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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Moritz Schlick
1882 - 1936



 






 




Ü b e r   d a s   F u n d a m e n t
d e r   E r k e n n t n i s


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Erstveröffentlichung:
«Erkenntis» 4 (1934), S. 79-99

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I.
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Alle großen Versuche der Begründung einer Theorie des Erkennens entspringen aus der Frage nach der Sicherheit menschlichen Wissens, und diese Frage wiederum entspringt aus dem Wunsche nach absoluter Gewißheit der Erkenntnis.

      Die Einsicht, daß die Aussagen des täglichen Lebens und der Wissenschaft schließlich nur auf wahrscheinliche Geltung Anspruch machen können, daß auch die allgemeinsten in jeder Erfahrung bewährten Ergebnisse der Forschung nur den Charakter von Hypothesen haben, diese Einsicht hat die Philosophen seit Descartes, ja weniger deutlich schon seit dem Altertum, immer wieder angestachelt, eine unerschütterliche Grundlage zu suchen, die allem Zweifel entzogen ist und den festen Boden bildet, auf dem das schwankende Gebäude unseres Wissens sich erhebt. Die Unsicherheit des Gebäudes führte man meist darauf zurück, daß es unmöglich - vielleicht prinzipiell unmöglich - war, durch menschliche Denkkraft ein solideres aufzubauen, aber das hinderte nicht, nach dem natürlichen Felsen zu suchen, welcher vor allem Bauen da ist und selber nicht wankt.

      Dieses Suchen ist ein lobenswertes, gesundes Streben, und es ist auch bei «Relativisten» und «Skeptikern» wirksam, die sich seiner gerne schämen möchten. Es tritt in verschiedenen Formen auf und führt zu sonderbaren Meinungsverschiedenheiten. Die Frage nach den «Protokollsätzen», nach ihrer Funktion und Struktur ist die neueste Form, in welche die Philosophie oder vielmehr der entschiedene Empirismus unserer Tage, das Problem des letzten Wissensgrundes kleidet.

      Unter «Protokollsätzen» dachte man sich, wie der Name andeutet, ursprünglich jene Sätze, welche in absoluter Schlichtheit, ohne jede Formung, Veränderung oder Zutat die Tatsachen aussprechen, in deren Bearbeitung jede Wissenschaft besteht, und die jeder Behauptung über die Welt, jedem Wissen vorhergehen. Es hat keinen Sinn, von ungewissen Tatsachen zu sprechen, nur Aussagen, nur unser Wissen kann unsicher sein; und wenn es daher gelingt, die rohen Tatsachen völlig rein in «Protokollsätzen» wiederzugeben, so scheinen diese die absolut unzweifelhaften Ausgangspunkte aller Erkenntnis zu sein. Sie werden zwar in dem Augenblick wieder verlassen, in dem man zu Sätzen übergeht, die im Leben oder in der Wissenschaft wirklich brauchbar sind (ein solcher Ubergang scheint der von «singulären» zu «allgemeinen» Aussagen zu sein), aber sie bilden immerhin den festen Untergrund, welchem alle unsere Erkenntnisse alles verdanken, was sie an Geltung noch besitzen mögen.

      Es ist dabei gleichgültig, ob diese sog. Protokollsätze jemals wirklich protokolliert, also tatsächlich ausgesprochen, aufgeschrieben oder auch nur explizite «gedacht» werden, nur darauf kommt es an, daß man weiß, zu welchen Sätzen die wirklich gemachten Aufzeichnungen zurückführen, und daß diese jederzeit rekonstruierbar sind. Wenn ein Forscher z. B. notiert, «unter den und den Umständen steht der Zeiger auf 10.5», so weiß er, daß dies bedeutet: «zwei schwarze Striche fallen zusammen», und daß die Worte «unter den und den Umständen» (die wir uns hier aufgezählt denken) gleichfalls in bestimmte Protokollsätze aufzulösen sind, die er, wenn auch mit Mühe, so doch im Prinzip genau angeben könnte, wenn er wollte.

      Es ist klar und wird meines Wissens von keiner Seite bestritten, daß die Erkenntnis im Leben und in der Forschung in irgendeinem Sinne mit der Konstatierung von Tatsachen beginnt, und daß «Protokollsätze», in denen eben diese Konstatierung geschieht, in demselben Sinne am Anfang der Wissenschaft stehen. Welches ist dieser Sinn? Ist der «Beginn» im zeitlichen oder logischen Sinne zu verstehen?

