BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Wittgenstein

1889 - 1951

 

Wörterbuch für Volks-

und Bürgerschulen

 

1926

 

____________________________________________________

 

 

 

Geleitwort.

 

Das vorliegende Wörterbuch soll einem dringenden Bedürfnis des gegenwärtigen Rechtschreibunterrichtes abhelfen. Es ist aus der Praxis des Verfassers hervorgegangen: Um die Rechtschreibung seiner Klasse zu bessern, schien es dem Verfasser notwendig, seine Schüler mit Wörterbüchern zu versehen, um sie in den Stand zu setzen, sich jederzeit über die Schreibung eines Wortes zu unterrichten; und zwar, erstens, auf möglichst rasche Weise, zweitens aber auf eine Weise, die es möglich macht sich das gesuchte Wort dauernd einzuprägen.

Hauptsächlich beim Schreiben und Verbessern der Aufsätze wird die Schreibung der Wörter dem Schüler zur interessanten und dringenden Frage. Das häufige Befragen des Lehrers oder der Mitschüler stört die Mitschüler bei ihrer Arbeit, leistet auch einer gewissen Denkfaulheit Vorschub und die Information durch den Mitschüler ist überdies häufig falsch. Außerdem aber hinterläßt die mündliche Mitteilung einen viel schwächeren Eindruck im Gedächtnis als das gesehene Wort. Nur das Wörterbuch macht es möglich, den Schüler für die Rechtschreibung seiner Arbeit voll verantwortlich zu machen, denn es gibt ihm ein sicheres Mittel seine Fehler zu finden und zu verbessern, wenn er nur will.

Es ist aber unbedingt nötig, daß der Schüler seinen Aufsatz selbständig verbessert. Er soll sich als alleiniger Verfasser seiner Arbeit fühlen und auch allein für sie verantwortlich sein. Auch setzt nur die selbständige Verbesserung den Lehrer in den Stand, sich ein richtiges Bild von den Kenntnissen und der Intelligenz des Schülers zu machen. Das Vertauschen der Hefte und gegenseitige Verbessern der Arbeiten liefert ein sozusagen verschwommenes Bild von den Fähigkeiten der Klasse. Aus der Arbeit des Schülers A will ich nicht zugleich erfahren, was der Schüler B kann, sondern das will ich aus der Arbeit des B ersehen. Und die gegenseitige Verbesserung gibt nicht einmal, wie manchmal behauptet wird, ein richtiges Bild über das allgemeine Niveau der Klasse (dazu müßte jeder Schüler die Arbeiten aller seiner Mitschüler verbessern, was natürlich nicht möglich ist). Auch ist, glaube ich, eine solche Durchschnittsrechtschreibung nicht das, was den Lehrer interessieren soll; denn nicht „die Klasse“ soll richtig schreiben lernen, sondern jeder Schüler: also war den Schülern ein Wörterbuch in die Hand zu geben; denn auch ein Wörterheft, wie es vielfach empfohlen wird, erfüllt unseren Zweck nicht. Im Wörterheft werden für jeden Anfangsbuchstaben einige Seiten freigelassen und in dem verfügbaren Raum tragen die Schüler gelegentlich wichtige Wörter ein, in der Reihenfolge, wie sie der Unterricht ergibt. Ein solches Heft mag für manche Zwecke gut sein, aber zum Nachschlagen, als Ersatz des Wörterbuches, taugt es nicht, denn es enthält entweder viel zu wenig Wörter, oder das Aufsuchen wird ungeheuer zeitraubend, also praktisch unmöglich.

Also ein Wörterbuch, aber welches? Es kommen nur die beiden Wörterbücher des Schulbücher-Verlages in Betracht. Die große Ausgabe desselben, die ich im Folgenden der Kürze halber „das große Wörterbuch“ nennen will, hat für meinen Zweck verschiedene Nachteile. Erstens ist es zu umfangreich und infolgedessen unserer Landbevölkerung vielfach zu teuer; zweitens ist es infolge seines Umfangs für die Kinder schwer zu gebrauchen; drittens enthält es eine große Menge von Wörtern die das Kind nie gebraucht – insbesondere viele Fremdwörter – dagegen enthält es viele Wörter nicht, die für die Kinder notwendig wären. Dies sind zum Teil solche Wörter die vielleicht ihrer Einfachheit halber nicht aufgenommen wurden, z.B.: „dann“, „wann“, „mir“, „dir“, „du“, „in“, u.a. – Aber gerade diese einfachsten Wörter werden von den Kindern sehr häufig falsch geschrieben und sind die Gelegenheit zu den bedauerlichsten Fehlern. Anderenteils vermissen wir im großen Wörterbuch viele Zusammensetzungen und Ableitungen, die darum in ein Wörterbuch für Volksschulen gehören, weil die Kinder sie schwer als solche erkennen und darum häufig nicht auf den Gedanken kommen die Stammwörter nachzuschlagen (z.B. „Rauchfang“ – die Kinder sagen „Raufang“). Oder sie erkennen das Wort als Komposition, irren sich aber bei seiner Auflösung und schlagen etwa für das Wort „Einnahme“ „ein“ und „Name“ nach etc. etc. Aus den angeführten Gründen war das große Wörterbuch für meinen Zweck nicht geeignet; die kleine Ausgabe aber ist gänzlich unbrauchbar: denn es fehlen in ihr die allermeisten einfachen und wichtigen Wörter des täglichen Lebens; ja dieses Büchlein ist beinahe nur ein Fremdwörterbuch, also gerade das was ich nicht brauchen konnte.

