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- D i e W e n d e
d e r P h i l o s p h i e
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Erstveröffentlichung:
«Erkenntis» 1 (1930), S. 4-11
Digitale Version:
Melitta Schabus
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- Von Zeit zu Zeit hat man Preisaufgaben über die Frage gestellt, welche
Fortschritte die Philosophie in einem bestimmten Zeitraume gemacht habe. Der
Zeitabschnitt pflegte auf der einen Seite durch den Namen eines großen
Denkers, auf der andern durch die «Gegenwart» abgegrenzt zu werden.
Man schien also vorauszusetzen, daß über die philosophischen
Fortschritte der Menschheit bis zu jenem Denker hin einigermaßen Klarheit
herrsche, daß es aber von da ab zweifelhaft sei, welche neuen
Errungenschaften die letzte Zeit hinzugefügt habe.
Aus solchen Fragen spricht deutlich ein Mißtrauen gegen die
Philosophie der jeweils jüngst vergangenen Zeit, und man hat den Eindruck,
als sei die gestellte Aufgabe nur eine verschämte Formulierung der Frage:
Hat denn die Philosophie in jenem Zeitraum
überhaupt irgendwelche Fortschritte gemacht? Denn wenn man sicher wäre,
daß Errungenschaften da sind, so wüßte man wohl auch, worin sie
bestehen.
Wenn die ältere Vergangenheit mit geringerer Zweifelsucht betrachtet
wird und wenn man eher geneigt ist, in ihrer Philosophie eine aufsteigende
Entwicklung anzuerkennen, so dürfte dies seinen Grund darin haben, daß
man allem, was schon historisch geworden ist, mit größerer Ehrfurcht
gegenübersteht; es kommt hinzu, daß die älteren Philosophien
wenigstens ihre historische Wirksamkeit bewiesen haben, daß man daher bei
ihrer Betrachtung ihre historische Bedeutung anstelle der sachlichen zugrunde
legen kann, und dies um so eher, als man oft zwischen beiden gar nicht zu
unterscheiden wagt.
Aber gerade die besten Köpfe unter den Denkern glaubten selten an
unerschütterliche, bleibende Ergebnisse des Philosophierens früherer
Zeiten und selbst klassischer Vorbilder; dies erhellt daraus, daß im
Grunde jedes neue System wieder ganz von vorn beginnt, daß jeder Denker
seinen eigenen festen Boden sucht und sich nicht auf die Schultern seiner Vorgänger
stellen mag. Descartes fühlt sich (nicht ohne Recht) durchaus als einen
Anfang; Spinoza glaubt mit der (freilich recht äußerlichen) Einführung
mathematischer Form die endgültige philosophische Methode gefunden zu
haben; und Kant war davon überzeugt, daß auf dem von ihm
eingeschlagenen Wege die Philosophie nun endlich den sichern Gang einer
Wissenschaft nehmen würde. Weitere Beispiele sind billig, denn fast alle
großen Denker haben eine radikale Reform der Philosophie für
notwendig gehalten und selbst versucht.
Dieses eigentümliche Schicksal der Philosophie wurde so oft geschildert
und beklagt, daß es schon trivial ist, davon überhaupt zu reden, und
daß schweigende Skepsis und Resignation die einzige der Lage angemessene
Haltung zu sein scheint. Alle Versuche, dem Chaos der Systeme ein Ende zu machen
und das Schicksal der Philosophie zu wenden, können, so scheint eine
Erfahrung von mehr als zwei Jahrtausenden zu lehren, nicht mehr ernst genommen
werden. Der Hinweis darauf, daß der Mensch schließlich die hartnäckigsten
Probleme, etwa das des Dädalus, gelöst habe, gibt dem Kenner keinen
Trost, denn was er fürchtet, ist gerade, daß die Philosophie es
nie zu einem echten «Problem» bringen werde.
