BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Eugenie Schwarzwald

1872 - 1940

 

Selma Lagerlöf in der Schule

 

1912

 

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Selma Lagerlöf in der Schule.

 

So leidenschaftlich gern Kinder im Winter zur Schule zu gehen pflegen: im Mai beginnt die Sehnsucht nach Natur und Freiheit in ihnen übermächtig zu werden. Da sie aber durch unsere unleidlichen Einrichtungen zu dieser Zeit noch an die Stadt gebunden sind, muß man auf Trost für sie bedacht sein. Dieses Jahr habe ich den ganzen Monat Mai aus der Lagerlöf vorgelesen: den Kleinen den „Wechselbalg“, diese Erprobung der einfachen und alles bezwingenden Mutterliebe, den Vierzehnjährigen aus „Nils Holgersons wunderbarer Reise“ durchs schwedische Vaterland, dessen mannigfaltige Natur ebenso wie Werke, und Schicksale der Menschen, Fabeln, Geschichten, Charaktere, Jahreszeiten, Ebenen, Seen und Berge mit gleicher Anschaulichkeit und Teilnahme vorgeführt werden, dabei kunstvoll verflochten mit den Schicksalen, Sorgen und Freuden der Tierwelt; die Kinder bekamen auch die Legende vom „Vogelnest“ zuhören, diese Heilung des vollkommensten Menschenhasses und der verrücktesten Weltverwerfung durch das unschuldige Familienleben eines bescheidenen Bachstelzenpaares; den „Weihnachtsgast“; „Ein Stück Lebensgeschichte“; die Kindergeschichte vom „Onkel Kuben“, wo Erziehungsunwesen und Tradition überlegen ironisiert werden; die Erzählung von „Schwester Olivens“ falscher Berufswahl; die zarte Liebesgeschichte des „Flaumvögelchens“, worin das Echte, Einfache und Wahrhaftige so herrlich über Eitelkeit und Selbstsucht zum Siege gelangen; den großen Siebzehjährigen aber las ich auch noch „Das Mädchen vom Moorhof“ vor, die lebendige Illustration zum Wort, daß die Letzten die Ersten sein sollen. Und da wurden wir ganz unerhört froh und lebten in einer Stimmung, wie sonst nur bei Waldausflügen.

Ich will versuchen, etwas von dieser Stimmung einzufangen und hier festzuhalten, zu Lob und Preis der Künstlerin, die uns mitten in der Stadt Frühlingsfreuden geschenkt hat. Aber wie sollte ein Erwachsener, der „viel von der Arglist und Bosheit der Welt erfahren“ hat, die Macht dazu haben? So habe ich im Gefühl eigener Unzulänglichkeit vor diesen wundersamen Dingen jedesmal nach Vorlesung einer Lagerlöf-Geschichte die Kinder selbst ihre Eindrücke niederschreiben lassen, wofür sie zehn Minuten Zeit bekamen. Mit schimmernden Augen und roten Öhrchen haben sie geschrieben, was ich hier mitteilen will!

