BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Eugenie Schwarzwald

1872 - 1940

 

Gottfried Keller in der Schule

 

1912

 

Quelle:

in: Jahresbericht 1912 des Mädchen-Lyzeums, Wien

Österreichische Nationalbibliothek

Textversion: Irmgard Bock

 

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Gottfried Keller in der Schule.

 

Wenn mir das Leben einmal gar nicht gefallen will und mich schon gar nichts mehr freut, dann gehe ich in eine Klasse und lese meinen Kindern vor.

Das ist ein ganz ausgezeichnetes Mittel gegen Lebensunlust und Menschenverachtung: Kinder mit einem reinen Kunstwerk bekannt machen. Als man Kellers Rechtsgelehrten Brandolf nach dem Grund seiner Heiterkeit fragt, antwortet er: „Ei, meine Katze hat Junge und als ich heut' eines der Tierchen in die Hand nahm, gingen ihm in demselben Augenblicke die Äuglein auf und ich sah mit ihm die Welt zum ersten Mal“. So, ganz so ist mir zumute, wenn ich mit Kindern in die „Zauberflöte“ gehe, Schubertlieder singe oder Goethegedichte lese.

Also, ich lese sozusagen zu meinem eigenen Vergnügen vor. Je nach Stimmung und Alter der Klasse, Andersen oder Storm, Meyer oder Mörike, Ebner-Eschenbach oder Fontane, Selma Lagerlöf oder wissenschaftliche Prosa.

Am häufigsten aber komme ich mit einem abgegriffenen braunen Leinenband, und wenn meine Mädchen den sehen, so lächeln sie verständnisinnig. Aber nicht kritisch. Sie konstatieren nur mit wohlwollender Neckerei eine kleine Schwäche ihrer Lehrerin für einen bestimmten Menschen. In diesem Augenblick stehen sie, noch ehe ich zu lesen begonnen habe, schon unter Kellerschem Einfluß, der es ja so gut verstanden hat, die Schwächen seiner Geschöpfe so bloßzulegen, daß man über sie lächeln kann, ohne die Achtung vor ihnen zu verlieren.

Ich fange zu lesen an und die enge Schulstube weitet sich zur freien Welt, heitere Wonne breitet sich über alle, jeder Druck entweicht, und auf den klaren Mädchengesichtern, die Gesellschaftsmaske und Puder noch nicht unleserlich gemacht haben, sind nun wunderschöne Dinge zu sehen. Vor allem verstehen sie alles, auch das, was sie in ihrem Alter noch gar nicht verstehen können. Wie durch einen Zauber. Sie denken in solchen Stunden mit dem Herzen und auf diesem Wege ist einer Frau eben alles beizubringen. Begeisterung lese ich und Abscheu, Rührung und Zorn, behagliche Heiterkeit und vor allem Vorsätze, den Frauen nachzuleben, die Keller so liebevoll schildert: den Tüchtigen, Heiteren, Guten, Liebenden, Fleißigen, Herzhaften. Sie alle fühlen die Kraft, so zu werden, in sich. Den jungen Wienerinnen muß ja auch Kellers Frauenideal erreichbar scheinen, denn ihnen hat die Natur viele von den Gaben verliehen, mit denen Keller seine Frauen schmückt. Auch sie sind keine Stubenhocker, sondern Freiluftmenschen, auch sie haben Naturverstand, Mutterwitz, Lebenstüchtigkeit, Gefühl ohne Sentimentalität und jene Wiederherstellbarkeit an Leib und Seele, die Keller seiner „Ursula“ nachrühmt: „aber sie war wie ein gesegnetes Fleckchen Erde, das alsobald wieder ergrünt, sobald nur ein Sonnenblick und ein Tau darauffällt.“ Und wienerisch ist auch der Abscheu vor vorlauten vermännlichten Geschöpfen, die Keller mit seinem besten Haß bedenkt wegen „der Wut, mit der sie sich die Attribute des anderen Geschlechts aneignen“.

