BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Georg Simmel

1858 – 1918

 

Grundfragen der Soziologie

(Individuum und Gesellschaft)

 

1917

 

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I.

Das Gebiet der Soziologie

 

Die Aufgabe, über die Wissenschaft Soziologie Auskunft zu geben, findet ihre erste Schwierigkeit darin, daß ihr Anspruch auf den Titel einer Wissenschaft keineswegs unbestritten ist; und daß, wo ihr dieser selbst zugestanden wird, über ihren Inhalt und ihre Ziele sich ein Chaos von Meinungen ausbreitet, deren Widersprüche und Unklarheiten den Zweifel, ob man es hier überhaupt mit einer wissenschaftlich berechtigten Fragestellung zu tun hat, immer von neuem nähren. Nun wäre der Mangel an einer unbestrittenen, grenzgesicherten Definition zu verschmerzen, wenn wenigstens eine Summe einzelner Probleme vorläge, die, in andern Wissenschaften nicht oder nicht erschöpfend behandelt, die Tatsache oder den Begriff der „Gesellschaft“ als ein Element enthielten und darin ihren gemeinsamen Berührungspunkt besäßen. Wären sie dann auch in ihren sonstigen Inhalten, Richtungen, Lösungsarten so verschieden, daß man sie nicht gut als einheitliche Wissenschaft behandeln könnte, so würde doch der Begriff Soziologie ihnen eine vorläufige Unterkunft gewähren, es stünde wenigstens äußerlich fest, wo man sie zu suchen hätte – wie etwa der Begriff Technik durchaus legitim für einen ungeheuren Bezirk von Aufgaben gilt, ohne daß es Verständnis und Lösung der einzelnen gerade viel förderte, daß ein gemeinsamer Charakterzug ihr an diesem Eigennamen teilgibt. Allein selbst diese schmale Verknüpfung mannigfaltigster Probleme, die immerhin eine in tieferer Schicht aufzufindende Einheit verspräche, scheint an der Problematik des einzig zusammenhaltenden Begriffes zu zersplittern, des Begriffes Gesellschaft – an der Problematik, mit der jene prinzipielle Leugnung einer Soziologie überhaupt sich beweisen möchte. Und es ist merkwürdigerweise einerseits eine Abschwächung, andrerseits eine Übersteigerung dieses Begriffes, an die solche Beweise geknüpft wurden. Alle Existenz, so hören wir, komme ausschließlich den Individuen, ihren Beschaffenheiten und Erlebnissen zu, und „Gesellschaft“ sei eine Abstraktion, unentbehrlich für praktische Zwecke, höchst nützlich auch für eine vorläufige Zusammenfassung der Erscheinungen, aber kein wirklicher Gegenstand jenseits der Einzelwesen und der Vorgänge an ihnen. Wenn ein jedes von diesen in seiner naturgesetzlichen und historischen Bestimmtheit erforscht sei, so bliebe für eine davon gesonderte Wissenschaft überhaupt kein reales Objekt mehr übrig. Ist für diese Kritik die Gesellschaft sozusagen zu wenig, so ist sie für eine andere gerade zu viel, um einen Wissenschaftsbezirk abzugrenzen. Alles, was Menschen sind und tun, so heißt es nun andrerseits, geht innerhalb der Gesellschaft, durch sie bestimmt und als ein Teil ihres Lebens vor sich. Es gebe also überhaupt keine Wissenschaft von menschlichen Dingen, die nicht Wissenschaft von der Gesellschaft sei. An Stelle der künstlich gegeneinander isolierten Einzelwissenschaften historischer, psychologischer, normativer Art habe also die Gesellschaftswissenschaft zu treten und in ihrer Einheit zum Ausdruck zu bringen, daß alle menschlichen Interessen, Inhalte und Vorgänge durch die Vergesellschaftung zu konkreten Einheiten zusammengingen. Ersichtlich aber nimmt diese Bestimmung, die der Soziologie alles geben will, ihr ebensoviel fort wie die andere, die ihr nichts geben will. Denn da Rechtswissenschaft und Philologie, die Wissenschaft von der Politik und die von der Literatur, die Psychologie und die Theologie und alle andern, die den Bezirk des Menschlichen unter sich aufgeteilt haben, ihre Existenz fortsetzen werden, so ist nicht das geringste dadurch gewonnen, daß man die Gesamtheit der Wissenschaften in einen Topf wirft und diesem das neue Etikett: Soziologie – aufklebt. Die Gesellschaftswissenschaft befindet sich also, unterschieden von andern, wohlgegründeten Wissenschaften, in der ungünstigen Lage, zunächst ihr Recht auf Existenz überhaupt beweisen zu müssen – freilich auch in der günstigen, daß dieser Beweis über die sowieso nötige Aufklärung ihrer Grundbegriffe und ihrer besonderen Fragestellung gegenüber der gegebenen Wirklichkeit führt.

Es ist zunächst ein Irrtum über das Wesen der Wissenschaft, aus der angeblich allein realen Existenz der „lndividuen“ zu folgern, daß jedes, auf deren Zusammenfassungen gehende Erkennen sich spekulative Abstraktionen und Irrealitäten zum Objekt mache. Unser Denken faßt vielmehr allenthalben die Gegebenheiten zu Gebilden, als Gegenständen der Wissenschaft, in einer Weise zusammen, die in dem unmittelbar Wirklichen gar kein Gegenbild findet. Niemand scheut sich, von der Entwicklung z. B. des gotischen Stiles zu sprechen, obgleich es nirgends gotischen Stil als aufzeigbare Existenz gibt, sondern nur einzelne Werke, in denen die Stilelemente doch nicht greifbar gesondert neben den individuellen Elementen liegen. Der gotische Stil als einheitlicher Gegenstand historischer Erkenntnis ist ein aus den Realitäten erst herausgewonnenes geistiges Gebilde, aber selbst keine unmittelbare Realität. Wir wollen unzählige Male gar nicht wissen, wie individuelle Dinge sich im einzelnen verhalten, sondern wir formen aus ihnen eine neue, kollektive Einheit, wie wir, nach dem gotischen Stil, seinen Gesetzen, seiner Entwicklung fragend, nicht einen einzelnen Dom oder Palast beschreiben, trotzdem wir den Stoff jener jetzt erfragten Einheit aus diesen Einzelheiten gewinnen. So fragen wir weiterhin etwa, wie sich die „Griechen“ und die „Perser“ in der Schlacht bei Marathon benommen haben. Hätte die Auffassung recht, die nur Individuen als Wirklichkeiten anerkennt, so wäre die geschichtliche Erkenntnis dann und erst dann an ihrem Ziele, wenn wir das Verhalten jedes einzelnen Griechen und jedes einzelnen Persers kennten, somit seine ganze Lebensgeschichte, aus der sein Verhalten in der Schlacht psychologisch begreiflich wird. Allein selbst die Erfüllung dieses phantastischen Anspruchs würde unserer Fragestellung nicht genügen. Denn deren Gegenstand ist überhaupt nicht dieser und jener Einzelne, sondern: die Griechen und die Perser – offenbar ein ganz anderes Gebilde, durch eine gewisse geistige Synthese zustande kommend, nicht aber durch die Beobachtung der als einzelne betrachteten Individuen. Sicher ist jedes von diesen durch eine von der jedes andern irgendwie abweichende Entwicklung zu seinem Verhalten geführt worden, wahrscheinlich hat sich keines wirklich genau so wie das andere benommen; und in keinem liegt das mit dem andern Gleiche und das von ihm Abweichende in Sonderung nebeneinander, sondern beides bildet die unzertrennliche des persönlichen Lebens. Dennoch formen wir aus allen zusammen jene höheren Einheiten: die Griechen und die Perser, und die kürzeste Besinnung zeigt, daß wir fortwährend mit solchen Begriffen die individuellen Existenzen übergreifen. Wollten wir, weil diese allein „Wirklichkeiten“ wären, all jene geistigen Neubildungen aus unserem Erkenntnisbezirk ausschalten, so würde er seiner unbezweifeltsten und legitimiertesten Inhalte verlustig gehen. Die eigensinnige Behauptung: es gäbe doch nun einmal nur menschliche Individuen, und sie allein seien deshalb die konkreten Gegenstände einer Wissenschaft, kann uns nicht hindern von der Geschichte des Katholizismus oder der Sozialdemokratie, von Städten und Reichen, von der Frauenbewegung und der Lage des Handwerks und tausend andern Gesamtereignissen und Kollektivgebilden zu sprechen – und nicht anders von der Gesellschaft überhaupt. So ausgedrückt ist sie freilich ein abstrakter Begriff, aber jede der unzähligen Ausgestaltungen und Gruppierungen, die er umfaßt, ist ein erforschbares, erforschenswertes Objekt, das keineswegs aus den einzeln aufgewiesenen individuellen Existenzen besteht.