      Hier finden wir schon manche Unklarheit und manches Schwanken. Wenn ich oben sagte, es komme nicht darauf an, ob die entscheidenden Sätze auch wirklich protokolliert oder ausgesprochen würden, so heißt dies offenbar, daß sie nicht zeitlich am Anfang zu stehen brauchen, sondern ebensogut nachgeholt werden können, wenn es erforderlich sein sollte. Und man wird es dann erforderlich finden, wenn man sich klar zu machen wünscht, was denn das tatsächlich Aufgeschriebene eigentlich bedeutet. Also wäre die Rede von Protokollsätzen logisch zu verstehen? Dann würden sie durch bestimmte logische Eigenschaften, durch ihre Struktur, ihre Stellung im System der Wissenschaft ausgezeichnet sein, und es entstünde die Aufgabe, nun eben diese Eigenschaften wirklich anzugeben. In der Tat ist dies die Form, in welcher z. B. Carnap früher das Problem der Protokollsätze ausdrücklich stellte, während er es später (Erkenntnis, Bd. 3, S. 216, 223) als eine durch willkürliche Festsetzung zu lösende Frage erklärte.

      Auf der andern Seite finden wir manche Ausführungen, die vorauszusetzen scheinen, daß man unter «Protokollsätzen» nur solche Aussagen verstehen will, die auch zeitlich den andern Behauptungen der Wissenschaft voraufgehen. Und geschieht das nicht mit Recht? Man muß doch bedenken, daß es sich um das letzte Fundament der Wirklichkeitserkenntnis handelt, und daß es dazu nicht genügen kann, die Sätze nur gleichsam als «ideale Gebilde» zu behandeln (wie man früher platonisierend zu sagen pflegte), sondern daß man sich um die realen Gelegenheiten, um die in der Zeit eintretenden Ereignisse kümmern muß, in denen das Fällen der Urteile besteht, also um die psychischen Akte des «Denkens», oder die physischen des «Sprechens» oder «Schreibens». Da die psychischen Urteilsakte erst dann geeignet erscheinen, zur Begründung der intersubjektiv gültigen Erkenntnis zu dienen, wenn sie in einen mündlichen oder schriftlichen Ausdruck (d. h. in ein physisches Zeichensystem) übersetzt sind, so kam man dazu, als «Protokollsätze» gewisse gesprochene, geschriebene oder gedruckte Sätze anzusehen, d. h. gewisse aus Lauten, aus Tinte oder Druckerschwärze bestehende Zeichenkomplexe, die, wenn man sie aus den üblichen Abkürzungen in die vollständige Sprechweise überträgt, etwa bedeuten würden:

      «Herr N.N. hat zu der und der Zeit an dem und dem Ort das und das beobachtet». (Diese Auffassung wurde besonders von O. Neurath vertreten.) In der Tat, wenn wir den Weg zurückverfolgen, auf dem wir realiter zu all unserem Wissen gelangt sind so stoßen wir zweifellos immer auf diese selben Quellen: gedruckte Sätze im Buche, Worte aus dem Munde des Lehrers, eigene Beobachtungen (im letzten Falle sind wir selbst der N.N.).

      Nach dieser Auffassung wären die Protokollsätze reale Vorkommnisse in der Welt und müssen den anderen realen Prozessen, in denen der «Aufbau der Wissenschaft» oder auch die Erzeugung des Wissens eines Individuums besteht, zeitlich vorangehen.

      Ich weiß nicht, inwiefern die hier gemachte Unterscheidung zwischen der logischen und der zeitlichen Priorität der Protokollsätze dem Unterschiede der von bestimmten Autoren tatsächlich vertretenen Auffassungen entspricht - aber darauf kommt es auch gar nicht an. Denn es handelt sich uns nicht darum, zu unterscheiden, wer das Richtige gesagt hat, sondern was das Richtige ist. Und dabei wird jene Unterscheidung der zwei Standpunkte gute Dienste leisten.

      De facto könnten beide Auffassungen sich miteinander vertragen, denn die Sätze, welche schlichte Beobachtungsdaten registrieren und zeitlich am Anfang stehen, könnten zugleich diejenigen sein, welche vermöge ihrer Struktur den logischen Beginn der Wissenschaft bilden müssen.