„Warum mir Selma Lagerlöf so gut gefällt!“ das haben sie mir einmal so mit großer Wärme erzählt Den größten Eindruck macht augenscheinlich das Stoffliche, die moralische Atmosphäre, worin Menschen und Begebenheiten getaucht sind, kurz der Charakter der Kunst. Die Kinder sind entzückt von der „Selbstverständlichkeit, mit der alles Gute getan wird“. „Wunderschön ist es, daß die großen Empfindungen so einfachen Leuten zugeschrieben werden. Gudmund z. B. fühlt wie ein Held, aber er hat gar keine Manieren; denn er gießt seinen Kaffee zum Abkühlen in die Untertasse.“ – „Mir gefällt es, daß ihre Helden keine hervorragenden, sondern schlichte Menschen sind, die keine Ahnung von ihrer eigenen innern Größe haben.“ – Und daß gerade die Frauen solche bewähren, wirkt besonders, und sie sind der Dichterin dankbar, daß sie „so gut von den Frauen spricht“. – „Sie sind sicher, stark, tief und echt. Keine will etwas Besonderes vorstellen.“ – „Sie brüsten sich nicht mit ihrer Tugend, sondern bleiben immer bescheiden, anmutig und innig.“ – Es freut die Kinder, daß äußere Schönheit keine besondere Rolle spielt. „Diese Frauen wirken nur durch ihren hinreißend schönen Charakter. Man versteht es sehr gut, warum die Männer sich zu ihnen hingezogen fühlen.“ Ja, es geht ihnen selbst so, wie jener, die schreibt: „Es kommt häufig vor, daß ich, wenn ich unbeschäftigt bin, mit den Mädchen der Lagerlöf verkehre.“ – „Sie machen nichts mit Verstand, sondern alles so, wie sie müssen.“ So erklären sie sich auch die wunderliche Macht, die im „Wechselbalg“ den Mann immer wieder zwingt, der Frau, die vom kleinen Scheusal nicht läßt, doch in allem zu Willen zu sein, dieser Frau, von der es heißt: „Sie war nun einmal so: wenn es jemanden gab, den alle andern haßten, mußte sie ihre äußerste Kraft aufbringen, um einen solchen armen Wicht zu schützen.“ „Ich finde, dafür ist eine Frau auf der Welt,“ schreibt ein Mädchen. Und flugs ziehen die kleinen Frauenzimmerchen den Schluß auf die Dichterin selbst „Die Lagerlöf ist ganz bestimmt selbst so,“ versichert eines, ein anderes meint in Hinblick auf die Lebensgeschichte der Frau Lagerlöf: „Tante Wennervik hat recht prophezeit: Selma Lagerlöf ist gut und freundlich geworden,“ und ein drittes weiß: „Sie ist ganz und gar wahr in ihren Empfindungen, und dabei schreibt sie so herzlich und liebevoll, daß man ganz verzaubert ist. Es kommt nicht vor, daß sie vielleicht etwas schreiben würde, wo man denkt, der Dichter fühlt es ja selbst nicht. Sie paßt deshalb gut zu Gottfried Keller.“ Ja mit weiblicher Intuition scheinen sie die Verehrte selbst zu kennen. „Wie Hatto, der Eremit, zu seinen Bachstelzen, hat Selma Lagerlöf zu den nutzlosen Kindern der Erde Liebe gefaßt. Sie ist voll von wunderbarem Erbarmen und voll Güte.“ „Aber,“schreibt eine Sechzehnjährige, „ihre weltumfassende, allerbarmende Liebe und Güte ist nie ein Ausdruck von Schwäche, sondern immer ein Ausdruck von Kraft.“ Da kann man denn auch Vertrauen fassen zu der weitgehenden Versicherung: „Wenn die Leute bei Selma Lagerlöf noch so edel sind, ich glaube immer, so würdest du auch handeln!“ und rührend ist das Geständnis: „Wurde uns eine Lagerlöf-Geschichte vorgelesen, dann kann ich zwei Tage nichts Schlechtes denken.“

Allerdings fühlen sich die Kinder auch ganz persönlich dadurch geehrt, daß die Dichterin sie, die Kleinen, als Vertreter der natürlichen Güte und Unschuld wirken läßt, wenn sie hören, wie Liljecronas Frau, die sich vorgesetzt hat, den verkommenen, vertrunkenen Musikanten Rüster zu retten, diesen zwingt, seine kleinen, trüben Augen denen ihrer Kinder begegnen zu lassen, die groß, klar und unschuldig waren. „So sieh sie an, Rüster“, mahnt sie. „Ich traue mich nicht, sagt Rüster, denn es war ihm wie ein Fegefeuer, durch die schönen Kinderaugen in die Schönheit der unbefleckten Seele zu schauen.“ – „Ich glaube, Frau Lagerlöf schaut auf uns Kinder nicht herab, denn ihre Annemarie ist eigentlich auch nur ein kleines Mädchen, aber im großen Augenblick ist sie mehr als viele verständige Frauen von Welt.“ Schließlich verrät ein kleiner Stoßseufzer das Außerpersönlichste: „Ich möchte, daß meine Mutter mich so lieb hat, wie die Lagerlöf das Flaumvögelchen.“ Und verständnisvoll und sehnsüchtig nicken alle Kinder, wenn man liest: „Es war mit Onkel Theodor wie mit Mutter, er schien alle ihre Fehler und Schwächen zu kennen, und das war ein so ruhiges Gefühl. Da brauchte man sich nicht besser zu zeigen als man war.“ Eine Sechzehnjährige spricht es aus: „Mich beglückt das tiefe Verständnis für die Schwächen und Laster anderer, denn da bleibt uns selbst Hoffnung, verstanden zu werden.“