Keller ist tief überzeugt, daß die Frauen der Natur näher stehen und daher besser sein müßten als die Männer. Darum ergreift ihn tiefer Abscheu vor jeder schlechten Frau, während er die schlechten Männer eher als Schwächlinge empfindet. Aber die Frau! Die ist gefährlich! Sie hat das gute Prinzip zu sein. Wehe der Gesellschaft, in der die Frau nicht etwas Gutes zu sagen und zu tun hat. Frauen, die statt aufzubauen, zerstören, nennt er „die Parzen“ weil sie jeder Sache, deren sie sich annehmen, zuletzt den Lebensfaden abschneiden. Es ist auch bezeichnend für Keller, daß er den Quell der Verleumdung, die ein Gemeinwesen überflutet, auf eine Unholdin zurückführt, eine unzufriedene boshafte alte Kreatur, das Ölweib. Die Todsünden, die er der Frau vor allem vorhält, sind die Sucht zu klatschen und zu verleumden, schnöde Herz- und Gefühllosigkeit, verlogene Kunst- und Literaturprotzerei und jene Salonkoketterie, die unter dem harmlosen Namen „Flirt“ ein so wichtiges Lebensmittel, wie die Liebe, fälscht. Wollen wir es kurz sagen: Kellers ganze Antipathie wendet sich gegen jenes leere, nichtige, geputzte, arbeitsscheue Geschöpf, jenen Typus der „Dame“, den schon Schopenhauer in seine halt- und gehaltlosen Bestandteile aufgelöst hat. Diesem Typus begegnen auch die Kinder mit leidenschaftlicher Ablehnung. Ganz entsetzt aber sind sie, wenn die eitle schwatzhafte Züs Bünzlin sich drei Bewerber zugleich warm hält, weil es ihr schmeichelt, einen ganzen Hofstaat ehrbarer Kammacher um sich zu sehen, während sie doch fest entschlossen ist, nur den zu heiraten, der in die Ehe das Kammachergeschäft mitbringt. Eine, die längst aus der Schule ist, hat mir letzthin gestanden, in ihren Beziehungen zum anderen Geschlecht habe ihr Züs immer als warnendes Beispiel vorgeschwebt. Andern macht einen tieferen Eindruck die törichte Jungfrau, weil die ihnen in ihren Kreisen häufiger begegnet. Keller schildert diese so: „Die innere Schöne oder vermeintliche Weisheit des Mädchens dagegen erwies sich als ein arger Schein; sie hat zwar jetzt noch ein so schlagfertiges Redewerk, als es sich nur wünschen läßt, allein es steckt eitel Torheit und Finsternis dahinter. Nicht nur wurde sie von den Eltern niemals dazu angehalten, etwas zu lernen und in ihre Seele hineinzutun, sondern sie empfand auch selber nicht den kleinsten Antrieb und blieb zu rechten Dingen so dumm, daß sie kaum mühselig schreiben lernte, und man sagt, daß ihr sogar das Lesen ziemlich schwer falle. Aber auch in Hinsicht des natürlichen Verstandes, an irgend einem Verstehen des Erheblichen und Besseren im menschlichen Leben fehlte es ihr so sehr, daß sie als ein vollständiges Schaf in der dunkelsten Gemütslage verharrte, indessen sie doch durch ihre Zungenkünste in lächerlichen Dingen und durch eine große Gewandtheit in Kindereien stets den Ruf eines durchtrieben klugen Wesens behielt. Doch nur in zahlreicher Umgebung, wo die Leute kamen und gingen, und es auf kein Stichhalten auslief, bewährte sich ihre Weisheit, sobald sie mit einer halbwegs verständigen Person allein war, so dauerte die Herrlichkeit keine Stunde und sie geriet aufs Trockene. Dennoch hielt sie sich für einen Ausbund, strebte von jeher nach großen Dingen, worunter sie natürlich vor allem das Einfangen eines recht glänzenden jungen Herrn verstand. Da sie aber, wie gesagt, nur im großen Haufen ihre Stärke fand, so wollte es ihr nicht gelingen, ein einzelnes Verhältnis abzusondern und ordentlich auf ein Spülchen zu wickeln.“

So eine Charakteristik gibt den jungen Mädchen zu denken, ebenso wie die Geschichte von der übereifrigen und ungeduldigen Mutter Zendelwald, deren tragisches Schicksal Keller in die wenigen Worte zusammenfaßt: „In ihrer Jugend hatte sie so bald als möglich an den Mann zu kommen gesucht und mehrere Gelegenheiten so schnell und eifrig überhetzt, daß sie in der Eile gerade die schlechteste Wahl traf, in der Person eines unbedachten und tollkühnen Gesellen, der sein Erbe durchjagte, einen frühzeitigen Tod fand und ihr nichts als ein langes Witwentum, Armut und einen Sohn hinterließ, der sich nicht rühren wollte, das Glück zu erhaschen.“

Immer stehen die Kinder auf der Seite der Gerechtigkeit; so herrscht Jubel in der Klasse, wenn die falsche Züs Bünzlin den schönen Liebesbrief nicht zu sehen bekommt, den ihr, von Tränen benetzt, ein Verehrer geschrieben hat, „in so hübschen und unbefangenen Worten, wie sie nur das wahre Gefühl findet, das sich in eine Vexiergasse verrannt hat“. Jenen feinen, jungen Menschen hat sie übrigens nie kennen gelernt, weil sie ihn nie hat zu Worte kommen lassen. Nun, da er fort ist, nennt sie ihn in der Erinnerung Emanuel, während er in Wirklichkeit den zu ihm passenden schlichten Namen Veit getragen hat.