Doch könnte dies noch immer eine Unvollkommenheit unseres Erkennens, eine nur vorläufige Unvermeidlichkeit sein, die ihren prinzipiellen Abschluß, erreichbar oder nicht, in dem Wissen um die Individuen, als die endgültig konkreten Wesenheiten, suchen müßte. Allein, genau angesehen, sind auch die Individuen keineswegs letzte Elemente, „Atome“ der menschlichen Welt. Die allerdings vielleicht unauflösbare Einheit, die der Begriff Individuum bedeutet, ist überhaupt kein Gegenstand des Erkennens, sondern nur des Erlebens; die Art, wie ein jeder sie an sich und am Andern weiß, ist keiner sonstigen Art des Wissens vergleichlich. Was wir wissenschaftlich am Menschen erkennen, sind einzelne Züge, vielleicht nur je einmal vorhanden, vielleicht auch in gegenseitiger Beeinflussung stehend, ein jeder aber relativ isolierte Betrachtung und Herleitung fordernd. Diese Herleitung führt für einen jeden auf unzählige Einflüsse der physischen, kulturellen, personalen Umwelt, von überall her angesponnen, in unabsehliche Zeitweiten reichend. Nur indem wir diese Elemente so herauslösen und begreifen und sie auf immer einfachere, tiefer und weiter zurückliegende reduzieren, nähern wir uns dem wirklich „Letzten“, d. h. im strengen Sinne Realen, das aller höheren geistigen Zusammenfassung erst zugrunde liegen soll. Denn für diese Betrachtungsweise „existieren“ die Farbenmoleküle, die Buchstaben, die Wasserteilchen, aber das Gemälde, das Buch, der Fluß sind nur Synthesen, als Einheiten bestehen sie nicht in objektiver Realität, sondern nur in einem Bewußtsein, das sie sich treffen läßt. Ersichtlich aber sind auch jene angeblichen Elemente hochzusammengesetzte Gebilde. Und wenn nun wahrhafte Realität nur den wahrhaft letzten Einheiten zukommt, nicht aber den Erscheinungen, in denen diese Einheiten eine Form finden, alle Form vielmehr, die immer eine Verbindung ist, nur von einem verbindenden Subjekt hinzugefügt wird, – so liegt auf der Hand daß die anzuerkennende Realität uns in völlige Unfaßbarkeit entgleitet; und dann ist es ein ganz willkürlicher Grenzstrich, der diese Zurückgliederung am „Individuum“ beendet, da doch auch dieses der immer weiterstrebenden Analyse als eine Zusammensetzung aus einzelnen Qualitäten und Schicksalen, Kräften und historischen Hergeleitetheiten erscheinen muß, die im Verhältnis zu ihm ebenso die elementaren Wirklichkeiten sind, wie die Individuen selber im Verhältnis zur „Gesellschaft“.

Der angebliche Realismus also, der jene Kritik am Begriff der Gesellschaft und demnach auch an dem der Soziologie übt, läßt gerade alle erkennbare Realität verschwinden, weil er sie ins Unendliche hinausrückt, im Ungreifbaren sucht. Tatsächlich muß das Erkennen nach einem ganz andern Strukturprinzip begriffen werden, nach einem, das dem gleichen äußeren Erscheinungskomplex eine ganze Anzahl verschiedenartiger, aber gleichmäßig als definitiv und einheitlich anzuerkennender Objekte des Erkennens entnimmt. Man wird dies am besten mit dem Symbol der verschiedenen Distanz von jenem Komplex bezeichnen, in die sich der Geist stellt. Wenn wir einen räumlichen Gegenstand in zwei Meter, in fünf, in zehn Meter Abstand vor uns sehen, so gibt das jedesmal ein anderes Bild, jedesmal ein solches, das in seiner bestimmten Art und nur in dieser „richtig“ sein kann, und gerade innerhalb dieser auch Falschheiten Raum gewährt. Würde z. B. ein ganz detailliert gesehener Ausschnitt eines Gemäldes, wie ihn die größte Augennähe gibt, in diejenige Anschauung eingefügt, die einer Entferntheit von ein paar Metern entspricht, so würde diese letztere dadurch völlig verwirrt und gefälscht werden – obgleich man aus oberflächlichen Begriffen heraus eben diese Detailanschauung für „wahrer“ als das Fernbild halten könnte. Allein auch die ganz nahe Wahrnehmung hat noch irgendeine Distanz und deren untere Grenze ist gar nicht festzulegen. Das von einem Abstand aus, welcher er auch sei, gewonnene Bild hat sein Recht für sich, es kann durch kein von einem andern her entstehendes ersetzt oder korrigiert werden. So nun sehen wir, an einen gewissen Umfang menschlicher Existenz „nahe“ herantretend, jedes Individuum in seinem genauen Sich-Abheben vom anderen; nehmen wir den Blickpunkt aber weiter, so verschwindet das einzelne als solches, und es entsteht uns das Bild einer „Gesellschaft“ mit eigenen Formen und Farben, mit der Möglichkeit, es zu erkennen und zu verkennen, in keinem Fall aber geringer berechtigt als jenes, in dem die Teile sich gegeneinander absetzen, oder ein bloßes Präliminarstadium dieses. Der bestehende Unterschied ist nur der zwischen verschiedenen Erkenntnisabsichten, denen verschiedene Distanznahmen entsprechen.

Ja, man könnte das Recht der gesellschaftswissenschaftlichen Betrachtung in seiner Unabhängigkeit davon, daß alles reale Geschehen sich nur an Einzelwesen vollzieht, noch radikaler begründen. Es ist nicht einmal wahr, daß mit der Erkenntnis der individuellen Ereignisreihen die unmittelbare Wirklichkeit ergriffen wäre. Diese Wirklichkeit nämlich ist zunächst als ein Komplex von Bildern gegeben, als eine Oberfläche von kontinuierlich aneinandergesetzten Erscheinungen. Wenn wir dieses allein wirklich primäre Dasein in Schicksale von Individuen gliedern, die einfache Tatsächlichkeit der Erscheinungen auf einzelne Träger zurückbeziehen und gleichsam in ihnen als in Knotenpunkten sammeln, so ist auch dies eine nachträgliche geistige Formung des unmittelbar vorliegenden Wirklichen, die wir nur aus fortwährender Gewohnheit wie ganz selbstverständlich und mit der Natur der Dinge selbst gegeben vollziehen. Sie ist, wenn man will, genauso subjektiv, aber auch, da sie ein gültiges Erkenntnisbild ergibt, genauso objektiv, wie die Zusammenfassung des Gegebenen unter der Kategorie der Gesellschaft. Nur die besonderen Zwecke des Erkennens entscheiden, ob die unmittelbar erscheinende oder erlebte Realität auf ein personales oder auf ein kollektives Subjekt hin befragt werden soll – beides sind gleichmäßig „Standpunkte“, die sich nicht wie Wirklichkeit und Abstraktion zueinander verhalten, sondern die, als Arten unserer Betrachtung, beide von der „Wirklichkeit“ abstehen – von der Wirklichkeit, die als solche überhaupt nicht Wissenschaft sein kann, sondern erst vermittels solcher Kategorien die Form der Erkenntnis annimmt.