In dieser Not entschloß ich mich dazu, meinen Schülern (der 4. Klasse einer 5-klassigen Schule) ein Wörterbuch zu diktieren. Dieses Wörterbuch umfaßte cca. 2500 Stichwörter. Ein Wörterbuch von noch geringerem Umfange hätte seinen Zweck nicht erfüllt. Wer in der Praxis steht, kann sich einen Begriff von der Schwierigkeit dieser Arbeit machen, die ja dazu führen soll, daß jeder Schüler ein sauberes und womöglich fehlerfreies Wörterbuch erhält, denn um das zu erreichen, muß der Lehrer beinahe jedes Wort bei jedem Schüler kontrollieren. (Stichproben genügen nicht. Von den Anforderungen an die Disziplin will ich nicht reden.) Als dieses Wörterbüchlein nach mehrmonatlicher Arbeit fertig war, zeigte es sich nun, daß die Arbeit der Mühe wert gewesen war, denn die Besserung in der Rechtschreibung war erstaunlich. Das orthographische Gewissen war geweckt worden. Aber dieses Verfahren, sich ein Wörterbuch selbst anzulegen, ist doch im allgemeinen nicht durchführbar, insbesondere nicht an nieder­organisierten Schulen und auch an höher organisierten ist es so zeitraubend und schwierig, daß diese Nachteile reichlich die Vorteile aufwiegen, die ein selbst angelegtes Wörterbuch ja zweifellos vor dem fertig gekauften hat. So kam ich dazu, das vorliegende Wörterbuch zu schreiben.

Die Probleme, die sich bei der Zusammenstellung des Wörterbuches ergeben betreffen die Auswahl und die Anordnung der Wörter. Für die Auswahl der Wörter waren mir folgende Gesichtspunkte maßgebend:

1.) In das Wörterbuch sollen nur solche, aber alle solche Wörter aufgenommen werden, die österreichischen Volksschülern geläufig sind. Also auch viele gute deutsche Wörter nicht, die in Österreich ungebräuchlich sind; z.B. „abgefeimt“, „äffen“, „bosseln“, „erklecklich“, etc. etc. Mit dem Raum ist zu sparen, da großer Umfang das Nachschlagen erschwert und das Buch verteuert. Andererseits ist, im Rahmen der dem Schüler geläufigen Wörter, möglichste Vollständigkeit schon deshalb erforderlich, weil häufiges vergebliches Nachschlagen den Schüler unsicher macht und dazu führt, daß er das Wörterbuch nicht mehr um Rat fragt.

2.) Kein Wort ist zu einfach um aufgenommen zu werden – denn ich habe erlebt, daß „wo“ mit Dehnungs-h und „was“ mit ss geschrieben wurde.

3.) Zusammensetzungen sind aufzunehmen, wo sie entweder vom Kinde schwer als solche erkannt werden oder wo das Nachschlagen der Stammwörter leicht zu Fehlern führt.

4.) Fremdwörter sind aufzunehmen, wenn sie allgemein gebräuchlich sind. Ihre Verdeutschung ist zu geben, wo sie nicht zu umständlich, oder unverständlicher ist, als das Fremdwort.

5.) Ausdrücke der Mundart sind nur soweit aufzunehmen, als sie in die gebildete Sprache Eingang gefunden haben, wie zum Bsp. „Heferl“, „Packel“,„Lacke“, u.a.

In einzelnen Fällen ist es freilich schwer zu entscheiden, ob ein Wort aufzunehmen ist, oder nicht. Weit schwieriger aber sind die Fragen, die die Anordnung der Wörter aufwirft. Für die Anordnung nämlich sind außer dem Grundsatz der alphabetischen Ordnung verschieden einander kreuzende Prinzipien maßgebend und welches im gegebenen Fall das bestimmende Prinzip sein soll, hängt nicht selten von der subjektiven Auffassung des Verfassers ab. Ein solches Prinzip ist es z.B., die abgeleiteten Wörter dem Stammwort anzugliedern (d.h.: nur das Stammwort ist Stichwort, die anderen Wörter reihen sich ihm in der gleichen Zeile, oder in den folgenden Zeilen an; im letzteren Falle sind die folgenden Zeilen hineingerückt). Mit diesem Grundsatz kreuzt sich der Grundsatz der alphabetischen Ordnung. Wie sind z.B. die Wörter „alt“, „Altar“, „Alter“, „Altertum“, „altertümlich“ anzuordnen? Hier haben wir die alphabetische Ordnung; sie hat den Nachteil, daß „alt“ und „Alter“, die doch zusammengehören, durch ein Wort von hete­rogener Bedeutung getrennt sind. Die Zusammenziehung verwandter Wörter ist aber schon aus Gründen der Raumersparnis erwünscht. Nun würde dieser Grundsatz aber erfordern, daß auch „Altertum“ und „altertümlich“ dem Wort „alt“ angegliedert werden, also vor das Wort „Altar“ rücken; diese Anordnung aber erschiene doch wieder unnatürlich und würde das Finden der komplizierten Ableitungen sehr erschweren. Ich habe die Worte in diesem Falle so angeordnet:

alt, das Alter

der Altar

Das Altertum, altertümlich

etc.