Ich gestatte mir diesen Hinweis auf die so oft geschilderte Anarchie der
philosophischen Meinungen, um keinen Zweifel darüber zu lassen, daß
ich ein volles Bewußtsein von der Tragweite und Inhaltsschwere der Überzeugung
habe, die ich nun aussprechen möchte. Ich bin nämlich überzeugt,
daß wir in einer durchaus endgültigen Wendung der Philosophie mitten
darin stehen und daß wir sachlich berechtigt sind, den unfruchtbaren
Streit der Systeme als beendigt anzusehen. Die Gegenwart ist, so behaupte ich,
bereits im Besitz der Mittel, die jeden derartigen Streit im Prinzip unnötig
machen; es kommt nur darauf an, sie entschlossen anzuwenden.
Diese Mittel sind in aller Stille, unbemerkt von der Mehrzahl der
philosophischen Lehrer und Schriftsteller, geschaffen worden, und so hat sich
eine Lage gebildet, die mit allen früheren unvergleichbar ist. Daß
die Lage wirklich einzigartig und die eingetretene Wendung wirklich endgültig
ist, kann nur eingesehen werden, indem man sich mit den neuen Wegen bekannt
macht und von dem Standpunkte, zu dem sie führen, auf alle die Bestrebungen
zurückschaut, die je als «philosophische» gegolten haben.
Die Wege gehen von der Logik aus. Ihren Anfang hat Leibniz
undeutlich gesehen, wichtige Strecken haben in den letzten Jahrzehnten Gottlob
Frege und Bertrand Russell erschlossen, bis zu der entscheidenden Wendung aber
ist zuerst Ludwig Wittgenstein (im «Tractatus logico-philosophicus»,
1922) vorgedrungen.
Bekanntlich haben die Mathematiker in den letzten Jahrzehnten neue logische
Methoden entwickelt, zunächst zur Lösung ihrer eigenen Probleme, die
sich mit Hilfe der überlieferten Formen der Logik nicht bewältigen ließen;
dann aber hat die so entstandene Logik (siehe den Artikel von Carnap in diesem
Heft) auch sonst ihre Überlegenheit über die alten Formen längst
bewiesen und wird diese zweifellos bald ganz verdrängt haben. Ist nun diese
Logik das große Mittel, von dem ich vorhin sagte, es sei imstande, uns im
Prinzip aller philosophischen Streitigkeiten zu entheben, liefert sie uns etwa
allgemeine Vorschriften, mit deren Hilfe alle traditionellen Fragen der
Philosophie wenigstens prinzipiell aufgelöst werden können?
Wäre dies der Fall, so hätte ich kaum das Recht gehabt zu sagen,
daß eine völlig neue Lage geschaffen sei, denn es würde dann nur
ein gradueller, gleichsam technischer Fortschritt erzielt sein, so wie etwa die
Erfindung des Benzinmotors schließlich die Lösung des Flugproblems
ermöglichte. So hoch aber auch der Wert der neuen Methode zu schätzen
ist: durch die bloße Ausbildung einer Methode kann niemals etwas so
Prinzipielles geleistet werden. Nicht ihr selbst ist daher die große
Wendung zu danken, sondern etwas ganz anderem, das durch sie wohl erst möglich
gemacht und angeregt wurde, aber in einer viel tieferen Schicht sich abspielt:
das ist die Einsicht in das Wesen des Logischen selber.
Daß das Logische in irgendeinem Sinne das rein Formale ist,
hat man früh und oft ausgesprochen; dennoch war man sich über das
Wesen der reinen Formen nicht wirklich klar gewesen. Der Weg zur Klarheit darüber
geht von der Tatsache aus, daß jede Erkenntnis ein Ausdruck, eine
Darstellung ist. Sie drückt nämlich den Tatbestand aus, der in ihr
erkannt wird, und dies kann auf beliebig viele Weisen, in beliebigen Sprachen,
durch beliebige willkürliche Zeichensysteme geschehen; alle diese möglichen
Darstellungsarten, wenn anders sie wirklich dieselbe Erkenntnis ausdrücken,
müssen eben deswegen etwas gemeinsam haben, und dies Gemeinsame ist ihre
logische Form.
So ist alle Erkenntnis nur vermöge ihrer Form Erkenntnis; durch sie
stellt sie die erkannten Sachverhalte dar, die Form selbst aber kann ihrerseits
nicht wieder dargestellt werden; auf sie allein kommt es bei der Erkenntnis an,
alles übrige daran ist unwesentlich und zufälliges Material des
Ausdrucks, nicht anders als etwa die Tinte, mit der wir einen Satz
niederschreiben.