Noch aber ist von einem ganz andern Standpunkte her zuzugeben, daß die menschliche Existenz nur an Individuen wirklich ist, ohne daß die Gültigkeit des Gesellschaftsbegriffes darunter litte. Faßt diesen in seiner weitesten Allgemeinheit, so bedeutet er die seelische Wechselwirkung zwischen Individuen. An dieser Bestimmung darf nicht irre machen, daß gewisse Grenzerscheinungen sich ihr nicht ohne weiteres fügen: wenn zwei Personen sich flüchtig anblicken oder sich an einer Billettkasse gegenseitig drängen, so wird man sie darum noch nicht vergesellschaftet nennen. Allein hier ist die Wechselwirkung auch eine so oberflächliche und vorüberfliegende, daß man in ihrem Maße auch von Vergesellschaftung reden könnte, bedenkend, daß solche Wechselwirkungen nur häufiger und intensiver zu werden, sich mit mehreren, generell gleichen zu vereinen brauchen, um diese Bezeichnung zu berechtigen. Es ist ein oberflächliches Haften an dem – für die äußere Praxis freilich ausreichenden – Sprachgebrauch, wenn man die Benennung als Gesellschaft nur der dauernden Wechselbeziehung vorbehalten will, nur derjenigen, die sich zu einem bezeichenbaren Einheitsgebilde objektiviert hat: zu Staat und Familie, Zünften und Kirchen, Klassen und Zweckverbänden usw. Außer diesen aber besteht eine unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die, indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustande bringen. Die Beschränkung auf jene gleicht der früheren Wissenschaft vom inneren menschlichen Körper, die sich auf die großen, festumschriebenen Organe: Herz, Leber, Lunge, Magen usw. beschränkte und die unzähligen, populär nicht benannten oder nicht bekannten Gewebe vernachlässigte, ohne die jene deutlicheren Organe niemals einen lebendigen Leib ergeben würden. Aus den Gebilden der genannten Art, die die herkömmlichen Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft bilden, ließe sich das in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft durchaus nicht zusammensetzen; ohne die Dazwischenwirkung unzähliger, im einzelnen weniger umfänglicher Synthesen würde es in eine Vielzahl unverbundener Systeme auseinanderbrechen. Fortwährend knöpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander eifersüchtig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen, daß sie sich ganz jenseits aller greifbaren Interessen sympathisch oder antipathisch berühren, daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung bietet, daß einer den andern nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehen und schmücken – all die tausend von Person zu Person spielenden momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen, aus denen diese Beispiele ganz zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich zusammen. Hier liegen die Wechselwirkungen zwischen den Elementen, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen. Alle jene großen Systeme und überindividuellen Organisationen, an die man bei dem Begriff von Gesellschaften zu denken pflegt, sind nichts anderes als die Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden – von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden Wechselwirkungen. Sie gewinnen damit freilich Eigenbestand und Eigengesetzlichkeit, mit denen sie sich diesen gegenseitig sich bestimmenden Lebendigkeiten auch gegenüber- und entgegenstellen können. Aber Gesellschaft in ihrem fortwährend sich realisierenden Leben bedeutet immer, daß die Einzelnen vermöge gegenseitig ausgeübter Beeinflussung und Bestimmung verknüpft sind. Sie ist also eigentlich etwas Funktionelles, etwas, was die Individuen tun und leiden, und ihrem Grundcharakter nach sollte man nicht von Gesellschaft, sondern von Vergesellschaftung sprechen. Gesellschaft ist dann nur der Name für einen Umkreis von Individuen, die durch derartig sich auswirkende Wechselbeziehungen aneinander gebunden sind und die man deshalb als eine Einheit bezeichnet, gerade wie man ein System körperlicher Massen, die sich in ihrem Verhalten durch ihre gegenseitigen Einwirkungen vollständig bestimmen, als Einheit ansieht. Nun kann man sich dem letzteren gegenüber darauf versteifen, nur die einzelnen materiellen Stücke seien die echte „Realität“, ihre wechselseitig erregten Bewegungen und Modifikationen seien als etwas nie Handgreifliches gewissermaßen nur Realitäten zweiten Grades; sie hätten ihren Ort eben nur in jenen Substanzstücken, die sogenannte Einheit sei nur die Zusammenschau dieser stofflichen Sonderexistenzen, deren empfangene und ausgeteilte Impulse und Formungen doch in einer jeden verblieben. In demselben Sinne kann man freilich dabei bleiben, die eigentlichen Realitäten seien doch immer nur die menschlichen Individuen. Gewonnen wird dadurch nichts. Gesellschaft ist dann allerdings sozusagen keine Substanz, nichts für sich Konkretes, sondern ein Geschehen, ist die Funktion des Empfangens und Bewirkens von Schicksal und Gestaltung des einen von seiten des andern. Nach dem Greifbaren tastend, fänden wir nur Individuen, und zwischen ihnen gleichsam nur leeren Raum. Die Folgen dieser Betrachtung werden uns später beschäftigen; aber wenn sie die „Existenz“ in einem engeren Sinne auch wirklich nur den Individuen übrig läßt, so muß sie doch auch das Geschehen, die Dynamik des Wirkens und Leidens, mit der diese Individuen sich gegenseitig modifizieren, als etwas „Wirkliches“ und Erforschbares stehen lassen.

   Jede Wissenschaft zieht aus der Totalität oder der erlebten Unmittelbarkeit der Erscheinungen eine Reihe oder eine Seite unter Führung je eines bestimmten Begriffes heraus, und nicht weniger als alle andern handelt die Soziologie legitim, wenn sie die individuellen Existenzen zerlegt und nach einem nur ihr eigenen Begriff wieder neu zusammenfaßt, und also fragt: Was geschieht mit den Menschen, nach welchen Regeln bewegen sie sich, nicht insofern sie die Ganzheit ihrer erfaßharen Einzelexistenzen entfalten, sondern sofern sie vermöge ihrer Wechselwirkung Gruppen bilden und durch diese Gruppenexistenz bestimmt werden? So darf sie die Geschichte der Ehe behandeln, ohne das Zusammenleben einzelner Paare zu analysieren, das Prinzip der Ämterorganisation, ohne einen Tag auf dem Büro zu schildern, die Gesetze und Resultate des Klassenkampfes ergründen, ohne auf den Verlauf eines Streiks oder die Verhandlungen über einen Lohntarif einzugehen. Gewiß sind die Gegenstände solcher Fragen durch Abstraktionsprozesse zustande gekommen; aber damit unterscheiden sie sich nicht von den Wissenschaften wie Logik oder theoretische Nationalökonomie, die gleichfalls unter der Anleitung durch bestimmte Begriffe – dort des Erkennens, hier der Wirtschaft – zusammenhängende Gebilde aus der Wirklichkeit zustande bringen, und Gesetze und Evolutionen an ihnen entdecken, während diese Gebilde als isolierte Erfahrbarkeiten gar nicht bestehen.