Daß die weltumfassende Liebe der Dichterin auch auf die Tierwelt sich erstreckt, macht sie den Kindern besonders wert. Sie lieben Martin den Gänserich, Jenny den verwöhnten Schoßhund, der durchaus ein Landhund sein will, die Bachstelzen des alten Hatto, ja sogar den Bären, der das Eisenwerk zerstören will. „Ich glaube, die Lagerlöf zieht die Tiere den Menschen vor, weil sie sich so geben wie sie sind.“ „Die Tiere können den Menschen erziehen, nicht nur den kleinen Nils, sondern auch den alten Hatto. Aber von Menschen können Tiere nichts lernen.“

So überträgt sich das verstehende Wohlwollen, mit dem die gütige Magierin des Nordens in jedem Wesen etwas Wertvolles und Anziehendes zu fassen weiß, auch auf die kleinen Hörerinnen, und es ist merkwürdig, wie es weiter wirkt und ihr Interesse auch an die unscheinbaren und nur nebenher erwähnten Gestalten der Lagerlöfschen Phantasie haften läßt. „Mir hat in der ,Silbergrube' der König am besten gefallen, weil er sich durch seine Hofleute nicht ganz hat verderben lassen, sondern sich noch begeistern kann.“ „Hildur habe ich lieber als Helga. Auch sie ist schön und brav, hat aber eine schlechte Erziehung gehabt und muß deshalb neben Helga, die das Leben erzogen hat, eine schäbige Rolle spielen.“ Am merkwürdigsten aber ist es, daß ihnen die Frau Jan Östers im „Hochzeitsmarsch“ so gut gefällt, die gar nicht vorkommt, von der nur erzählt wird: „Weil es aber eme so große Hochzeit war, hatte sein Weib versucht, die Löcher in den Ellbogen auszubessern und große grüne Flicken auf seine alte graue Friesjacke gesetzt.“ „Ich liebe diese Frau wegen ihrer süßen Einfältigkeit.“ Es ist daher weiter nicht befremdlich, wenn eines behauptet: „Ich liebe die Trollin und ihr Kind, den Wechselbalg“, und ein anderes: „In Nils Holgerson ist mir der Bär das Liebste.“

Zu dem edlen Charakter, der unbedingten Güte und der innigen Teilnahme am Guten gehört wesentlich das Vertrauen, daß der Lauf der Dinge dem Guten zum Durchbruch verhelfen muß, und dieses Vertrauen haben denn auch meine jungen Hörerinnen. „Man ist bei ihr keinen Augenblick im Zweifel, daß die Geschichte, die sie erzählt, ,gut' ausgehen wird, das heißt bei ihr so viel, als daß sie auch aus dem härtesten Herzen, wie Moses aus dem Felsen, den belebenden Quell hervorzaubern wird.“ „Immer gefällt mir am besten der Schluß; jedes Stück geht gut aus. Aber das Gutausgehen ist anders als in andern Büchern. Es befriedigt mich immer ganz, obgleich sie einem nicht alles sagt, sondern etwas zum Denken übrig läßt.“ „Traurige Dinge bei der Lagerlöf machen mich nicht traurig. Ich ahne schon wieder etwas Gutes.“ „Die ganze Geschichte ist traurig, man hat Teilnahme, aber man bleibt ruhig; da wird plötzlich alles gut und man muß heulen, gerade wenn es am besten ist.“

„Wenn man sie hört, glaubt man, daß die Welt wunderschön ist und daß das Gute die Oberhand behalten könnte, wenn wir uns nur ein bißchen Mühe geben wollten“, schreibt ein kleines Mädchen. Das große aber drückt dieselbe Empfindung so aus: „Wie kann ein Mensch gut und fröhlich zugleich sein? Gösta Berling nannte dies das Leichteste und Schwerste, was es gibt. Die Kavaliere auf Ekeby haben es in dem Jahr der Freude und der Not, des Glückes und des Leidens gelernt. Und wir, wir haben die Lagerlöf vorgelesen bekommen.“ Und echt weiblich wird eine wieder konkret und persönlich: „Ich möchte im Norden leben, dort sind die Menschen gründlicher. Mir gefällt es, daß sie so langsam denken, so rauh, herb und gesund sind. Vielleicht heirate ich einmal einen Schweden.“ Das ist eine Zwölfjährige; ältere Mädchen sind schon zurückhaltender und begnügen sich mit der Absicht, Schwedisch zu lernen, „um diese schönen Bücher im Original lesen zu können“.

