BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Eugenie Schwarzwald

1872 - 1940

 

Zehn Jahre Schule

 

1912

 

Quelle:

in: Jahresbericht 1912 des Mädchen-Lyzeums, Wien

Österreichische Nationalbibliothek

Textversion: Irmgard Bock

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Zehn Jahre Schule.

 

Zehn Jahre sind es, seit unsere Anstalt besteht. So reich war diese Zeit an Arbeit und Leid, an Kampf und Erfolg, daß sie mir nicht lang geworden war und ich ganz und gar keinen Anlaß zu einer Rückschau fand. Anders die Jugend: ihr scheinen zehn Jahre schon ein stattlicher Zeitraum, sie fühlte den Drang zu feiern, bereitete in aller Stille eine Reihe von Festlichkeiten vor, und ‐ plötzlich stand ich überwältigt.

Aber bald wich der erste Schrecken, ach, schon ein Jubilar zu sein, und die grenzenlose Überraschung, und machten tiefer Rührung, inniger Freude und warmem Behagen Platz. Anmut und Liebe, Verstand und Geschmack waren am Werke gewesen. Nirgends oberflächliche Rührseligkeit oder selbstgefälliges Pathos. Meinem mangelnden Sinn für Feierlichkeit war wunderbar Rechnung getragen worden. Alles, was geschah, paßte rein und genau zu meinem Gefühl.

Die feine Sachlichkeit, mit der unsere ehemaligen Schülerinnen die Summe unserer gemeinsamen Arbeit in einer Chronik „Zehn Jahre Schule“ gezogen hatten, war ebenso humorvoll, heiter anspruchslos und aufrichtig wie die Bände voll Zeichnungen, auf deren Seiten immer wieder mein Reformkleid verewigt erscheint. Wie es denn an Neckereien überhaupt nicht fehlte. Alles kam vor: meine Abneigung gegen konventionelle Geselligkeit, meine Alkoholgegnerschaft, sogar mein Kampf gegen das Korsett und nicht zuletzt meine Vorliebe für den Semmering, die einer Klasse Anlaß gab, mit einer Auswanderung dorthin zu drohen.

Jeder ging aus sich heraus, über sich hinaus. Kleine Schulkinder bemühten sich, ernsthafte Gesichter zu machen, Gymnasiastinnen mit leiser Neigung zum Bücherwurm setzten Rosenkränze auf ihr Haupt und tanzten Reigen; im selbstgedichteten Schuldialog wirkte neben der von Jugendreiz umflossenen Abiturientin der kleine Volksschulbub mit den zerschundenen Waden, putzige Tiroler Kinder schuhplattelten, anmutige Wienerinnen tanzten Lanner-Walzer, Polinnen sangen feierlich-schön die schwermütigen Weisen ihres Vaterlandes zu ergreifenden Worten, die sie der Gelegenheit angepaßt hatten, und zu malerischen und temperamentreichen Tänzen. Unsere kleine Hausvirtuosin aus dem Lyzeum trug ihr schönes, ernstes Klavierspiel bei, und ein liebes, komisches Kinderorchester wurde von einem netten Kapellmeister aus der 6. Lyzealklasse dirigiert. In lebenden Bildern zeigten Gymnasiastinnen Humor, Haltung und Anstand.

Den Höhepunkt bildete für mich die Aufführung eines Stückchens „Frau Ajas Geburtstag“, verfaßt von meiner Freundin aus Zürich, gespielt von unseren Schülerinnen und einer ernsthaften Kollegin, die sonst die Öffentlichkeit scheut wie das Feuer, und die nun dem hohen Festtag zu Ehren als Frau Aja auftrat, mit den lieben Mädelchen an Liebreiz wetteifernd, ihnen an jener Schönheit überlegen, die aus der seelischen Reife quillt.

Neben zahlreichen Briefen und Telegrammen aus der Ferne waren auch Deputationen erschienen, als wichtigster Festgast Jungfer Züs Bünzlin aus Seldwyla, die uns in einer langen, formvollendeten Ansprache über ihre eigenen Vorzüge sowie über die Gründe ihres Kommens unterhielt: „Ich bin nach Wien gekommen“, sagte sie, „weil bei uns daheim ruchbar geworden, welch beträchtliche Fortschritte in der Ausbildung unseres Frauenzimmers hierselbst zu vermerken sind, insonderheit durch die Bemühungen Ihrer ansehnlichen Person und dero Lehrgehilfen und -gehilfinnen. Indem zugleich bekannt wurde, welch lieblichen und angenehmen Geruches auch die Jungfer Züs Bünzlin sich an dero Schule am Kohlenmarkt zu erfreuen habe, fühle ich mich für die Lebensführung der Ihnen anvertrauten Jungfrauen mitverantwortlich und möchte Ihnen gerne auch einige deutsame Winke meinerseits übermitteln.“ Diese wurden mit aller Aufmerksamkeit angehört, wie sie einer so würdigen Persönlichkeit zukommt. Jungfer Züs teilte sich als interessanter Fremdling in die Ehren des Tages mit einem niedlichen, kleinwinzigen Alabamaneger, der mit Banjo und Liedern von weither gekommen war, die Schule zu beglückwünschen. Sogar aus dem Himmel war eine Schwarzwaldgymnasiastin dem heiligen Petrus zu gleichem Zweck mit kühnem Sprung entkommen.

Ich kann nicht von all dem Guten, Heiteren, Freundlichen, Zärtlichen und Geistreichen erzählen, was sich groß und klein ausgedacht hatte. Aber alles war schlicht und frei von jeglicher Banalität, wie durch einen besonderen Zauber. Und alle diese Dinge spielten sich in einer Atmosphäre ab, erfüllt vom Gefühl der Zusammengehörigkeit und dem Duft roter Rosen.

Am 15. und 16. Dezember geschah es; und doch waren es Tage, als wenn es wirklich einen Monat Mai gäbe, den es bekanntlich nicht gibt, und es der erste und letzte Mai zugleich wäre. Zwei Tage dauerte die Festfreude. Sie hinterließ nur gute Empfindungen und den Vorsatz, solche Schätzung und Liebe auch ferner zu verdienen. Für weitere zehn Jahre reicht die Aufmunterung. Sie kam gerade zurecht an der Grenze der Jugend, von der Gefährlichkeit des Lebens mehr denn je überzeugt, fängt man an, ihrer zu bedürfen.

Ich danke meinen Schulkindern, ihren Eltern, meinen Kollegen und Freunden von ganzem Herzen dafür wie für vieles andere, das ich in diesen zehn Jahren erfahren. Denn mir ist es gegangen wie einer unserer Schülerinnen, die in der Zehnjahrchronik erzählt, sie sei einmal, als sie das Glück ihrer Schulzeit gepriesen habe, von einem Skeptiker lächelnd gefragt worden: „Wie alt sind Sie?“ Und da habe sie geantwortet: „Jung genug, um etwas Rechtes zu werden; wäre ich nicht in die Schwarzwald-Schule gegangen, so wäre ich älter.“ Ebenso geht es mir.

Deshalb weiß ich für meine Stimmung in jenen Tagen keinen besseren Ausdruck, als ein schönes Wort aus einem der vielen Kindergedichte, mit denen ich erfreut wurde:

 

Aufjauchzen möchte ich aus tiefster Brust,

nicht weil der Augenblick mich hat bezwungen,

nein, weil der schöne Alltag mir bewußt!

 

Eugenie Schwarzwald.