Steht so die Soziologie auf einer Abstraktion aus der vollen Wirklichkeit – hier unter Führung des Begriffes Gesellschaft vollzogen – und ist dennoch der Vorwurf der Irrealität hinfällig, der von der behaupteten alleinigen Realität der Individuen herkam, so schützt diese Einsicht sie auch vor der Überspannung, die ich zuvor als eine nicht geringere Gefährdung ihres Bestandes als einer Wissenschaft erwähnte. Da der Mensch in jedem Augenblick seines Seins und Tuns durch die Tatsache, daß er ein gesellschaftliches Wesen ist, bestimmt sei, so schienen alle Wissenschaften vom Menschen sich in die Wissenschaft vom gesellschaftlichen Leben zurückzuschmelzen: alle Gegenstände jener Wissenschaften seien nur einzelne, besonders geformte Kanäle, durch die das gesellschaftliche Leben, einziger Träger aller Kraft und alles Sinnes, rinne. Ich zeigte, daß damit nichts anderes erlangt sei, als ein neuer, gemeinschaftlicher Name für all die Erkenntnisse, die in ihren besonderen Inhalten und Benennungen, und Methoden ganz ungestört und selbstgesetzlich weiterbestehen werden. Ist dies also auch eine irrige Dehnung der Vorstellung von der Gesellschaft und der Soziologie, so liegt ihr doch eine an sich bedeutsame und folgenreiche Tatsache zugrunde. Die Einsicht: der Mensch sei in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit andern Menschen lebt- muß allerdings zu einer neuen Betrachtungsweise in allen sogenannten Geisteswissenschaften führen.

Die großen Inhalte des geschichtlichen Lebens: die Sprache wie die Religion, die Staatenbildung wie die materielle Kultur wußte man noch im 18. Jahrhundert wesentlich nur auf die „Erfindung“ einzelner Persönlichkeiten zurückzuführen, und wo Verstand und Interessen des Einzelmenschen dazu nicht auszureichen schienen, blieb nur der Appell an transzendente Mächte übrig – zu denen übrigens das „Genie“ jener einzelnen Erfinder eine Mittelstufe bildete: denn mit dem Geniebegriff drückte man eigentlich nur aus, daß die bekannten und begreiflichen Kräfte des Individuums zu der Produktion der Erscheinung nicht zulangten. So war die Sprache entweder die Erfindung Einzelner oder ein göttliches Geschenk, die Religion – als geschichtliches Ereignis – die Erfindung schlauer Priester oder göttlicher Wille, die sittlichen Gesetze entweder von Heroen der Masse eingeprägt oder von Gott verliehen, oder von der „Natur“ – einer nicht weniger mystischen Hypostasierung – den Menschen mitgegeben. Aus dieser ungenügenden Alternative hat der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Produktion erlöst. All jene Gebilde erzeugen sich in den Wechselbeziehungen der Menschen, oder manchmal auch sind sie derartige Wechselbeziehungen, die also aus dem für sich betrachteten Individuum freilich nicht herleitbar sind. Neben jene beiden Möglichkeiten ist eben nun die dritte gestellt: die Produktion von Erscheinungen durch das gesellschaftliche Leben, und zwar im zweifachen Sinne, durch das Nebeneinander wechselwirkender Individuen, das in jedem erzeugt, was doch aus ihm allein nicht erklärbar ist, und durch das Nacheinander der Generationen, deren Vererbungen und Überlieferungen mit dem Eigenerwerb des Einzelnen unlösbar verschmelzen und es bewirken, daß der gesellschaftliche Mensch, im Unterschied gegen alles untermenschliche Leben, nicht nur Nachkomme, sondern Erbe ist. Durch das Bewußtwerden der sozialen Produktionsart, die sich zwischen die rein individuelle und die transzendente einschiebt, ist eine genetische Methode in alle Geistcswissenschaften gekommen, ein neues Werkzeug zur Lösung ihrer Probleme – mögen diese den Staat oder die Kirchenorganisation, die Sprache oder die sittliche Verfassung betreffen. Die Soziologie ist nicht nur eine Wissenschaft mit eigenen, gegen alle andern Wissenschaften arbeitsteilig abgegrenzten Objekten, sondern sie ist eben auch eine Methode der historischen und der Geisteswissenschaften überhaupt geworden. Um sie auszunutzen, brauchen diese Wissenschaften ihren Standort durchaus nicht zu verlassen, sie brauchen nicht, wie jene phantastische Überspannung des Soziologiebegriffes forderte, zu Teilen der Soziologie zu werden. Diese vielmehr akklimatisiert sich jedem besonderen Forschungsgebiet, dem nationalökonomischen wie dem kulturgeschichtlichen, dem ethischen wie dem theologischen. Damit aber verhält sie sich nicht wesentlich anders als seinerzeit die Induktion, die als neues Forschungsprinzip in alle möglichen Problemgruppen eindrang und den darin feststehenden Aufgaben zu neuen Lösungen verhalf. So wenig aber daraufhin Induktion eine besondere Wissenschaft ist oder gar eine allbefassende, so wenig ist es, auf diese Momente hin, die Soziologie. Soweit sie sich darauf stützt, daß der Mensch als Gesellschaftswesen verstanden werden muß, und daß die Gesellschaft der Träger alles historischen Geschehens ist, enthält sie kein Objekt, das nicht schon in einer der bestehenden Wissenschaften behandelt würde, sondern nur einen neuen Weg für alle diese, eine Methode der Wissenschaft, die gerade wegen ihrer Anwendbarkeit auf die Gesamtheit der Probleme nicht eine Wissenschaft mit eignem Inhalt ist 1).