Diese schlichte Einsicht hat Folgen von der allergrößten
Tragweite. Durch sie werden zunächst die traditionellen Probleme der «Erkenntnistheorie»
abgetan. An die Stelle von Untersuchungen des menschlichen «Erkenntnisvermögens»
tritt, soweit sie nicht der Psychologie überantwortet werden können,
die Besinnung über das Wesen des Ausdrucks, der Darstellung, d. h.
jeder möglichen «Sprache» im allgemeinsten Sinne des Worts. Die
Fragen nach der «Geltung und den Grenzen der Erkenntnis» fallen fort.
Erkennbar ist alles, was sich ausdrücken läßt, und das ist
alles, wonach man sinnvoll fragen kann. Es gibt daher keine prinzipiell
unbeantwortbaren Fragen, keine prinzipiell unlösbaren Probleme. Was man
bisher dafür gehalten hat, sind keine echten Fragen, sondern sinnlose
Aneinanderreihungen von Worten, die zwar äußerlich wie Fragen
aussehen, da sie den gewohnten Regeln der Grammatik zu genügen scheinen, in
Wahrheit aber aus leeren Lauten bestehen, weil sie gegen die tiefen inneren
Regeln der logischen Syntax verstoßen, welche die neue Analyse aufgedeckt
hat.
Wo immer ein sinnvolles Problem vorliegt, kann man theoretisch stets auch
den Weg angeben, der zu seiner Auflösung führt, denn es zeigt sich, daß
die Angabe dieses Weges im Grund mit der Aufzeigung des Sinnes zusammenfällt;
die praktische Beschreitung des Weges kann natürlich dabei durch tatsächliche
Umstände, z. B. mangelhafte menschliche Fähigkeiten, verhindert
sein. Der Akt der Verifikation, bei dem der Weg der Lösung schließlich
endet, ist immer von derselben Art: es ist das Auftreten eines bestimmten
Sachverhaltes, das durch Beobachtung, durch unmittelbares Erlebnis konstatiert
wird. Auf diese Weise wird in der Tat im Alltag wie in jeder Wissenschaft die
Wahrheit (oder Falschheit) jeder Aussage festgestellt. Es gibt also keine andere
Prüfung und Bestätigung von Wahrheiten als die durch Beobachtung und
Erfahrungswissenschaft. Jede Wissenschaft (sofern wir bei diesem Worte an den
Inhalt und nicht an die menschlichen Veranstaltungen zu seiner Gewinnung
denken) ist ein System von Erkenntnissen, d. h. von wahren Erfahrungssätzen;
und die Gesamtheit der Wissenschaften, mit Einschluß der Aussagen des täglichen
Lebens, ist das System der Erkenntnisse; es gibt nicht außerhalb
seiner noch ein Gebiet «philosophischer» Wahrheiten, die Philosophie
ist nicht ein System von Sätzen, sie ist keine Wissenschaft.
Was ist sie aber dann? Nun, zwar keine Wissenschaft, aber doch etwas so
Bedeutsames und Großes, daß sie auch fürder, wie einst, als die
Königin der Wissenschaften verehrt werden darf; denn es steht ja nirgends
geschrieben, daß die Königin der Wissenschaften selbst auch eine
Wissenschaft sein müßte. Wir erkennen jetzt in ihr - und damit ist
die große Wendung in der Gegenwart positiv gekennzeichnet - anstatt eines
Systems von Erkenntnissen ein System von Akten; sie ist nämlich
diejenige Tätigkeit, durch welche der Sinn der Aussagen festgestellt oder
aufgedeckt wird. Durch die Philosophie werden Sätze geklärt, durch die
Wissenschaften verifiziert. Bei diesen handelt es sich um die Wahrheit von
Aussagen, bei jener aber darum, was die Aussagen eigentlich meinen.
Inhalt, Seele und Geist der Wissenschaft stecken natürlich in dem, was mit
ihren Sätzen letzten Endes gemeint ist; die philosophische Tätigkeit
der Sinngebung ist daher das Alpha und Omega aller wissenschaftlichen
Erkenntnis. Dies hat man wohl richtig geahnt, wenn man sagte, die Philosophie
liefere sowohl die Grundlage wie den Abschluß des Gebäudes der
Wissenschaften; irrig war nur die Meinung, daß das Fundament von «philosophischen
Sätzen» gebildet werde (den Sätzen der Erkenntnistheorie), und daß
der Bau auch von einer Kuppel philosophischer Sätze (genannt Metaphysik)
gekrönt werde.
