8. September 1500, gleichfalls für den König von Castilien,

die dritte („Mundus Novus“) vom 10. Mai 1501 bis 15. Oktober 1502 unter portugiesischer Flagge,

die vierte vom 10. Mai 1503 bis 18. Juni 1504, ebenfalls für die Portugiesen.

Mit diesen vier Reisen ist der unbekannte Kaufmann in die Reihen der großen Seefahrer und Entdecker seiner Zeit getreten.

An wen diese „Lettera“, dieser Bericht über die vier Reisen, gesandt war, ist in der ersten Ausgabe nicht gesagt; erst in den späteren wird berichtet, sie sei an den Gonfaloniere, den Gouverneur von Florenz, Pietro Soderini, gerichtet gewesen, wofür aber – bei Vespuccis litera­rischen Produktionen wird sich bald manche Dunkelheit ergeben – bis zum heutigen Tage ein völlig gültiges Zeugnis fehlt. Aber mit Ausnahme einiger höflicher Floskeln des Eingangs ist die Form des Berichts ebenso locker, amüsant und abwechslungsreich wie im „Mundus Novus“. Nicht nur daß Vespucci noch neue Einzelheiten über das „epikureische Leben“ dieser unbekannten Völker gibt, schildert er noch Kämpfe, Schiffbrüche und dramatische Episoden mit Kannibalen und Riesenschlangen; viele Tiere und Gerätschaften (wie der Hammock, die Hängematte) werden durch ihn zum erstenmal der Kulturgeschichte übermittelt. Die Geographen, die Astronomen, die Kaufleute finden wertvolle Informationen, die Gelehrten eine Reihe von Thesen, über die sie diskutieren und sich verbreiten können, und auch das große Neugierpublikum kommt reichlich auf seine Kosten. Zum Schlusse kündigt Vespucci abermals sein großes, sein eigentliches Werk über diese neuen Welten an, das er, sobald er einmal sich zur Ruhe setzen könne, in seiner Vaterstadt vollenden wolle.

Aber zu diesem Werke ist es niemals gekommen, oder es ist uns ebenso wie Vespuccis Tagebücher nicht überliefert. Zweiunddreißig Seiten (von denen die dritte Reise nur eine Variante des „Mundus Novus“ darstellt) stellen somit das ganze literarische Werk Amerigo Vespuccis dar, ein winziges und nicht sehr gewichtiges Gepäck für den Weg in die Unsterblichkeit. Man darf also ohne Übertreibung sagen: nie ist ein schreibender Mensch mit so geringem überliefertem Werk so berühmt geworden; Zufall über Zufall, Irrtum über Irrtum mußte sich türmen, um es derart hoch über seine Zeit zu stellen, daß selbst die unsere diesen Namen sich merken muß, der mit dem Sternenbanner sich bis unter die Sterne schwingt.

 

 

Der erste Zufall und zugleich schon der erste Irrtum kommt bald diesen im höheren Sinne belanglosen zweiunddreißig Seiten zu Hilfe. Ein findiger italienischer Buchdrucker hatte schon 1504 den richtigen Flair gehabt, daß die Zeit für Sammlungen von Reiseberichten günstig sei. Zum erstenmal faßt der Venezianer Albertino Vercellese alle Reise­berichte, die ihm zur Hand kommen, in einem Bändchen zusammen. Dieses „Libretto de tutta la navigazione del Rè de Spagna e terreni novamente trovati“, das die Reiseberichte über Cadamosto, Vasco da Gama, die erste Columbusfahrt zusammenstellt, hat so guten Absatz, daß ein Drucker in Vicenza 1507 sich entschließt, eine größere (126 Seiten umfassende) Anthologie herauszugeben (unter Leitung von Zorzi und Montalbodo), die die portugiesischen Expeditionen des Cadamosto, Vasco da Gama, Cabrai, die ersten drei Reisen des Columbus und den „Mundus Novus“ Vespuccis enthält. Verhängnisvollerweise findet er dafür keinen besseren Titel als „Mondo novo e paesi nuovamente retro­vati da Alberico Vesputio florentino“ („Neue Welt und neugefundene Länder von Alberico Vespucci aus Florenz“). Damit beginnt nun die große Komödie der Irrungen. Denn dieser Titel ist gefährlich zweideutig. Er läßt leicht die Meinung zu, als wären die neuen Länder nicht nur „Neue Welt“ von Vespucci benannt, sondern auch diese neue Welt von ihm entdeckt; wer die Titelseite nur flüchtig anblickt, muß unvermeidlich diesem Irrtum anheimfallen. Und dieses Buch, ein ums anderemal gedruckt, geht durch Tausende Hände und trägt mit gefährlicher Geschwindigkeit die Falschmeldung weiter, Vespucci sei der erste Finder dieser neuen Länder. Der kleine dumme Zufall, daß ein ahnungsloser Drucker in Vicenza den Namen Vespuccis statt jenen des Columbus auf die Titelseite seiner Anthologie setzt, wirft dem ebenso ahnungslosen Vespucci einen Ruhm zu, von dem er nicht weiß, und macht ihn ohne Willen und Wissen zum Usurpator einer fremden Leistung.

Selbstverständlich hätte dieser eine Irrtum für sich allein nicht ausgereicht für eine so ungeheure, die Jahrtausende überspannende Wirkung. Aber es ist nur der erste Akt oder vielmehr der Auftakt dieser Komödie der Irrungen. Zufall muß weiter an Zufall emsig sich knüpfen, ehe dies trügerische Gespinst sich vollendet. Sonderbarerweise beginnt gerade jetzt, da mit seinen armen zweiunddreißig Seiten Vespucci seine ganze literarische Lebensleistung schon beendet hat, sein Aufstieg in die Unsterblichkeit, vielleicht der groteskeste, den die Geschichte des Ruhms gekannt. Und er beginnt in einem ganz anderen Teil der Erde, in einem Ort, den Vespucci nie betreten, und von dessen Existenz der seefahrende Kaufmann in Sevilla wahrscheinlich nie die leiseste Ahnung gehabt: in dem Städtchen St-Dié.