Und eben weil die Methode diese Allgemeinheit besitzt, bildet sie ein gemeinsames Fundament für einzelne Problemgruppen, die zuvor gewisser Aufklärungen entbehrten, die der einen nur von der andern kommen können; der Gemeinsamkeit des Vergesellschaftetseins, das die Kräfte der Individuen sich gegenseitig bestimmen läßt, entspricht die Gemeinsamkeit der soziologischen Erkenntnisweise, vermöge deren dem einen Problem eine Lösungs- oder Vertiefungsmöglichkeit mit einem inhaltlich ganz heterogenen Erkenntnisgebiet zukommt. Ich erwähne nur einige Beispiele, die von dem Allersingulärsten zu dem Allerallgemeinsten aufführen. Der Kriminalist kann etwa über das Wesen der sogenannten „Massenverbrechen“ mancherlei von einer soziologischen Untersuchung über die Psychologie des Theaterpublikums lernen. Denn hier ist der Gegenstand eines kollektiv-impulsiven Verhaltens noch jederzeit genau feststellbar, und dieses verläuft in der sozusagen abstrakten, genau umgrenzten Sphäre der Kunst; damit wird – sehr bedeutsam für jenes Schuldproblem – die Bestimmbarkeit des Einzelnen durch eine aktuell zusammenbefindliche Masse, das Ausschalten der individuellen und der objektiven Werturteile durch das „Mitgerissenwerden“ so rein experimentell und beweiskräftig beobachtbar, wie kaum je sonst. – Der Religionsforscher wird vielfach geneigt sein, das Leben der religiösen Gemeinde, die Opferwilligkeit innerhalb ihrer auf Grund der Hingebung an ein allen gemeinsames Ideal, die Formung des gegenwärtigen Lebens durch die Hoffnung auf einen vollkommenen, über das Leben der aktuellen Individuen hinausliegenden Zustand – er wird geneigt sein, dieses auf die Kraft des religiösen Glaubensinhaltes zu schieben. Wenn ihm nun nahegebracht wird, daß etwa eine sozialdemokratische Arbeiterschaft dieselben Züge des gemeinsamen und des gegenseitigen Verhaltens ausbildet – so kann diese Analogie ihn einerseits lehren, daß das religiöse Verhalten nicht ausschließlich an die religiösen Inhalte gebunden, sondern eine allgemein menschliche Form ist, die sich nicht nur an transzendenten Gegenständen, sondern an manchen andern Gefühlsveranlassungen ganz ebenso realisiert. Andrerseits aber wird er das für ihn Wesentlichere einsehen, daß auch das in sich geschlossene religiöse Leben Momente enthält, die nicht spezifisch religiös, sondern sozial sind, bestimmte Arten der gegenseitigen Gesinnung und Praxis, die freilich mit der religiösen Stimmung organisch verwachsen, aber erst, indem sie soziologisch herausanalysiert werden, erkennen lassen, was denn an dem religiösen Verhalten als die rein religiösen – und als solche gegen alles Soziale gleichgültigen – Elemente gelten dürfe. – Endlich ein letztes Beispiel für die gegenseitige Befruchtung der Problemgruppen durch das gemeinsame Anteilhaben ihrer Gegenstände an dem menschlichen Vergesellschaftetsein. Der Historiker der politischen oder der allgemeinen Kulturgeschichte ist jetzt vielfach geneigt, die Konfigurationen z. B. der inneren Politik auf die entsprechenden wirtschaftlichen Verfassungen und Vorgänge als auf ihre zureichende Ursache zurückzuführen. Wird dies nun etwa auf den starken Individualismus in den politischen Konstitutionen der italienischen Frührenaissance angewandt, derart, daß diese aus der Befreiung des Wirtschaftsverkehrs von zünftigen und kirchenrechtlichen Fesseln erklärt werden, so wird er einer Beobachtung des Kunsthistorikers eine neue Wendung dieser Auflassung verdanken können. Der Kunsthistoriker stellt schon am Anfang der hier fraglichen Epoche die ungeheure Ausbreitung der Porträtbüsten und ihren naturalistisch-individuellen Charakter fest und zeigt damit, wie die öffentliche Wertung ihren Akzent von dem, was den Menschen gemeinsam ist und was deshalb leicht in etwas abstraktere und ideellere Sphären rückt, auf das geschoben hat, was dem einzelnen zukommt, auf die Bedeutung der persönlichen Kraft, auf das Übergewicht des Konkreten vor dem allgemeinen „Kath' hólon“ geltenden Gesetz. Dies legt den Gedanken nahe, daß jene wirtschaftliche Wendung ihrerseits schon eine Äußerungsweise einer fundamentalen, soziologischen sei, die ihre Ausgestaltung auch als eine bestimmte Kunst und als eine bestimmte Politik gefunden hat, ohne daß eine von diesen ummittelbar die andere verursachte. So verhelfen diese soziologischen Analogien überhaupt vielleicht zu einer tieferen, den historischen Materialismus überwindenden Auffassung: vielleicht sind die Wandlungen der Geschichte, ihrer eigentlich wirksamen Schicht nach, solche der soziologischen Formen: wie sich die Individuen und die Gruppen zueinander verhalten, wie das Individuum zu seiner Gruppe, wie die Wertbetonungen, die Akkumulierungen, die Prärogativen unter den sozialen Elementen als solchen hin und her rücken – das ist vielleicht das eigentliche epochale Geschehen, und wenn die Wirtschaftsart alle andern Kulturprovinzen nach sich zu bestimmen scheint, so ist die Wahrheit dieses verlockenden Scheines die, daß die Wirtschaft selbst durch soziologische Verschiebungen bestimmt ist, die von sich aus ebenso alle andern kulturellen Gestaltungen bestimmen; daß auch die Wirtschaftsform nur ein „Überbau“ über den Verhältnissen und Wandlungen der rein soziologischen Struktur ist, die die letzte historische Instanz bildet und alle andern Lebensinhalte freilich in einem gewissen Parallelismus mit dem wirtschaftlichen gestalten muß. –

Von diesen Erwägungen aus öffnet sich, über den bloßen Begriff der Methode hinaus, der Blick auf den ersten prinzipiellen Problemkreis der Soziologie. Aber wenn er auch fast das ganze Feld menschlicher Existenz umfaßt, so verliert er dadurch nicht den Charakter jener immerhin einseitigen Abstraktion, den keine Wissenschaft abstreifen kann. Denn so sozial bestimmt, gleichsam von Gesellschaftlichkeit durchdrungen jeder Punkt der wirtschaftlichen und geistigen, der politischen und rechtlichen, ja der religiösen und allgemein kulturellen Sphäre sei, so verwebt sich doch diese Bestimmung an einem jeden innerhalb des vollen Erlebens mit andern, die aus andern Dimensionen stammen. Vor allem mit denen der reinen Sachlichkeit. Es ist immer irgendein Sachgehalt, technischer oder dogmatischer, intellektueller oder physiologischer Art, der die Entwicklung der sozialen Kräfte trägt und der durch seinen eigenen Charakter, seine Gesetze und seine Logik diese Entwicklung in bestimmten Richtungen und Schranken hält. Jede gesellschaftliche Arbeit, die sich an irgendeiner Materie vollzieht, muß sich deren Naturgesetzlichkeit fügen, jede intellektuelle Leistung bindet sich, mit welchen Schwankungen auch immer, an Denkgesetze und Verhalten von Objekten, jede Reihe von Schöpfungen auf künstlerischem oder politischem, rechtlichem oder medizinischem, philosophischem oder überhaupt erfinderischem Gebiet hält eine gewisse Ordnung ein, die uns aus den sachlichen Verhältnissen ihrer Inhalte – Steigerung, Anknüpfung, Differenzierung, Kombination usw. – verständlich wird. Hier ganz beliebige Schritte zu tun, beliebige Abstände zu überspringen, beliebige Synthesen zu vollziehen vermag kein menschliches Wollen und Können, sondern dieses folgt einer gewissen inneren Logik der Dinge selbst. So könnte man die Kunstgeschichte als eine durchaus verständliche Entwicklung aufbauen, indem man die Kunstwerke für sich allein und gänzlich anonym in ihrer Zeitordnung und stilistischen Evolution vorführte, entsprechend die Rechtsentwicklung als das Nacheinander der Institutionen und Gesetze, die wissenschaftliche Produktion durch die bloße Aufreihung, eine historische oder eine systematische, der in ihr gewonnenen Resultate usw. Und hier ebenso, wie wenn man ein Lied auf seinen musikalischen Wert, eine physikalische Theorie auf ihre Wahrheit, eine Maschine auf ihre Zweckmäßigkeit hin ansieht, zeigt es sich, daß jeder menschliche Lebensinhalt, auch wenn er nur innerhalb der Bedingtheit und durch die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens realisiert wird, eine von diesem ganz unabhängige Betrachtungsweise gestattet. Innerhalb der Reihe der Sachen selbst und gemessen an ihrer eigenen Idee haben sie einen Sinn, ein Gesetz, ein Wertmaß, das jenseits des sozialen wie des individuellen Lebens steht und eine eigene Feststellung, ein eigenes Verständnis ermöglicht. Der vollen Wirklichkeit gegenüber ist freilich auch dies eine Abstraktion, da kein Sachgehalt sich durch seine eigene Logik verwirklicht, sondern es nur durch die geschichtlichen und seelischen Kräfte vermag; was dasteht, ist eine dem Erkennen unmittelbar gar nicht erfaßbare Einheit, und was wir Sachgehalt nennen, ist eine Aufnahme von einer einseitigen Kategorie her.