II.
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Die Frage, die uns zuerst interessieren soll, ist die: welcher Fortschritt ist dadurch erzielt, daß man das Problem der letzten Grundlegung der Erkenntnis mit Hilfe des Begriffs des Protokollsatzes formulierte? Die Beantwortung dieser Frage soll uns auf die Lösung des Problems selbst vorbereiten.

      Es scheint mir eine große Verbesserung der Methode zu bedeuten, daß man nicht nach den primären Tatsachen, sondern nach den primären Sätzen suchte, um zum Fundament der Erkenntnis zu gelangen. Aber mir scheint auch, daß man diesen Vorteil nicht recht zu nützen verstand, und vielleicht deshalb, weil man sich nicht recht bewußt war, daß es sich im Grunde doch um nichts anderes handelte, als jenes alte Problem des Fundamentes. Ich glaube nämlich, daß die Anschauung, zu der man durch die Betrachtungen über Protokollsätze gelangte, nicht haltbar ist. Sie laufen auf einen eigentümlichen Relativismus hinaus, der eine notwendige Folge der Auffassung zu sein scheint, welche die Protokollsätze als empirische Fakta ansieht, auf denen das Gebäude des Wissens in zeitlicher Entfaltung sich erhebt.

      Sowie man nämlich nach der Sicherheit fragt, mit der die Wahrheit der in dieser Weise aufgefaßten Protokollsätze behauptet werden kann, muß man eingestehen, daß sie allen möglichen Zweifeln ausgesetzt ist.

      Da steht in einem Buche so ein Satz, der z.B. besagt, daß N.N. an dem und dem Instrument die und die Beobachtung machte. Mag man, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind, zu diesem Satze auch das allergrößte Vertrauen hegen - niemals kann man ihn, und damit jene Beobachtung, für absolut gesichert halten. Denn die Möglichkeiten des Irrtums sind zahllos. N.N. kann versehentlich oder absichtlich etwas aufgezeichnet haben, was den beobachteten Tatbestand nicht richtig wiedergibt; es kann beim Abschreiben, beim Drucken ein Fehler unterlaufen sein, ja auch die Voraussetzung, daß die Schriftzeichen eines Buches auch nur eine Minute lang ihre Gestalt bewahren und sich nicht «von selbst» zu neuen Sätzen ordnen, ist eine empirische Hypothese, die als solche niemals streng zu verifizieren ist, denn jede Verifikation würde auf Annahmen der gleichen Art beruhen und der Voraussetzung, daß unsere Erinnerung uns wenigstens während kurzer Zeiten nicht täusche, usf.

      Dies heißt natürlich - und einige von unseren Autoren haben fast triumphierend darauf aufmerksam gemacht -, daß die so aufgefaßten Protokollsätze im Prinzip ganz genau denselben Charakter tragen wie alle übrigen Sätze der Wissenschaft auch: es sind Hypothesen, nichts als Hypothesen. Sie sind nichts weniger als unumstößlich, und man kann sie beim Aufbau des Erkenntnissystems nur so lange benützen, als sie durch andere Hypothesen gestützt oder wenigstens nicht widerlegt werden. Wir behalten uns also jederzeit vor, auch an den Protokollsätzen Korrekturen vorzunehmen, und solche Korrekturen finden auch häufig genug statt, wenn wir gewisse Protokollangaben ausschalten und nachträglich behaupten, daß sie durch irgendeinen Irrtum zustande gekommen sein müssen.

      Auch bei Sätzen, die wir selbst aufgestellt haben, schließen wir die Möglichkeit des Irrtums niemals prinzipiell aus. Wir geben zu, daß unser Geist in dem Augenblick, als er sein Urteil fällte, vielleicht vollkommen verwirrt war, und daß ein Erlebnis, von dem wir jetzt behaupten, es vor zwei Sekunden gehabt zu haben, bei nachträglicher Prüfung als eine Halluzination oder gar als überhaupt nicht vorgekommen erklärt werden könnte.

      So ist klar: die geschilderte Auffassung liefert demjenigen, der auf der Suche nach einem festen Fundament der Erkenntnis ist, in ihren «Protokollsätzen» etwas Derartiges nicht. Im Gegenteil, sie führt eigentlich nur dazu, den anfangs eingeführten Unterschied zwischen Protokoll- und anderen Sätzen nachträglich als bedeutungslos wieder aufzuheben. So verstehen wir, wie man zu der Meinung gelangte (K. Popper, zitiert bei Carnap, «Erkenntnis», Bd. 3, S. 223), man könne ganz beliebige Sätze der Wissenschaft herausgreifen und sie als «Protokollsätze» bezeichnen; und es hänge nur von Gründen der Zweckmätigkeit ab, welche man dazu wählen wolle.