Da ist denn die geradezu leidenschaftliche Teilnahme erklärlich, womit Geschicke, Schwierigkeiten, Lösungen begleitet werden.

„Es kommen Stellen vor, wo einem beinahe das Herz still steht.“ Damit meinen sie den Augenblick, da Lars Larsson die Saiten zerschneidet, Schwester Olive als Donna Sol auf die Bühne tritt, Helga dem Meineidigen die Bibel entreißt, auf die er schwören will, der Bauer den Wechselbalg in das brennende Haus wirft, oder da Hatto, der Eremit, seine Abmachung mit dem lieben Gott rückgängig macht. „Mir gefällt an Selma Lagerlöf, daß es bei ihr so ist wie in meiner Kinderzeit. Immer schöne Überraschungen und doch nur solche, auf die man schon gewartet hat.“ „Ich liebe ihre Leute, weil sie verschlossen sind, und das Elementare und die Spannung. Man weiß nie, was geschehen wird.“ „Mir ist noch ganz heiß von der soeben vorgelesenen Geschichte“, fängt das eine an, und „ich hab' mich in den Arm gezwickt, um nicht zu weinen“, gesteht das andere. „Kaum habe ich ein paar Worte gehört, bin ich sofort in der rechten Stimmung.“ „Wenn ich etwas von der Lagerlöf höre, muß ich fortwährend lächeln.“ „Ich muß immer weinen, wenn mir etwas gefällt, und beim ,Wechselbalg' habe ich sehr weinen müssen.“ „Wie die Bäuerin den Wechselbalg aus den Flammen gerettet hat, habe ich gemeint, ich muß hinlaufen und sie umarmen.“ Und mit einer Voraussicht, die aus der Intuition geboren ist: „Ich glaube, wenn man so eine Geschichte lange nachher, vielleicht erst nach Jahren, wieder liest, wird man denken, daß da noch viel mehr gestanden hat; und das kommt daher, daß man so viel weiter daran denken kann und sogar muß. Es ist auf dem Papier manchmal ganz kurz – aber eigentlich ist es viel mehr.“ Eine Siebzehnjährige aber schreibt: „Ich kann nicht sagen, warum sie mich bezwingt, aber ich zittere, wenn sie spricht.“

Hier wird bereits an die künstlerischen Mittel gestreift, deren sich die Kraft der Dichterin bedient, um ihre Absichten zu erreichen. Ob sich die Kinder ihrer schriftstellerischen Eigentümlichkeiten bewußt werden? Der stärksten, der Einfachheit und Unmittelbarkeit des Stils, jedenfalls alle. Beinahe jedes Kind rühmt die Einfachheit der Sprache, die Natürlichkeit des Ausdrucks, diese Fähigkeit, unendliche Empfindungen auf dem unmittelbarsten und kürzesten Weg auszudrücken. „Ich glaube, man ist so tief gerührt, weil keine so überschwenglichen Redensarten dastehen“ – „nur einfache Leute dürfen die Lagerlöf vorlesen, affektierte nicht“ – und ähnlich meint die kleine Engländerin, die eben erst Deutsch gelernt hat: „I find den Wechsel Balk besonders schön, weil es keine überflüssige Worte hat und in der ganzen Geschichte ist keine sentimental Stelle.“ – „Man kann nichts von der Lagerlöf gut wiedererzählen, weil man keine so einfachen, reizenden Worte finden kann.“ – „Jedes Wort hat so einen Reiz, daß man nie auf den Gedanken kommt, schon im Anfang zu schauen, wie die Geschichte ausgeht.“ – Die Kleinen versuchen, sich über den Zauber dieses Stiles klar zu werden und forschen nach Gründen und halten es sogar für möglich, von ihr zu lernen. „Es wundert mich, daß nicht alle Dichter sich bemühen, so klar und einfach zu schreiben.“ Die Größeren sind schon tiefer in das Wesen der Kunst eingedrungen. Eine Sechzehnjährige schreibt: „Wie die Dichterin diese Wirkung zusammenbringt, das kann, soll und braucht man nicht zu verstehen. Das ist ihr eigenes, unergründliches Geheimnis.“ Zuletzt findet doch ein kleines Mädchen das schönste Lob: „Wie die Lagerlöf schreibt, so sollte eine Mutter ihren Kindern erzählen.“