Unter der Leitung einer entsprechenden erscheint die Menschheitsgeschichte als Verhalten und Erzeugnis von Individuen. Wie man das Kunstwerk auf seine rein artistische Bedeutung hin ansehen und in die objektive Reihe der Kunsterzeugnisse überhaupt einstellen kann, als wäre es „vom Himmel gefallen“ – so mag man es auch aus der Persönlichkeit und der Entwicklung, aus dem Erlebnis und den Tendenzen seines Schöpfers heraus begreifen, als einen Pulsschlag oder ein unmittelbares Ergebnis des individuellen Lebens, aus dessen Kontinuität es sich, in dieser Richtung gesehen, überhaupt nicht herauslöst. Gewisse Kulturtatsachen mögen sich dieser Blickeinstellung leichter als andere bieten, vor allem die Kunst und alles, woran der Hauch des Schöpfertums noch fühlbar ist; prinzipiell aber ist dies Getragensein von dem tätigen und aufnehmenden, dem typischen oder einzigartigen Subjekt eine der Möglichkeiten, jene Einheit alles menschlichen Erzeugens in die Verständlichkeit zu übersetzen, es erscheint als eines der Momente, die in jedem mitwirken und nach deren Gesetz sich gleichsam eine Ebene bilden läßt, auf die man das Ganze projizieren kann.

Der Zweck. dieser Ausführungen liegt in der Erkenntnis, daß neben dem gesellschaftlichen Leben als begründender Kraft und umfassender Formel des menschheitlichen Lebens auch noch Herleitung und Deutung des letzteren aus dem sachlichen Sinn seiner Inhalte und auch noch aus dem Wesen und der Produktivität der Individuen als solcher besteht – vielleicht auch noch aus anderen, bisher nicht entschieden herausgearbeiteten Kategorien. Diese Zerlegungen und Konstruktionsarten unseres unmittelbaren, als Einheit von all diesem empfundenen Lebens und Schaffens liegen in der gleichen Schicht und haben das gleiche Recht. Infolgedessen – und darauf kommt es jetzt an – kann eine einzelne von ihnen nicht beanspruchen, uns den alleinigen und allein ausreichenden Weg der Erkenntnis zu führen, also auch nicht die, die von der gesellschaftlichen Form unseres Daseins bestimmt ist. Auch sie ist nur eine einseitige, die andern ergänzend und von ihnen ergänzt. Aber freilich, unter diesem Vorbehalt kann sie prinzipiell der Ganzheit menschlicher Existenz eine Erkenntnismöglichkeit gewähren. Die Tatsachen der Politik wie der Religion, der Wirtschaft wie des Rechts, der Kulturstile als ganzer und der Sprache und unzählige andere können danach befragt werden, wie sie, jenseits individuell verantwortlicher Leistungen wie objektivsachlicher Bedeutung, als Leistungen des Subjekts Gesellschaft begreiflich, als Entwicklungen dieses Subjekts darstellbar sind; und es machte den Erkenntniswert davon keineswegs illusorisch, wenn über das Wesen dieses Subjekts auch keine völlig erschöpfende und völlig unstrittige Definition bestünde. Es ist nun einmal eine Eigentümlichkeit unseres Geistes, daß er auf begrifflich noch unsicheren Fundamenten doch ein sicheres Gebäude aufführen kann: physikalische und chemische Feststellungen leiden nicht unter der Dunkelheit und Problematik des Begriffes der Materie, rechtliche nicht unter dem Streit über das Wesen des Rechts und seiner ersten Grundsätze, psychologische nicht darunter, daß das „Wesen der Seele“ uns durchaus fragwürdig ist. Wenn demnach die „soziologische Methode“ angewendet wird, um den Verfall des Römerreiches oder das Verhältnis von Religion und Wirtschaft bei den großen Kulturvölkern, um die Entstehung des deutschen Nationalstaatsgedankens oder die Herrschaft des Barockstils zu entwickeln, d. h. wenn solche Geschehnisse oder Zustände als Summierungen ununterscheidbarer Beiträge, als Ergebnisse der Wechselwirkung von Individuen, als Lebensstadien überindividueller Gruppeneinheiten erscheinen – so mag man diese nach soziologischer Methode geführten Untersuchungen als Soziologie bezeichnen.

Allein aus ihnen erhebt sich, durch eine weitere Abstraktion, die man wohl als Ergebnis einer höchst differenzierten Wissenschaftskultur charakterisieren kann, eine Problemgruppe von im engeren Sinne soziologischer Natur. Wenn nämlich alle möglichen Tatsächlichkeiten des Lebens daraufhin betrachtet werden, daß sie sich innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe und durch sie vollziehen, so muß es Gemeinsamkeiten ihres Vollzuges geben (wenn auch, gemäß den verschiedenen Umständen, nicht allenthalben die gleichen), Charakterzüge, die daraufhin und nur daraufhin hervortreten, daß sich das gesellschaftliche Leben als Ursprung oder Subjekt jener Ereignisse zeigt. Dahin gehören Fragen wie die: ob sich etwa in den geschichtlichen Entwicklungen der allerverschiedensten Art, die sich nur in ihrem Getragensein durch je eine Gruppe begegnen, ein gemeinsames Gesetz finden läßt, ein nur auf diese Tatsache zurückführbarer Rhythmus? So hat man z. B. behauptet, alle historischen Evolutionen realisierten sich, auf ihrer ersten Stufe, in einer ungeschiedenen Einheit vielfacher Elemente, führten auf der zweiten zu einer differenzierten Verselbständigung dieser, nun gegeneinander entfremdeten, und zeigten auf der dritten eine neue Einheit, die aber jetzt in dem harmonischen Ineinandergreifen der in ihrer Besonderheit erhaltenen Elemente bestünde; kürzer: der Weg aller voll ausgelebten Entwicklungen ginge von der undifferenzierten Einheit über die differenzierte Mannigfaltigkeit zu der differenzierten Einheit. Oder, man erblickt in allem historischen Leben einen von organischer Gemeinsamkeit zu mechanischem Nebeneinander fortschreitenden Prozeß; Besitz, Arbeiten, Interessen erwüchsen zunächst in der Solidarität der Individuen, die das Gruppenleben tragen, verteilten sich dann aber auf egoistische Personen, von denen jede nur das Ihre suche und sich nur aus dieser Gesinnung heraus mit anderen verbinde; jenes erste sei die Darstellung eines unbewußten, nur im Gefühl offenbarten Willens unseres tiefsten Wesens, während das andere ein Produkt der Willkür und des berechnenden Verstandes sei. Oder: man glaubte eine feste Beziehung zwischen der geistigen Weltanschauung jeder bestimmten Epoche und ihrem sozialen Zustande festzustellen, indem beides gewissermaßen nur zwei Äußerungen der biologischen Entwicklung seien. Die menschliche Erkenntnis durchlaufe im großen drei Stadien: das theologische, das die Naturerscheinungen aus der Willkür irgendwelcher Wesen erklärt, das metaphysische, in dem die übernatürlichen Ursachen zwar durch gesetzmäßige ersetzt werden, aber durch mystische und spekulative wie die „Lebenskraft“, die „Naturzwecke“ usw., endlich das positive, das die heutige experimentelle und exakte Wissenschaft darstellt. Durch diese Stadien entwickle sich jeder Wissenszweig hindurch, und die Beobachtung hiervon enträtsle uns also die in alle möglichen Gebiete sich verzweigende soziale Entwicklung.

