BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kurt Tucholsky

1890 - 1935

 

Der Zeitsparer

Grotesken von Ignaz Wrobel

 

Seite 19 - 23 der Erstausgabe

 

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Der Papagei

 

Da hatten wir einen Kerl im Sanatorium, das war eine putzige Kruke! – Er war ja soweit ganz vernünftig und er hatte sich auch freiwillig zu uns begeben, weil er selbst eingesehen hatte, daß es da draußen nicht so weiter ging. Ja, er hatte Geld. Er kam zu uns wegen Jonathans. Wegen seines Papageis Jonathan.

Dieser Papagei war grün an Farbe und sah ein bißchen jüdisch aus, wie alle diese Tiere. Und wenn er so schief über seinen krummen Schnabel guckte, mußten wir alle lachen, was uns Peter Stör – ja, so hieß er, Peter Stör – sehr übel nahm.

Also um dieses Papageis willen hatte Peter Stör schon die unmöglichsten Scherereien gehabt. Bis zum Totschlag war es noch nicht gekommen, aber einmal beinahe so weit: Herr Stör hatte der Dienstmagd das Konversationslexikon – wenn er uns das vortrug, so vergaß er nie, den Band anzugeben: es war die Nummer 9: Lesbisch bis Offenbarungseid, – an den Kopf geworfen; das kostete ihn eine schwere Menge Geld, und dann kam er zu uns.

Nun, er bewohnte seine zwei Zimmer – wie gesagt, er konnte es – und lebte nur für Jonathan. Gott, wissen Sie, wir haben ja schon viele unter den Händen gehabt, die sich über den Zweck ihres Erdendaseins nicht so recht klar waren, – aber so einer war uns doch noch nicht vorgekommen. Der Mensch saß stundenlang da und unterhielt sich mit dem ungebildeten Tier. Jonathan konnte so allerhand reden – ich weiß nicht, wer ihm das beigebracht hatte –, aber sein Herr war sehr stolz darauf. Dabei paßte es nie so recht, und es konnte geschehen, daß, wenn man ihn fragte: «Nun, Jonathan, wie macht denn das Miesekätzchen?» dieser leichtsinnige Vogel mir nichts dir nichts antwortete: «Wau wau!» Mit dem Satz vom Grunde stand er nicht so recht. . .

Bis um 9 Uhr morgens war sich Jonathan im Käfig selbst überlassen. Dann pfiff er. Das ist ja schon immer ein bißchen merkwürdig, wenn sich so ein Tier die Zeit vertreibt und pfeift, so recht stumpfsinnig und kreuzvergnügt. Und da gab es eine Passage, die konnte kein Mensch anhören, ohne sich zu schütteln. Pu-hu-hu! ich bin nicht musikalisch und kann es nicht getreu wiedergeben. Aber es war schön, das kann man wohl sagen.

Um 9 Uhr kam Herr Stör und begann, den Kaffee einzunehmen, wobei er den Judenvogel angelegentlich begrüßte. Der ihn auch. Wenigstens schien es, daß er sein Blinzeln und die gestuckerten Worte: «Was wissen Sie von der Liebe, – mein Herr!» so aufgefaßt wissen wollte. Aber so war es immer. Das Tier schwätzte so allerhand, Sie wissen ja, was so ein Vogel eben aufschnappt . . . ach, gehen Sie mir mit der Psychologie! . . . und Peter Stör fragte und antwortete. Nun gebe ich ja zu, Jonathan hatte ein riesiges Repertoire. Er mußte weit herumgekommen sein, denn er redete in allen Dialekten und vielen Sprachen.

«Jonathan», sagte Herr Stör, «das deutsche Volk sollte sich gegen seine Erbfeinde besser rüsten!» – «Smitt di man kin Ool upp!» antwortete Jonathan. Ich habe keine Ahnung, was das heißt, und Herr Stör wußte es wahrscheinlich auch nicht; aber es beruhigte doch, so etwas angenehm Indifferentes in seiner Nähe zu haben, dessen Aussprüche man auslegen konnte, wie es einem beliebte. . . Oder Peter Stör las ihm aus dem Journal etwas vor, sagen wir den lokalen Teil. «Mesdames! Messieurs!» warf Jonathan ein, «fichez-moi. . .» Aber wenn er das sagte, brüllte ihn Herr Stör an: «Das sollst du doch nie, hörst du, nie sagen!» – Und dann guckte ihn das Biest so recht verschmitzt an und äußerte selbstgefällig: «Da bin ick een annern Kirl, wat Luising?» – War denn dieser Vogel einmal mit Portugiesen zusammengewesen? Jedenfalls; denn wenn es recht laut im Zimmer wurde, begann er zu kreischen, und man konnte aus einem Wust unverständlicher Brocken das Wort ‹Pedro› heraushören. – Wenn Herr Stör aber sehr guter Laune war, und man ihn lange genug darum gebeten hatte, dann nahm er einen Federhalter oder einen Spazierstock und strich damit am Rohrgeflecht der Stühle entlang. Die Wirkung war frappant: der Vogel, der eben noch dagesessen und aus seiner Klaue zäh und eifrig an einem Stück Holz geknabbert hatte, erhob sich unruhig, warf das Holz von sich, schob die Schulterknochen hoch und fing an, einen besoffenen Tanz zu exekutieren. Er wiegte sich, er wackelte mit dem Kopf, er mauschelte mit dem Körper, duckte sich und kroch aufgeregt im Käfig hin und her . . . Hörte das Kratzen am Rohr auf, so dankte der Vogel bewegt, indem er vielleicht sagte: «Das gute Ribeck-Bier» und an seinem Holz weiter kaute . . .