      Aber könnten wir dies zugeben? Gibt es wirklich nur Zweckmäßigkeitsgründe? Kommt es nicht vielmehr darauf an, woher die einzelnen Sätze stammen, welches ihr Ursprung, ihre Geschichte ist? Was heißt hier überhaupt Zweckmäßigkeit? Welches ist denn der Zweck, den man mit der Aufstellung und Auswahl der Sätze verfolgt?

      Der Zweck kann kein anderer sein als der der Wissenschaft selbst, nämlich: eine wahre Darstellung der Tatsachen zu liefern. Für uns versteht es sich von selbst, daß das Problem des Fundamentes aller Erkenntnis nichts andres ist als die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit. Die Einführung des Terminus «Protokollsätze» geschah anfangs sicherlich in der Absicht, durch ihn gewisse Sätze auszuzeichnen, an deren Wahrheit dann die Wahrheit aller übrigen Aussagen wie an einem Maßstab gemessen werden sollte. Nach der beschriebenen Ansicht hätte sich nun dieser Maßstab als ebenso relativ herausgestellt, wie etwa alle Maßstäbe in der Physik. Und jene Ansicht mit ihren Folgerungen ist denn auch als Austreibung des letzten Restes von «Absolutismus» aus der Philosophie gepriesen worden (Carnap, a.a.O.,S.228).

      Was bleibt aber dann überhaupt als Kriterium der Wahrheit übrig? Da es sich nicht so verhalten soll, daß alle Aussagen der Wissenschaft sich nach ganz bestimmten Protokollsätzen richten müssen, sondern vielmehr so, daß alle Sätze sich nach allen richten sollen, wobei jeder einzelne als prinzipiell korrigierbar betrachtet wird, so kann die Wahrheit nur bestehen in der Übereinstimmung der Sätze untereinander.


III.
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Diese Lehre (die z.B. von O. Neurath in dem geschilderten Zusammenhang ausdrücklich formuliert und vertreten wird) ist aus der Geschichte der neueren Philosophie wohl bekannt. In England wird sie gewöhnlich als «coherence theory of truth» bezeichnet und der älteren «correspondence theory» gegenübergestellt (wobei zu bemerken wäre, daß der Ausdruck «Theorie» hier recht unangebracht ist, da Bemerkungen über die Natur der Wahrheit einen ganz anderen Charakter haben als wissenschaftliche Theorien, die immer aus einem System von Hypothesen bestehen).

      Der Gegensatz beider Ansichten wird meist so ausgesprochen daß nach der einen, traditionellen, die Wahrheit eines Satzes in seiner Übereinstimmung mit den Tatsachen bestehe, nach der anderen aber, der «Zusammenhangs»lehre, in seiner Ubereinstimmung mit dem System der übrigen Sätze.

      Ich will hier nicht allgemein untersuchen, ob die Formulierung der letzteren Lehre nicht auch so gedeutet werden kann, daß sie auf etwas ganz Richtiges aufmerksam macht (nämlich darauf, daß wir in einem ganz bestimmten Sinne «aus der Sprache nicht herauskönnen», wie sich Wittgenstein ausdrückt), hier habe ich vielmehr zu zeigen, daß sie in der Interpretation, die ihr in unserem Zusammenhange gegeben werden muß, gänzlich unhaltbar ist.

      Wenn die Wahrheit eines Satzes bestehen soll in seiner Kohärenz oder Übereinstimmung mit den anderen Sätzen, so muß man sich darüber klar sein, was man unter «Übereinstimmung» versteht, und welche Sätze mit den «anderen» gemeint sind.