Ferner reihen sich in diese Kategorie Fragen ein wie die nach den Bedingungen der Macht von Gruppen, in ihrem Unterschied gegen die der Macht von Individuen. Die Bedingungen der letzteren sind unmittelbarer anschaulich: Intelligenz, Energie, geeigneter Wechsel von Konsequenz und Biegsamkeit – obgleich auch gewisse noch dunkle Kräfte bestehen müssen, die die historische Mächtigkeit von Erscheinungen wie Jesus auf der einen, Napoleon auf der andern Seite eigentlich begründen, und die durch Benennungen wie Suggestionskraft, Prestige usw. keineswegs geklärt sind. In den Machtübungen der Gruppen, sowohl ihren Individuen wie andern Gruppen gegenüber, wirken außer solchen noch andere Energien: Fähigkeit zu straffer Konzentration ebenso wie zur Auflösung in individuelle Sonderbetätigungen, bewußter Glaube an führende Geister wie dumpfe Expansionstriebe, parallele Egoismen der Einzelnen wie aufopfernde Hingabe an das Ganze, fanatischer Dogmatismus wie überallhin prüfende geistige Freiheit. Alles dies wirkt nicht nur zu dem Aufstieg – und, negativ gewendet, zum Verfall – politischer Volkseinheiten, sondern aller möglichen wirtschaftlichen und religiösen, parteimäßigen und familiären Gruppierungen; aber immer geht die Frage hier nicht auf das Zustandekommen der Vergesellschaftung als solcher, sondern auf die induktiv festzustellenden Schicksale von Gesellschaft, als eines schon zustande gekommenen Subjekts.

Eine andere Frage, die sich gegenüber allen soziologisch betrachteten Zuständen und Ereignissen erhebt, ist die: Wie denn das kollektive Verhalten, Handeln, Gedankenbilden dem Werte nach zu den entsprechenden, aus Individuen unmittelbar hervorgehenden Äußerungen stehe? Welche Unterschiede des Niveaus, an irgendwie idealen Maßstäben gemessen, zwischen den sozialen Erscheinungen und den individuellen bestehen? So wenig wie für die vorige Frage wird für diese die innere, grundlegende Struktur der Gesellschaft zum Problem; vielmehr diese Struktur wird schon vorausgesetzt, die Lebenstatsachen werden von ihr aus betrachtet, und die Frage ist: Welche allgemeinen Züge treten an diesen Tatsachen hervor, wenn sie in diese Blickrichtung eingestellt sind? Das zweite Kapitel der vorliegenden Blätter wird die Untersuchung auf das Niveauproblem als auf ein Beispiel dieses soziologischen Typs – man könnte ihn den der „allgemeinen Soziologie“ nennen – wenden.

Die wissenschaftliche Abstraktion legt noch von einer anderen Richtung her eine Linie durch die volle Konkretheit der gesellschaftlichen Erscheinungen, alles das verbindend, was in einem gleich zu erörternden, mir eigentlich als ganz entscheidend erscheinenden Sinne „soziologisch“ ist, und dies zu der Einheit einer Erkenntnisweise bringend – obgleich es in der Wirklichkeit in dieser Isoliertheit und Wiederzusammenfügung nicht besteht, sondern aus der Lebenseinheit eben dieser Wirklichkeit durch einen herzugebrachten Begriff herausabstrahiert ist. All jene gesellschaftlichen Tatsachen sind doch, wie schon erwähnt wurde, nicht nur gesellschaftliche, es ist immer ein Sachgehalt sinnlicher oder geistiger, technischer oder physiologischer Art, der gesellschaftlich getragen oder produziert oder fortgepflanzt wird und so das Gesamtgebilde des sozialen Lebens ergibt. Aber diese gesellschaftliche Formung solcher Inhalte muß doch auch für sich in einer arbeitsteiligen Wissenschaft erforschbar sein, gerade wie die geometrische Abstraktion die bloßen Raumformen der Körper erforscht, die doch nur als Formen materieller Inhalte empirisch vorliegen. Kann man sagen, Gesellschaft sei Wechselwirkung unter Individuen, so wäre: die Formen dieser Wechselwirkung zu beschreiben, Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft im engsten und eigentlichsten Sinne der „Gesellschaft“. War der erste Problemkreis erfüllt von dem ganzen geschichtlichen Leben, soweit es gesellschaftlich geformt ist, immer aber diese Gesellschaftlichkeit als Ganzes umgreifend, so dieser zweite von den Formen selbst, die aus der bloßen Summe lebender Menschen Gesellschaft und Gesellschaften machen. Diese Forschung – man könnte sie die „reine Soziologie“ nennen – zieht aus den Erscheinungen das Moment der Vergesellschaftung, induktiv und psychologisch von der Mannigfaltigkeit ihrer Inhalte und Zwecke, die für sich noch nicht gesellschaftlich sind, gelöst, wie die Grammatik die reinen Formen der Sprache von den Inhalten sondert, an denen diese Formen lebendig sind. Tatsächlich finden wir an gesellschaftlichen Gruppen, welche ihren Zwecken und ihrer ganzen Bedeutung nach die denkbar verschiedensten sind, die gleichen formalen Verhaltungsweisen der Individuen zueinander. Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und unzähliges Ähnliches findet sich an einer staatlichen Gesellschaft wie an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an einer Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie. So mannigfaltig auch die Interessen sind, aus denen es überhaupt zu diesen Vergesellschaftungen kommt – die Formen, in denen sie sich vollziehen, können dennoch die gleichen sein. Und nun andrerseits: das inhaltlich gleiche Interesse kann sich in sehr verschiedenartig geformten Vergesellschaftungen darstellen, z. B. das wirtschaftliche Interesse realisiert sich ebenso durch Konkurrenz wie durch planmäßige Organisation der Produzenten, bald durch Abschluß gegen andere Wirtschaftsgruppen, bald durch Anschloß an sie; die religiösen Lebensinhalte fordern, inhaltlich die identischen bleibend, einmal eine freiheitliche, ein andermal eine zentralistische Gemeinschaftsform; die Interessen, die den Beziehungen der Geschlechter zugrunde liegen, befriedigen sich in der kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit der Familienformen usw.

Wie also die Form die identische sein kann, in der die divergentesten Inhalte sich vollziehen, so kann umgekehrt auch der Stoff beharren, während das Miteinander der Individuen, das ihn trägt, sich in einer Mannigfaltigkeit von Formen bewegt; wodurch denn die Tatsachen, obgleich in ihrer Gegebenheit Stoff und Form eine unlösbare Einheit des sozialen Lebens ausmachen, deren Trennung zum Zweck des soziologischen Problems: der Feststellung, systematischen Ordnung, psychologischen Begründung und historischen Entwicklung der reinen Formen der Vergesellschaftung, legitimieren. Eine Spezialwissenschaft ist die Soziologie hier nicht, wie bei der ersten Problemgruppe, nach ihren Gegenständen, wohl aber nach ihrer eindeutig umgrenzten Fragestellung gegenüber diesen Gegenständen. Das dritte Kapitel dieser Skizze wird an der Erscheinung der „Geselligkeit“ einerseits ein einzelnes Beispiel, andrerseits ein Symbol des Gesamtbildes dieser Art von Untersuchung bieten 2).