Daß die Arbeit der Philosophie nicht in der Aufstellung von Sätzen
besteht, daß also die Sinngebung von Aussagen nicht wiederum durch
Aussagen geschehen kann, ist leicht einzusehen. Denn wenn ich etwa die Bedeutung
meiner Worte durch Erläuterungssätze und Definitionen angebe, also mit
Hilfe neuer Worte, so muß man weiter nach der Bedeutung dieser andern
Worte fragen, und so fort. Dieser Prozeß kann nicht ins Unendliche gehen,
er findet sein Ende immer nur in tatsächlichen Aufweisungen, in
Vorzeigungen des Gemeinten, in wirklichen Akten also; nur diese sind keiner
weiteren Erläuterung fähig und bedürftig; die letzte Sinngebung
geschieht mithin stets durch Handlungen, sie machen die philosophische Tätigkeit
aus.
Es war einer der schwersten Irrtümer vergangener Zeiten, daß man
glaubte, den eigentlichen Sinn und letzten Inhalt wiederum durch Aussagen zu
formulieren, also in Erkenntnissen darstellen zu können: es war der Irrtum
der «Metaphysik». Das Streben der Metaphysiker war von jeher auf das
widersinnige Ziel gerichtet (vgl. meinen Aufsatz «Erleben, Erkennen,
Metaphysik», Kantstudien, Bd. 31, S. 146), den Inhalt reiner
Qualitäten (das «Wesen» der Dinge) durch Erkenntnisse auszudrücken,
also das Unsagbare zu sagen; Qualitäten lassen sich nicht sagen, sondern
nur im Erlebnis aufzeigen, Erkenntnis aber hat damit nichts zu schaffen.
So fällt die Metaphysik dahin, nicht weil die Lösung ihrer Aufgabe
ein Unterfangen wäre, dem die menschliche Vernunft nicht gewachsen ist (wie
etwa Kant meinte), sondern weil es diese Aufgabe gar nicht gibt. Mit der
Aufdeckung der falschen Fragestellung wird aber zugleich die Geschichte des
metaphysischen Streites verständlich.
Überhaupt muß unsere Auffassung, wenn sie richtig ist, sich auch
historisch legitimieren. Es muß sich zeigen, daß sie imstande ist,
von dem Bedeutungswandel des Wortes Philosophie einigermaßen Rechenschaft
zu geben.
Dies ist nun wirklich der Fall. Wenn im Altertum, und eigentlich bis in die
neuere Zeit hinein, Philosophie einfach identisch war mit jedweder rein
theoretischen wissenschaftlichen Forschung, so deutet das darauf hin, daß
die Wissenschaft sich eben in einem Stadium befand, in welchem sie ihre
Hauptaufgabe noch in der Klärung der eigenen Grundbegriffe sehen mußte;
und die Emanzipation der Einzelwissenschaften von ihrer gemeinsamen Mutter
Philosophie ist der Ausdruck davon, daß der Sinn gewisser Grundbegriffe
klar genug geworden war, um mit ihnen erfolgreich weiter arbeiten zu können.
Wenn ferner auch gegenwärtig noch z. B. Ethik und Ästhetik, ja
manchmal sogar Psychologie als Zweige der Philosophie gelten, so zeigen diese
Disziplinen damit, daß sie noch nicht über ausreichend klare
Grundbegriffe verfügen, daß vielmehr ihre Bemühungen noch hauptsächlich
auf den Sinn ihrer Sätze gerichtet sind. Und endlich: wenn sich mitten in
der fest konsolidierten Wissenschaft plötzlich an irgendeinem Punkte die
Notwendigkeit herausstellt, sich auf die wahre Bedeutung der fundamentalen
Begriffe von neuem zu besinnen, und dadurch eine tiefere Klärung des Sinnes
herbeigeführt wird, so wird diese Leistung sofort als eine eminent
philosophische gefühlt; alle sind darüber einig, daß z. B.
die Tat Einsteins, die von einer Analyse des Sinnes der Aussagen über Zeit
und Raum ausging, eben wirklich eine philosophische Tat war. Hier dürfen
wir noch hinzufügen, daß die ganz entscheidenden, epochemachenden
Fortschritte der Wissenschaft immer von dieser Art sind, daß sie eine Klärung
des Sinnes der fundamentalen Sätze bedeuten und daher nur solchen gelingen,
die zur philosophischen Tätigkeit begabt sind; das heißt: der große
Forscher ist immer auch Philosoph.