Strenge sitzt die Jugend auch zu Gericht über die berechnende Kokette Lydia und atmet hörbar erleichtert auf, wenn der naive Pankraz, ihr falsches Spiel endlich durchschauend, ausruft: „O Fräulein, Sie sind ja der größte Esel, den ich je gesehen habe!“

Das gemeinsame Grundvergehen dieser Frauen ist der Mangel an Liebe. Nicht etwa, daß nach Kellers Meinung die Liebe einen sehr großen Raum im Leben des Menschen einnehmen sollte; aber eben weil sie sich nicht breit machen dürfe, meint er, sie müsse umsomehr in die Tiefe gehen. Nur einmal sollte die Frau als ein geradeaus gerichtetes Fahrzeug ihren Anker auswerfen, aber dann in eine unergründliche Tiefe.

Lieblosigkeit, als ein Vergehen gegen die Natur, muß bestraft werden, wie es Kätter, Züs und Lydia widerfährt. Dagegen kann wahre Liebe Wunder wirken, wie beim selbstzufriedenen und eitlen Nettchen, das auf diesem Wege eine Persönlichkeit wird. Hier muß ich bemerken, weshalb sich Kellers Heldinnen so besonders gut als Vorbilder für das Leben gebrauchen lassen: eben weil sie keine Heldinnen sind. Das junge Mädchen denkt: Niemals kann ich so werden wie Iphigenie, Imogen oder Hermione. Das ist ja ganz hoffnungslos und lohnt keine Anstrengung. Aber Nettchen! Was die kann, kann ich erst recht.

Denn zu Anfang imponiert sie den Kindern gar nicht. Eine geputzte, etwas geschwätzige, kleinstädtische Schönheit tritt sie uns entgegen. Wir hören von einer Hand, die von 3 oder 4 Armbändern klirrt, von einem abenteuerlich reizend frisierten Kopf. Sie findet das National-Polentum des vermeintlichen Grafen bezaubernd und hat als Kind nur einen Italiener oder Polen, einen großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen Locken heiraten wollen. Aber dann kommt das Schicksal und trifft sie dort, wo sie am empfindlichsten ist: in ihrem Hochmut, in ihrer Eitelkeit. In solche Versuchungen liebt Keller seine Gestalten zu bringen. Siegreich geht sie daraus hervor, denn sie hat den besten Erzieher gehabt: ein großes Gefühl. „Keine Romane mehr“, ruft sie ihrem verträumten Bräutigam zu, „wie du bist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum Trotz dein Weib sein. Wir wollen nach Seldwyla gehn und durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen.“ – „So“, sagt in echt germanischer Spruchfreude Keller, „feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein Schicksal auf sich nahm und Treue hielt.“

Sie führt auch alles zu einem guten Ende. Das ist nach Keller die Aufgabe der Frau in der Ehe und schon bei der Verlobung muß sie sich dessen bewußt sein. So sagt das Bürgermädchen Hermine zu ihrem Bräutigam im feierlichen Moment der Verlobung: „Nun muß es aber recht hergehen bei uns! Mögen wir so lange leben, als wir brav und tüchtig sind und nicht einen Tag länger!“ Fides aber, die adelige Braut des Sängers Hadlaub, legt zum Verlöbnis ihre Hand auf das Herz des Mannes und verkündet: „Hier will ich nun mein wahres Lehen aus Gottes Hand empfangen, hier meine sichere Burg und Heimat bauen und in Ehren wohnen!“ Jede spricht die Sprache ihres Standes und ihrer Zeit, beide aber aus dem gleichen Urquell unbeirrbarer, instinktbegabter Weiblichkeit.