Viel Verständnis haben sie für den gelegentlichen Humor der Dichterin. Sie lächeln mit der Überlegenheit der Bildung über Helgas Aberglauben, die Asche des heimatlichen Hofes, die sie auf die Herdplatte im Hause des Dienstgebers gestreut hat, habe sie in der neuen Heimat heimisch gemacht. Mit dem gesunden Gefühl der Jugend belächeln sie die zudringliche Art, in der der alte, geistesverworrene Hatto mit dem höchsten Wesen verkehrt, und sind strahlend glücklich, als das Flaumvögelchen mit beginnender Abkehr vom geckenhaften Bräutigam diesen im Traum mit dem langweiligen Hund „Wie“ verwechselt. Vor allem aber empfinden sie die heitere Ausgeglichenheit des Ganzen als eine Wohltat für ihr junges Gemüt, das so freude-, so trostbedürftig ist.

Besonderes Lob der kleinen Hörerinnen erntet die große Anschaulichkeit der Vorgänge. „Alles ist so lebendig, man sieht förmlich den kleinen Niels, hört den Bären brummen, die Bachstelzen piepsen.“ „Man müßte jeden auf der Straße erkennen, den die Lagerlöf schildert.“ – „Ich kann alles zeichnen, was die Lagerlöf schreibt“, droht ein Lyzealkind, und die achtjährigen Vorschulkinder gehen hin und machen die Drohung wahr: grauenerregende Illustrationen sind das traurige Ergebnis; aber sie verlieren den Mut zum Zeichnen nicht. Zu verlockend sind die Bilder, die vorkommen: „Wie das braune, häßliche Trollkind in der weißen Wiege liegt, von allen Leckerbissen des Hauses umgeben, sollte man zeichnen.“ Andere empfehlen als Modell den alten Hatto mit sechs Bachstelzen auf Haupt und Schultern, Jan Öster, der spielend voran schreitet, während ihm der gerührte, hingerissene Hochzeitszug folgt, oder die biedermeiersche Abfahrt des „Flaumvögelchens“ in der alten, grünen Chaise aus dem Hintergäßchen, in dem ihr väterlicher Bäckerladen liegt. Sie merken also recht gut, was die dichterische Anschauung des Einzelnen und Konkreten und dessen lebensvolle Darstellung zu bedeuten hat. „Sie schildert so viele Tiere, aber keines ist dem andern gleich, jedes hat seine eigene Art.“ Besonders fein bemerkt eine andere: „Es gefällt mir, daß die Frau (die Mutter im ,Wechselbalg') nicht großartig und schön geschildert ist, nur daß ihre Taten sie einfach loben. Es steht nichts davon, daß sie einen ganz besonderen Charakter hat, und doch glaubt man, sie wäre die beste Bäuerin der Welt.“ Dabei entgeht ihnen aber auch nicht, daß das einzelne nur zufälliges Gefäß für höhere und ewige Ideen ist, und sie werden sich des Typischen wohl bewußt. „Sehr gut gefällt mir auch, daß keine bestimmte Zeit angegeben ist, denn diese Menschen könnten zu allen Zeiten leben und jedes Standes sein.“ Und es bedeutet ein hohes Lob, das eine, die an den Wirkungen auf sich selbst erraten hat, daß auch die Kunst eine Absicht haben kann, es der Dichterin hoch anrechnet, „daß sie die Menschen so unmerklich erzieht“. – Vielleicht sind damit eigene trübe Erfahrungen gestreift.