Ich habe dieses Beispiel hier angeführt, weil es zeigt, wie die Anordnung der Wörter von verschiedenen Gesichtspunkten beherrscht wird, deren Berechtigungen oft schwer gegen einander abzuwägen sind. Mancher würde vielleicht den Grundsatz der alphabetischen Ordnung als alleinherrschenden empfehlen (so ist er z.B. im Weideschen Wörterbuch durchgeführt). Aber die rein alphabetische Ordnung, wo sie heterogene Wörter zwischen eng verwandte einschiebt, stellt meiner Meinung nach an das Abstraktionsvermögen des Kindes zu hohe Anforderungen und ist aus Gründen des Wortverständnisses und der – überaus wichtigen – Raumersparnis oft nicht zu empfehlen. Und ebenso führt jedes Festhalten an einem starren Prinzip zu unserem Zwecke nicht entsprechenden Anordnungen und muß aufgegeben werden – sosehr dadurch auch die Arbeit des Verfassers erleichtert würde. Vielmehr ist es nötig, immer wieder Kompromisse zu schließen. In einem Fall führt das Angliedern der Ableitung an das Stammwort leicht zu Verwechslungen, im anderen ist diese Gefahr nicht vorhanden; in manchen Fällen ist das Stammwort ganz ungebräuchlich, die Ableitung dagegen gebräuchlich und es empfiehlt sich, diese jenem voran­zustellen; hier ist eine Komposition neben das Stichwort zu setzen, weil es dessen Bedeutung klar macht und vor Mißverständnissen bewahrt, dort ist dies überflüssig; etc. etc. Es würde mich zu weit führen, meine Anordnung in einer größeren Anzahl von Fällen zu rechtfertigen. Ich habe sie mir in jedem einzelnen Falle genau und lange überlegt. Immer wieder kreuzen sich psychologische Grundsätze (wo wird der Schüler das Wort suchen, wie wird er am besten vor Verwechslungen bewahrt, etc.) mit grammatikalischen (Stammwort, Ableitung), mit typogra­sssphischen (Raumausnützung, Übersichtlichkeit des Satzbildes, etc.). So kommt es, daß dem oberflächlichen Beurteiler auf Schritt und Tritt scheinbar willkürliche Inkonsequenzen entgegentreten, die aber durch Kompromisse zwischen den maßgebenden Gesichtspunkten bedingt sind.

Den Fettdruck habe ich, außer zur Hervorhebung der Stichwörter überall dort gebraucht, wo ich Wörter oder einzelne Buchstaben besonders auffällig machen wollte. Die Gründe dürften in jedem besonderen Falle nicht schwer verständlich sein. Auch hier aber war es nicht angezeigt, nach einem Prinzip allein zu entscheiden, ob ein Wort oder Buchstabe fett zu drucken sei, oder nicht (etwa alle Stammwörter fett zu drucken, die Ableitungen aber nicht).

Das ß habe ich, wo es für die alphabetische Ordnung der Wörter maßgebend war, als einfachen s-Laut behandelt. Die gewöhnliche Anordnung, die es dem ss anschließt, schien mir in einer großen Anzahl von Fällen unnatürlich und geeignet den Kindern das Finden eines Wortes zu erschweren; so z.B. wenn sich zwischen „aus“ und „außen“ die Wörter „ausgiebig“, „Auskunft“, „Ausnahme“, etc. einschieben. Der Schüler liest „aus“, findet bei „ause“ nichts und denkt sich, „ah dann weiß ich ohnehin schon, wie „ausen“ geschrieben wird.“ Freilich entsteht auch durch meine Anordnung manches Unnatürliche, weil das -sß- in der gegenwärtigen Rechtschreibung als ein sz und als -ß- gebraucht wird und also in jedem dieser beiden Fälle an eine andere Stelle des Alphabets gehörte.

Noch ein Wort über die Vorausstellung des Artikels vor das Stichwort: Ich glaube, daß diese das Verständnis erleichtert und manchen Irrtümern vorbeugt. Ich habe allen Hauptwörtern (mit Ausnahme einiger Zusammensetzungen) den Artikel beigefügt, da er das Hauptwort als solches hervorhebt. Der nachgestellte Artikel aber wird vom Kinde leicht übersehen, oder fälschlich auf das ihm folgende Wort bezogen. Die Übersichtlichkeit der Kolumne dürfte durch die neue Anordnung nicht gelitten haben.

 

Otterthal 22. 4. 1925.

Der Verfasser.