Derart bringt Keller den jungen Menschen auch eine wunderbare Vorstellung von der Ehe bei. Das ist sehr notwendig in unserer Zeit, in der die Jugend immer sehender wird und das, was sie zu sehen bekommt, immer weniger erquicklich. Eine zarte und sonst sehr zurückhaltende Fünfzehnjährige sagte mir einmal: „wie kommt das nur, so oft bei Keller Leute Hochzeit halten, möchte man am liebsten auch gleich heiraten.“ Ja, das glaube ich. Ob Grittli unter blühenden Bäumen eine fröhliche Hochzeit hält oder es von der armen Baronin heißt: „es sollte auch von einer Hochzeitsreise nicht die Rede sein, sondern das eheliche Leben gleich im Anfange in das Arbeitsgeräusch und den bacchischen Tumult des Herbstes untertauchen“, ob Bertrade und Zendelwald zärtlich im Heimatschlößchen horsten oder von der gelehrten heiligen Eugenia erzählt wird, sie sei, nachdem sie das Wesen der Ehe „genugsam erkundet“ habe, erst recht eine berühmte Glaubensheldin geworden, immer fühlen sich die Mädchen festlich gestimmt und in ihre kindliche Vorstellung gräbt sich das Bild einer edlen Gemeinschaft in Freuden und Ehren für alle Zeiten ein. So jung sie sind, sie ahnen doch den Zauber einer glückhaften Ehe, die nach Keller ein fortwährendes Meerwunder ist und eigentlich die allerdurchtriebenste Hexerei in sich birgt.

Jede nimmt sich – wenigstens im Augenblick – fest vor, eine Frau zu werden wie Lux, deren Gatte Ursache hat, die Zeit, da er sie noch nicht gekannt hat, ante lucem (vor Tagesanbruch) zu nennen, eine Frau, wie Kellers Katzenmann Spiegel sie zeichnet: zutulich von Sitten, treu von Herzen, sparsam im Verwalten, aber verschwenderisch in der Pflege ihres Mannes, kurzweilig in Worten, einschmeichelnd in ihren Handlungen!

Auch die Mutterliebe tritt in herrlichen und doch erreichbaren Formen in den Gesichtskreis der jungen Zuhörerinnen: die wunderbare Frau Salander, glänzt sie nicht wie ein Kleinod, Mann und Kinder vielfach überstrahlend, doch bescheiden und immer – ohne viel Worte – dort, wo das Rechte ist! Zu großartigen Dimensionen erhebt sich die von ihrem Manne verlassene Frau Regula Amrain, die nur durch Arbeit, Entsagung und Beispiel ihre Kinder, insbesondere ihren Lieblingssohn, zu wahren Menschen erzieht. Sogar die gedrückte, unglückliche Mutter, die die Katter Ambach gar so schlecht erzogen hat, weiß er mit einem Satze unserem Herzen näher zu bringen. Die Verlobung der Tochter scheint Keller und uns mit ihm eine schiefe und häßliche Sache. Aber die Mutter ist glücklich darüber. „So ist“, sagt Keller, „jedes Unwesen noch mit einem goldenen Bändchen an die Menschlichkeit gebunden.“ Selbst die schuldige Mutter Weidelich, die ihre Kinder verdorben und verzogen hat, läßt er im Unglück sich erheben, so daß wir ihre Schuld vergessen. Alles, was eine Mutter in Verstand oder Unverstand für ihre Kinder tut – alles versteht Keller. Das ist übrigens so modern an ihm, daß die Frau, die ein wahrhaft menschliches Leben führt, nie bei ihm zum alten Weibe herabgewürdigt wird. Er ist vielmehr gegen liebenswerte alte Frauen der zartesten Ehrerbietung voll.

Die Julisonne scheint auf meinen Schreibtisch und erwärmt mein Herz so wie Kellers Kunst an Wintertagen tut. Und da fällt mir noch ein, wie süß er Frauenreife zu schildern versteht, im Bilde der Hausfrau. Betroffen lauschen die Mädchen, die sonst leider für dergleichen Tätigkeit nicht leicht zu entflammen sind, dem Lob der „Armen Baronin“: „es sei, wie wenn sie eine Schar Wichtelmännchen im Dienste hätte, so glatt und gut geordnet gehe seit ihrer Ankunft alles von statten; ein wahrer Segen liege in ihren Händen und rührend sei ihre sichtbare stille Freude über die Fülle und Sicherheit, in welcher sie sich bewegen könne und zweckmäßig zu walten berufen sei. Von früh bis spät freue sie sich der Bewegung, aber ohne alles Geräusch, und lieblich sei es, wenn sie sich hinwieder eine Stunde der Ruhe überlasse, fast mehr wie um nicht bemerklich zu sein und anderen auch Erholung zu gönnen, als wie um selbst zu ruhen.“