Man wird ahnen, daß unter Schulkindern der Nils Holgerson, diese merkwürdigste „Vaterlandskunde“, die es gibt, helles Entzücken erregt. „ Es war eine reizende Idee, so eine liebe Geographie zu schreiben. Die Dichterin hat gezeigt, daß Schulbücher nicht trocken und langweilig sein müssen. Früher hat man nämlich geglaubt, Schulbücher dürfen nicht unterhaltend sein, weil man in der Schule sich plagen muß. Jetzt denkt man ganz anders. Jetzt ist jeder überzeugt, daß man auch aus schönen Büchern etwas lernen kann. Ich glaube, die Leute haben einfach die Kunst nicht verstanden, Gelehrsamkeit schön und lustig auszudrücken und weil sie es nicht konnten, haben sie gesagt, daß Lehrbücher trocken sein müssen. Aber die Lagerlöf, die ein großer Dichter ist, hat es doch der Mühe wert gefunden, für Kinder zu schreiben. Man muß sie dafür lieben und bewundern.“ „Mit welcher Freude müssen die Schulkinder in Schweden aus diesem Buch lernen! Man weint und lacht, freut sich und trauert und lernt dabei, ohne daß man es beabsichtigt.“ „Ich glaube, wenn wir aus solchen Büchern lernen dürften, hätte jedes Kind lauter ‚sehr gut‘.“ „Warum haben wir keine österreichische Geographie, die ein entzückendes Märchen ist? Wie beneidenswert sind doch die schwedischen Kinder!“

Sie möchten also gerne lernen, und lernen aus der Lagerlöf besonders gern. So hat ihnen der „Hochzeitsmarsch“ viel zu denken und zu fragen gegeben. Ob denn unsere Künstler auch so kollegial dächten und handelten, wie die Musikanten im Hochzeitsmarsch? Ach, was hätte ich da sagen sollen? Ich schwieg verlegen. Eigentlich müsse es aber unter Künstlern so zugehen! „Treue Kameradschaft und selbstloser Edelmut haben dem Talent den Weg zu bahnen“ – und „Ich glaube, die Dichterin meint, Künstler müssen ordentlich zusammenhalten, weil andere Leute (Bauern) sie nicht so gut verstehen können.“ „Ich bin sehr glücklich, daß Jan Öster nie mehr in seine frühere Dunkelheit zurückfallen kann, denn immer wird er denken müssen, wie man ihn einmal geehrt hat.“ „Vielleicht könnte jeder von uns dichten oder komponieren, wenn er so etwas Herrliches erleben würde, wie Jan Öster.“ „Er ist sicher ein großer Künstler, denn er drängt sich beim Hochzeitszug nicht vor.“ Sie lieben und bewundern Jan Öster sehr.

Wirkliche Antipathie mit Verachtung gemischt erweckt dagegen der schöne, strahlende, siegreiche Bräutigam des Flaumvögelchens, wie er sich immer deutlicher als eitler Egoist entpuppt. Sie hören seine Reden mit jenem verächtlichen Lächeln an, das tötet. „Ich hätte ihn schon zu Anfang aus der Chaise geworfen.“ „Den Onkel betrachtet er als ,Geldbrunnen', das Flaumvögelchen behandelt er, wie unvernünftige Leute ihre Kinder: von oben herab.“ „Er liebt Annemarie nur wegen des Eindrucks, den er auf sie macht, denn ich glaube nicht, daß ein Mensch von seinem Charakter jemanden anderen liebt als sich selbst.“ „Ich glaube, ihm ist es besonders angenehm, daß sie so arm ist, daß er ihr recht eine Gnade erweisen kann.“ „Mir war es gleich verdächtig, wie er nur immer verständig zu seiner Braut gesprochen hat.“ „Er ist unausstehlich. Immer weiß er alles besser, immer hat er recht. Trotz seiner Korrektheit und Eleganz ist er unfein, und wenn ihn das Flaumvögelchen einen Schurken nennt, ist man ordentlich erleichtert.“ „Er wird sich nicht lang kränken, sondern ein reiches Fräulein aus ,guter Familie' heiraten. Sie werden sich immer gegenseitig anprotzen. Er wird auch Kinder haben. Aber ich möchte ihn nicht heiraten und auch nicht sein Kind sein.“ „Wenn Annemarie ihn genommen hätte, so wäre das Gute in ihr erstickt und sie wäre früh alt geworden.“ „Man ist so glücklich, wenn Annemarie dem Onkel in seine guten Arme fällt.“ „Ich hätte es der Dichterin nie verziehen, wenn die Geschichte anders ausgegangen wäre“, beteuert eines leidenschaftlich. Und das glaube ich gern. Denn Onkel Theodor erfreut sich der tiefsten Sympathien der ganzen Klasse. Seine Ritterlichkeit, seine Selbstbeherrschung, die lachenden braunen Augen, das feine Verständnis für das zarte Flaumvögelchen, das so verschieden von ihm ist und doch „so gut zu ihm gehört“. Sie nennen ihn einen „prächtigen Menschen“, freuen sich über seine tiefen Kenntnisse in Nösselts „Weltgeschichte für junge Mädchen“, triumphieren ein wenig über den eingefleischten alten Junggesellen, den ein kleines Mädchen bekehrt, wandeln trauernd mit ihm durch die Nacht der Versuchung und sehen verzweifelt aus, als er am Morgen merkt, daß es nicht sein Garten ist, der zerstört wurde, sondern sein Herz. Nur ein männliches Wesen gibt es bei Selma Lagerlöf, das von den Mädchen mehr geliebt wird als Onkel Theodor: das ist Erland Erlandson, Gudmunds Vater aus dem „Mädchen vom Moorhof“, von dem es heißt: „Und er war ein kleines trockenes Männchen, mit kahlem Scheitel und klugen, braunen Augen. Er war so verschlossen und schweigsam, daß er zuweilen den ganzen Tag kein Wort sprach. Solange alles ging, wie es gehen sollte, bemerkte man ihn gar nicht. Aber wenn etwas nicht klappte, dann kam er immer und sagte und tat, was gesagt und getan werden mußte, um alles wieder in Ordnung zu bringen.“