Daß häufig auch solche Geistestätigkeiten den Namen
Philosophie tragen, die nicht auf reine Erkenntnis, sondern auf Lebensführung
abzielen, erscheint gleichfalls leicht begreiflich, denn der Weise hebt sich von
der unverständigen Menge eben dadurch ab, daß er den Sinn der
Aussagen und Fragen über Lebensverhältnisse, über Tatsachen und Wünsche
klarer aufzuzeigen weiß als jene.
Die große Wendung der Philosophie bedeutet auch eine endgültige
Abwendung von gewissen Irrwegen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
eingeschlagen wurden und zu einer ganz verkehrten Einschätzung und Wertschätzung
der Philosophie führen mußten: ich meine die Versuche, ihr einen
induktiven Charakter zu vindizieren und daher zu glauben, daß sie aus
lauter Sätzen von hypothetischer Geltung bestehe. Der Gedanke, für
ihre Sätze nur Wahrscheinlichkeit in Anspruch zu nehmen, lag früheren
Denkern fern; sie hätten ihn als mit der Würde der Philosophie unverträglich
abgelehnt. Darin äußerte sich ein gesunder Instinkt dafür, daß
die Philosophie den allerletzten Halt des Wissens abzugeben hat. Nun müssen
wir freilich in ihrem entgegengesetzten Dogma, die Philosophie biete unbedingt
wahre apriorische Grundsätze dar, eine höchst unglückliche Äußerung
dieses Instinktes erblicken, zumal sie ja überhaupt nicht aus Sätzen
besteht; aber auch wir glauben an die Würde der Philosophie und halten den
Charakter des Unsicheren und bloß Wahrscheinlichen für unvereinbar
mit ihr, und freuen uns, daß die große Wendung es unmöglich
macht, ihr einen derartigen Charakter zuzuschreiben. Denn auf die sinngebenden
Akte, welche die Philosophie ausmachen, ist der Begriff der Wahrscheinlichkeit
oder Unsicherheit gar nicht anwendbar. Es handelt sich ja um Setzungen, die
allen Aussagen ihren Sinn als ein schlechthin Letztes geben. Entweder wir haben
diesen Sinn, dann wissen wir, was mit den Aussagen gemeint ist; oder wir haben
ihn nicht, dann stehen nur bedeutungsleere Worte vor uns und noch gar keine
Aussagen; es gibt kein drittes, und von Wahrscheinlichkeit der Geltung kann
keine Rede sein. So zeigt nach der großen Wendung die Philosophie ihren
Charakter der Endgültigkeit deutlicher als zuvor.
Nur vermöge dieses Charakters kann ja auch der Streit der Systeme
beendet werden. Ich wiederhole, daß wir ihn infolge der angedeuteten
Einsichten bereits heute als im Prinzip beendet ansehen dürfen, und ich
hoffe, daß dies auch auf den Seiten dieser Zeitschrift in ihrem neuen
Lebensabschnitt immer deutlicher sichtbar werden möge.
Gewiß wird es noch manches Nachhutgefecht geben, gewiß werden noch jahrhundertelang Viele in den gewohnten Bahnen weiterwandeln; philosophische Schriftsteller werden noch lange alte Scheinfragen diskutieren,
aber schließlich wird man ihnen nicht mehr zuhören und sie werden
Schauspielern gleichen, die noch eine Zeitlang fortspielen, bevor sie bemerken,
daß die Zuschauer sich allmählich fortgeschlichen haben. Dann wird es
nicht mehr nötig sein, über «philosophische Fragen» zu
sprechen, weil man über alle Fragen philosophisch sprechen wird, das heißt: sinnvoll und klar.
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