So ging das monatelang. Kam man an den Störschen Gemächern vorbei, so konnte man schon auf dem Gang hören: «Jonathan, Jonathan! Weißt du um die Ungeheuern Wunder der Gleichzeitigkeit? Nichts weißt du!. . . Oder . . .?»– Und darauf Jonathan: «In rauhes Erz will ich die Glieder schnüren!» – «Siehst du», sagte Herr Stör, «siehst du!» – Und dann: «Papagei Jonathan! Auf Ehre und Gewissen! Erinnerst du dich noch an die blonde Liane. . .?» – Und der Vogel, im versoffensten Diskant: «Karoline Lembke! Böhr mal upp din Hemke!» – Worauf Peter Stör indigniert abbrach.

Wer mochte diesem Tier seine seltsamen Ideenassoziationen suggeriert haben? Ließ man die Wasserleitung laufen, so sang er Koloratur, und räusperte man sich, so gebärdete er sich, als habe er eine volle Nase und kein Taschentuch . . .

Wie lange war der Mensch denn bei uns? Zwei Jahre, glaube ich, ja, zwei Jahre. Dann wurde die Sache tragisch. Der Vogel Jonathan machte nicht mehr mit. Er hatte in letzter Zeit immer so melancholische Lieder gesungen: «Den einz'gen Platz, den ich auf Erden hab, das ist die Rasenbank am Elterngrab . . .» sang er, und in Moll: «Wenn andere Mädchen tanzen gehn, – muß ich bei der Wiege stehn!» – und so. Das fiel uns schon auf. Und dann begann Jonathan, das Fressen aufzugeben. Vier Tage nahm das Tier nichts zu sich, und am fünften starb er. Das heißt, er starb nachts, denn als Herr Stör am Morgen herauskam und dem Vogel einen guten Morgen bot, antwortete der nicht, sondern war tot. Wir hatten eine Höllenangst, und ich stellte einen Wärter im Gang auf, wenn etwas passieren sollte. Aber wider Erwarten blieb Herr Stör ganz ruhig. Er schnupfte nur einmal tief auf und sagte: «Und es war doch so ein herzliches Verhältnis!» – Wir verscharrten das Tier im Park – Sie waren ja mal bei uns, und kennen doch unsern schönen Park! – und Peter Stör tat so, als sei Jonathan nie dagewesen. Nur der große Käfig erinnerte noch daran, den wollte er nicht aus dem Zimmer haben. Ja.

Es verging eine Woche. Kurz und gut: es war nicht sehr schön, was dann kam. Ich sitze so morgens vor den Besuchen am Kaffeetisch und sehe die Post durch, da höre ich ein gräßliches Kreischen von Stimmen, und das Personal – ich glaube, es hat keiner gefehlt – stürmt zu mir auf die Veranda. Ich frage. Keiner antwortet, aber alle hatten solche Augen, so schreckhaft weit aufgerissen, daß mir die schlimmsten Ahnungen kamen. «Die Fürstin Trotzky?» fragte ich. Denn die war damals unsere größte Sorge, der Gatte hatte sie uns überantwortet; es war eine Hysterika, und wenn mit der etwas passierte, dann war unser Ruf dahin. Sie schüttelten die Köpfe. «Was ist es denn?» Sie zogen mich fort, durch den Garten, zum Haus IV, da liegen die Leichteren. Auf den Gang drängten sie mich und dann ließen sie mich allein. Keiner ging mit. Ich machte alle Türen auf, wieder zu . . . die Zimmer waren leer. Die Kranken mußten sämtlich geflüchtet sein. Nr. 24 . . . Stör. . .?

Sie wissen doch: Die alten Griechen verlegten den Sitz der Gefühle ins Zwerchfell – nicht zu unrecht, sage ich Ihnen, – das habe ich damals gefühlt. Mir ging die Luft aus, weil etwas meinen Magen nach oben drückte . . . Dieser Stör hatte des Nachts seinen Kopf in den großen Käfig gezwängt und sich dann den Hals abgeschnitten. Der Körper war heruntergeglitten, und im Käfig lag der Kopf, die Zähne hatten sich in die Stange geklemmt, auf der Jonathan gesessen hatte, und die Augen schienen noch zu blinzeln, als wollten sie den Ersatz wenigstens in dieser Beziehung glaubhaft machen . . .