Die Christuslegenden haben sie ganz besonders gern. „Vielleicht,“ schreibt eines, „weil es so furchtbar festlich war, als sie vorgelesen wurden. Es war am letzten Tag, den wir vor Weihnachten in die Schule gegangen sind. Und da haben wir unsere Klasse dekoriert mit Tannenzweigen und Christbäumerl, und wie unsere Lehrerin in die Klasse gekommen ist, haben wir zuerst Weihnachtslieder gesungen und dann hat sie uns die ‚Christuslegenden‘ wunderschön vorgelesen und die Kerzen haben gebrannt und geflackert und die Silbergirlanden haben geblinkt und wir waren riesig feierlich gestimmt und sehr, sehr glücklich.“

Bis auf einen achtjährigen Knaben, der energisch erklärte, Räubergeschichten seien ihm viel lieber, sind alle Kinder der schwedischen Dichterin ergeben. Eine Verehrerin äußert sich temperamentvoll und kampflustig: „Kindern muß die Lagerlöf gefallen. Ich möchte Kinder verachten, die nicht für sie begeistert sind, aber ich kenne keine.“ Und selbst eine leider besonders besonnene und reservierte kleine Gesellschaftsdame gesteht: „Man kann an Selma Lagerlöf wirklich nichts aussetzen. Man könnte sich wünschen, lauter so gute Schriftsteller zu haben.“ Viel hat das Lob der Ungarin, der ihre Heimat über alles geht, zu besagen: „Die Geschichten der Lagerlöf sind die schönsten, die ich kenne; sie gleichen den ungarischen Volkssagen, haben aber noch mehr Kraft und sind viel feiner.“ Danach werden wir es nicht als triviale Ausflucht, sondern als buchstäblichen Ernst empfinden, wenn ein Kind einfach schreibt: „Ich brauche gar nicht lange nachzudenken, was mir gefallen hat, mir hat alles gefallen. Nur was mir besonders gefallen hat, mir hat alles besonders gefallen.“ –

Was wir in diesem Frühling gehört haben, werden wir im Sommer alles noch im Ohr tragen, besonders die Hymne auf das tätige, zielbewußte Leben. „O du schönes Leben! Ich danke dir, daß ich ohne Angst und Furcht genießen kann. Wohl weiß ich, daß Spinnen lauern und Käfer stehlen, doch mein ist die fröhliche Arbeit und die mutige Sorglosigkeit, O du schönes Leben, du herrliches Dasein.“

So werden die Kinder denken, wenn sie in Ferienruhe und Sommerglück auf der Wiese liegen, durch den Wald gehen oder auf Bergeshöhen stehen.

Der Dichterin aber dringe der leise Lobgesang aus Kindermund in ihren Sommerfrieden. Er wird ihr sicher Freude machen. Denn was ist lieblicher für die Großen, als wenn sich junges Volk auf die Zehenspitzen hebt, um ihnen Rosenkränze auf die silbernen Scheitel zu drücken und dazu feierlich lobende Worte zu sprechen, wie jene, mit denen einer der Kinderaufsätze schloß: „Selma Lagerlöf darf überall den Hochzeitsmarsch anstimmen; denn besser als sie kann es niemand.“

 

Juni 1912.

Eugenie Schwarzwald.