Die Einstellungen gegenüber den gegebenen Tatsachen, die das jetzige Stadium der Wissenschaft verlangt, machen zuletzt noch einen dritten Bezirk von Fragen an die Tatsache Gesellschaft kenntlich. Insofern sie sich gleichsam an deren obere und untere Grenze anschließen, sind sie freilich nur im weiteren Sinne als soziologische zu bezeichnen, ihrem eigenen Charakter nach aber als philosophische. Ihren Inhalt nur bildet jene einfache Tatsache – wie die Natur und die Kunst, aus denen wir unmittelbar Naturwissenschaft und Kunstwissenschaft entwickeln, doch auch die Gegenstände der Naturphilosophie und Kunstphilosophie hergeben, deren Interessen und Methoden in einer andern Schicht des Denkens liegen, derjenigen, wo jede tatsächliche Einzelheit nach ihrer Bedeutung für die Ganzheit von Geist, Leben, Dasein überhaupt und nach ihrer Legitimation von diesen Ganzheiten her befragt wird.

Wie also jede andere exakte, auf das unmittelbare Verständnis des Gegebenen gerichtete Wissenschaft, ist auch die soziale von zwei philosophischen Gebieten eingegrenzt. Das eine umfaßt die Bedingungen, Grundbegriffe, Voraussetzungen der Einzelforschung, die in dieser selbst keine Erledigung finden können, da sie ihr vielmehr schon zugrunde liegen; in dem andern wird diese Einzelforschung zu Vollendungen und Zusammenhängen geführt und mit Fragen und Begriffen in Beziehung gesetzt, die innerhalb der Erfahrung und des unmittelbar gegenständlichen Wissens keinen Platz haben. Jenes ist die Erkenntnistheorie der fraglichen Einzelgebiete, dieses ihre Metaphysik. Die Aufgaben der einzelnen Sozialwissenschaften: die Lehre von der Wirtschaft und den Institutionen, die Geschichte der Sitten und die der Parteien, die Bevölkerungstheorie und die Erörterung der beruflichen Gliederung, könnten gar nicht behandelt werden, wenn nicht gewisse Begriffe, Axiome, Verfahrungsweisen indiskutabel vorausgesetzt würden. Wenn wir nicht ein Maß egoistischer Gewinn- und Genußsucht, aber auch eine Beschränkbarkeit dieses Maßes durch Zwang, Sitte, Moral annähmen; wenn wir uns nicht das Recht zusprächen, von den Stimmungen einer Masse als Einheit zu reden, obgleich viele ihrer Elemente nur äußerlich mitmachen oder dissentieren; wenn wir nicht die Entwicklung innerhalb einer Kulturprovinz daraufhin für begriffen erklärten, daß wir sie als eine aufsteigende, einer psychologischen Logik folgende, in uns nachbilden können – so würden wir unzählige Tatsachen gar nicht zu einem sozialen Bilde formen können. In all diesem und sehr vielem Ähnlichen liegen Verfahrungsweisen des Denkens vor, mit denen es an den Rohstoff der einzelnen Geschehnisse herantritt, um aus ihm sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, wie das Denken die äußeren Erscheinungen von gewissen Voraussetzungen über Raum, Stoff, Bewegung, Zählbarkeit aus ergreift und ohne diese niemals aus jenen die Wissenschaft der Physik zustande bringen könnte. Die einzelne soziale Wissenschaft pflegt mit Recht diese Basis ihrer selbst fraglos hinzunehmen; ja, sie kann sie innerhalb ihrer selbst gar nicht behandeln, weil sie ersichtlich alle übrigen Sozialwissenschaften hinzunehmen müßte. Hier also tritt die Soziologie als die Erkenntnistheorie der sozialen Sonderwissenschaften ein, als die Analyse und Systematik der Grundlagen, die in diesen formend und normierend wirken.

Wie diese Fragestellungen unter die konkreten Erkenntnisse vom sozialen Dasein hinuntergehen, so gehen andere über diese hinaus: sie versuchen durch Hypothese und Spekulation den unvermeidlich fragmentarischen Charakter dieser wie jeder Empirie zu einem geschlossenen Gesamtbilde zu ergänzen; sie ordnen die chaotisch zufälligen Ereignisse in Reihen, die einer Idee folgen oder einem Zweck zustreben; sie fragen, wo das gleichgültig naturgesetzliche Abrollen der Ereignisse einem Sinn der Einzelerscheinungen oder des Ganzen Raum gäbe; sie behaupten oder sie bezweifeln – beides gleichmäßig einer überempirischen Weltanschauung entspringend –, daß diesem ganzen Spiel der gesellschaftlich-geschichtlichen Erscheinungen eine religiöse Bedeutung, eine erkennbare oder zu ahnende Beziehung zu dem metaphysischen Grunde des Seins einwohne. Im besonderen ergeben sich hier Fragen wie diese: Ist die Gesellschaft der Zweck der menschlichen Existenz oder ein Mittel für das Individuum? Liegt der definitive Wert der sozialen Entwicklung in der Ausbildung der Persönlichkeit oder in der der Assoziation? Ist Sinn und Zweck überhaupt in den gesellschaftlichen Gebilden als solchen vorhanden oder realisieren diese Begriffe sich nur an der Einzelseele? Zeigen die typischen Entwicklungsstadien der Gesellschaften eine Analogie mit kosmischen Evolutionen, so daß es eine allgemeine Formel oder Rhythmus von Entwicklung überhaupt gäbe – z. B. den Wechsel von Differenzierung und Integrierung –, der sich an den gesellschaftlichen wie an den materiellen Tatsachen gleichmäßig offenbart? Werden die sozialen Bewegungen vom Prinzip der Kraftersparnis, werden sie von materialistischen oder von ideologischen Motiven gelenkt? Dieser Typus von Fragen ist ersichtlich nicht auf dem Wege der Tatsachenfeststellung beantwortbar; vielmehr handelt es sich um die Deutung festgestellter Tatsachen und darum, das Relative und Problematische der bloßen sozialen Wirklichkeit zu einer Gesamtanschauung zu führen, die mit der Empirie nicht konkurriert, weil sie ganz andern Bedürfnissen als diese dient.

Es liegt auf der Hand, daß die Problembehandlung auf diesem Gebiet von der Verschiedenheit der Weltanschauungen, von individuellen und parteimäßigen Wertschätzungen, von letzten, unbegründbaren Überzeugungen mehr abhängig ist, als innerhalb der beiden andern, von den Tatsächlichkeiten enger umgrenzten Bezirke der Soziologie. Darum würde die Behandlung einer Einzelfrage als Beispiel nicht die an dieser Stelle erforderte Objektivität zeigen können, nicht in gleichem Maße wie bei den andern den ganzen Typus gültig veranschaulichen. Es scheint mir deshalb rätlicher, im letzten Kapitel eine Linie hierher gehöriger Theorien in derjenigen – von der allgemeinen Geistesgeschichte getragenen – Entwicklung zu zeichnen, die sie, durch mannigfache Gegensätze hindurch, innerhalb einer bestimmten Epoche gefunden hat.

 

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1) Ich entnehme die letzten Sätze, sowie noch einige andere meinem größeren Werke: Soziologie; Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), das manche der auf diesen Blättern berührten Gedanken ausführlicher und namentlich mit breiterer Begründung auf geschichtliche Tatsachen behandelt. 

2) Ich darf wohl darauf hinweisen, daß mein bereits erwähntes Werk: Soziologie die „Formen der Vergesellschaftung“ in der mir zur Zeit erreichbaren, wenngleich in keiner Weise abschließenden Vollständigkeit darzustellen sucht.