Ebenso liebevoll wie mit den Alten geht Keller mit den Kindern um und deshalb gehen einer guten Mädchennatur auch die Kinderschilderungen Kellers sehr zu Herzen. Die Geschichte vom kleinen, zu Tode gequälten Meretlein, die lieblichen Kinderspiele in „Romeo und Julia auf dem Dorf“, die Schulerfahrungen des grünen Heinrich werden mit besonderem Anteil aufgenommen. Und schon regt sich auch der Erzieherdrang. Das zeigt sich bei pädagogischen Stellen, im grünen Heinrich und in Frau Regula. Wenn es da heißt: „denn sie (Frau Regula) erzog eigentlich so wenig als möglich, und das Werk bestand fast lediglich darin, daß das junge Bäumchen, so von gleichem Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sich nach ihr richtete“, dann leuchten die hellen und dunklen Augen in feuriger Zustimmung.

Ricarda Huch sagt in ihrer Kellerbiographie: „Er, der so unwirsch über die sogenannte Frauenemanzipation brummte, hat in seinen Werken ein Frauenidealbild geschaffen, wie es die nach wahrer Freiheit strebenden Frauen wünschen mögen: die Frau, reich an weiblicher Süße und Herzensfülle wie an edlen Kräften des männlichen Geistes.“ In der Tat: Keller glaubt nicht an die geistige Minderwertigkeit der Frauen, vielmehr gesteht er ihnen alle Gaben zu, aber sie müssen die auch wirklich besitzen. Nur Überhebung, Wollen ohne Vermögen, männliches Gebaren und unästhetisch auftretende Rechthaberei sind ihm verhaßt. Er hat auch nichts gegen weibliche Künstlerschaft einzuwenden, lobt aber vorzüglich diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den schönen Künsten zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauengestalt genießen.

Alle Lieblinge Kellers, Lux, Figura, Frau Salander sind stark geistige, arbeitssame und tüchtige Frauen. Schönheit und zarte Güte rühren ihn zwar auch, wenn sie ganz ohne weitere Zutat auftreten, wie beim armen Vreneli, der Dienstmagd Regine, der kleinen Anna, die in aller Lieblichkeit so jung sterben muß, und der verlassenen Agnes, der er dies Trostlied singt; „Wohl selig sind, die in der Liebe leiden, und ihrer Augen teure Perlen kleiden die weißen Wangen mehr, als Morgentau die Lilienkelche auf der Sommerau.“

Er liebt sie alle wie ein Vater und trauert über unsere Gesellschaftsordnung, in der so zarte Wesen nicht gedeihen können. Jene Liebe aber, die als wichtigsten Bestandteil die Achtung hat, die empfindet er nur für die Frau von hellem Verstand, von Einsicht und Tatkraft. Sie darf sich selbständig betätigen, ihr gestattet er sogar Initiative bei der Gattenwahl. Diese Frauen allein haben auch jene Schönheit, die er am höchsten schätzt. Laura Marholm hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Frauen, um die sich Keller kümmert, alle die freie Luft und das helle Tageslicht müssen ertragen können. Keine Salonschönheit. Die ist ihm immer verdächtig. „Wenn ich an deine Schönheit glauben soll“, gibt er zu verstehen, „so laß dich bei der Arbeit sehen am unbarmherzigen Tage, ohne Schminke, ohne Korsett, ohne Stehkragen, ohne falsche Locken.“ Kann sie dann bestehen, dann bereitet ihr Keller ein bemerkenswertes Schicksal. Eine seiner feinsten Schönheiten schildert er so: „In diesem Gesichte gab es keine unklaren topographischen Verhältnisse, keine unbestimmten oder überflüssigen Räume, Flächen und Linien, alle Züge waren bestimmt, wenn auch noch so zart geprägt, wie in einem wohlvollendeten Metallguß, und alles beseelt von der eigensten, süßesten Persönlichkeit. Die Schönheit war hier von innen heraus ernsthaft, wahr und untrüglich, obgleich ein Zug ehrlicher Schalkhaftigkeit darin schlummerte, der des Glückes zu harren schien, um zu erwachen.“ Diese Frauen sind keine Lebensdilettantinnen, unerschrocken und wunderbar fest schreiten sie auf eigenen Füßen dem goldenen Licht entgegen, und Fräulein Lux sowohl als auch Frau Regula würde man sicher in Wien eine „riegelsame Person“ nennen. Sogar ihre Lektüre verrät ihren männlichen Geist: „Was ihm jedoch am meisten auffiel, war eine besondere kleine Büchersammlung, die auf einem Regale über dem Tische nah zur Hand und von der Besitzerin selbst gesammelt und hochgehalten war; denn in jedem Bande stand auf dem Titelblatte ihr Name und das Datum des Erwerbes geschrieben. Diese Bände enthielten durchweg die eigenen Lebensbeschreibungen oder Briefsammlungen vielerfahrener oder ausgezeichneter Leute. Obgleich die Bücherreihe nur ging, soweit das Gestelle nach der Länge des Tisches reichte, umfaßte sie doch viele Jahrhunderte, überall kein anderes als das eigene Wort der zur Ruhe gegangenen Lebensmeister oder Leidensschüler enthaltend. Von den Blättern des heiligen Augustinus bis zu Rousseau und Goethe fehlte keine der wesentlichen Bekenntnisfibeln, und neben dem wilden und prahlerischen Benvenuto Cellini duckte sich das fromme Jugendbüchlein Jung-Stillings. Arm in Arm rauschten und knisterten die Frau von Sevigné und der jüngere Plinius einher, hinterdrein wanderten die armen Schweizer Burschen Thomas Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann in Toggenburg, der eiserne Götz schritt klirrend vorüber, mit stillem Geisterschritt kam Dante, sein Buch vom neuen Leben in der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutherischen Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä rauchte und schwelte der Dreißigjährige Krieg.“

Bezeichnend für Keller aber ist, daß diese energische, wahrhaft fortschrittliche und wohlgelehrte Lux zugleich die einzige ist, die die mystische Forderung des alten Sinngedichts erfüllt:

Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?

Küss' eine weiße Galathee; sie wird errötend lachen.

Aus gleichem Holze ist seine Fides: „aus einem raschen und leidenschaftlichen Kinde war ein tief und stolz fühlendes und nicht minder klar sehendes und verständiges Wesen geworden, dessen Neigungen vorzüglich nach Recht und Ehre gingen“.

Ja, sie sind herrlich, Kellers Mädchen; rückhaltlos wie unschuldige Kinder, edel und stark wie Helden, unwandelbar und treu wie die Sterne des Himmels. Ganz ohne Schein, gut wie das tägliche Brot, frisch wie das Quellwasser und rein wie die Luft vom Berge, gleich fern von Prüderie wie von Frechheit; denn Keller liebt zwar die Tugend – „aber sie darf nicht als ein hausbackenes Handwerk betrieben werden“. – Mit unbeschreiblicher Freundlichkeit ruhen dann seine Augen auf seinen Geschöpfen, mit zarten Worten streichelt er die schimmernde, unirdische Erscheinung der Figura Leu: „Sie lebte nur vom Tanzen und Springen und von einer Unzahl Späße, die sie mit und ohne Zuschauer zum besten gab. Nur um die Zeit des Neumondes war sie etwas stiller; ihre Augen, in denen die Witze auf dem Grunde lagen, glichen dann einem bläulichen Wasser, in welchem die Silberfischchen unsichtbar sich unten halten und höchstens einmal emporschnellen, wenn etwa eine Mücke zu nahe an den Spiegel streift.“

Kein Wunder, daß alle meine Mädchen so sein, so leben, so lieben, arbeiten, heiraten, so erziehen wollen, wie Kellers Frauen! Sogar der Tod verliert für sie seine Schrecken, wenn Keller feierlich lobend von Frau Regula sagt: „Sie streckte sich, als sie starb, im Tode noch stolz aus, und noch nie ward ein so langer Frauensarg in die Kirche getragen und der eine so edle Leiche barg zu Seldwyla.“

Unzählige Stunden schönster Erhebung verdanken meine Schülerinnen und ich diesem wahren Frauenkenner, Frauenfreunde und Frauenerzieher. Jedesmal wirkt Kellers Wort auf die Jugend mit zwingender Gewalt. Wenn nur die Wirkung länger vorhielte! Wenn nur der gefühllose und plattgescheite Alltag nicht stärker wäre! Dann könnte vielleicht ein künftiger Frauenlob seine Anregungen in der Wirklichkeit finden und müßte sie nicht mehr allein aus seiner dichterischen Einbildungskraft schöpfen wie Keller, der mit milder Resignation sagt:

 

„Doch die lieblichste der Dichtersünden

Laßt nicht büßen mich, der sie gepflegt:

Süße Frauenbilder zu erfinden,

Wie die bittre Erde sie nicht hegt!“