      Der erste Punkt dürfte sich leicht erledigen lassen. Da nicht gemeint sein kann, daß die zu prüfende Aussage dasselbe behauptet wie die übrigen, so bleibt nur übrig, daß sie mit ihr nur verträglich sein muß, also daß kein Widerspruch zwischen ihr und ihnen besteht. Wahrheit würde also einfach in Widerspruchslosigkeit bestehen. Darüber aber, ob man Wahrheit mit Widerspruchsfreiheit schlechthin identifizieren könnte, sollte keine Diskussion mehr stattfinden. Es dürfte längst allgemein anerkannt sein, daß nur bei Sätzen tautologischen Charakters Widerspruchslosigkeit und Wahrheit (wenn man dieses Wort überhaupt anwenden will) gleichzusetzen sind, also z. B. bei Sätzen der reinen Geometrie. Bei dergleichen Sätzen aber ist jede Beziehung zur Wirklichkeit absichtlich gelöst, sie sind nur Formeln innerhalb eines festgelegten Kalküls; bei Aussagen der reinen Geometrie hat es keinen Sinn, zu fragen, ob sie mit den Tatsachen der Welt übereinstimmen oder nicht, sie müssen nur mit den willkürlich an die Spitze gestellten Axiomen verträglich sein (überdies fordert man üblicherweise noch, daß sie aus ihnen folgen), um wahr oder richtig zu heißen. Wir haben hier eben das \or uns, was man früher formale Wahrheit genannt und von der materialen Wahrheit unterschieden hat.

      Die letztere ist die Wahrheit der synthetischen Sätze, der Tatsachenaussagen, und wenn man sie mit Hilfe des Begriffs der Widerspruchslosigkeit, des Zusammenstimmens mit anderen Sätzen beschreiben will, so kann man das nur, indem man sagt, daß sie mit ganz bestimmten Aussagen nicht im Widerspruch stehen dürfen, nämlich eben jenen, welche «Tatsachen der unmittelbaren Beobachtung» aussprechen. Nicht Verträglichkeit mit irgendwelchen beliebigen Sätzen kann das Kriterium der Wahrheit sein, sondern Zusammenstimmen mit gewissen ausgezeichneten, in keiner Weise frei wählbaren Aussagen wird gefordert. Mit anderen Worten: das Kriterium der Widerspruchsfreiheit allein genügt durchaus nicht für die materiale Wahrheit, sondern es kommt ganz und gar auf die Verträglichkeit mit höchst besonderen eigentümlichen Aussagen an; und es steht nichts im Wege - ich halte es vielmehr durchaus für gerechtfertigt - , für diese Verträglichkeit den guten alten Ausdruck «Übereinstimmung mit der Wirklichkeit» zu gebrauchen.

      Der erstaunliche Irrtum der «coherence theory» ist nur dadurch zu erklären, daß man bei der Aufstellung und Erläuterung dieser Lehre immer nur an tatsächlich in der Wissenschaft auftretende Sätze dachte und nur sie als Beispiele heranzog. Da genügte dann tatsächlich der widerspruchsfreie Zusammenhang untereinander, aber nur deshalb, weil diese Sätze schon ganz bestimmter Art sind. Sie haben nämlich in gewissem (alsbald noch zu beschreibendem) Sinne ihren «Ursprung» in Beobachtungssätzen, sie stammen, wie man in der traditionellen Ausdrucksweise getrost sagen darf, «aus der Erfahrung».

      Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muß beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder die Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, daß nirgends ein Widerspruch auftritt. Ich kann eine grotesk abenteuerliche Welt mit Hilfe der Phantasie ausmalen: der Kohärenzphilosoph muß an die Wahrheit meiner Beschreibung glauben, wenn ich nur für die gegenseitige Verträglichkeit meiner Behauptungen sorge und zur Vorsicht noch jede Kollision mit der gewohnten Weltbeschreibung vermeide, indem ich den Schauplatz meiner Erzählung auf einen entfernten Stern verlege, wo keine Beobachtung mehr möglich ist. Ja, streng genommen habe ich jene Vorsicht gar nicht nötig, ich kann ebensogut verlangen, daß die anderen sich meiner Schilderung anzupassen haben, und nicht umgekehrt. Die anderen können dann nicht etwa einwenden, daß dies Verfahren den Beobachtungen widerstreite, denn nach der Kohärenzlehre kommt es auf irgendwelche «Beobachtungen» gar nicht an, sondern allein auf die Verträglichkeit der Aussagen.

      Da es keinem Menschen einfällt, die Sätze eines Märchenbuches für wahr, die eines Physikbuches für falsch zu halten, so ist die Kohärenzlehre völlig verfehlt. Es muß eben zu der Kohärenz noch etwas anderes hinzukommen, nämlich ein Prinzip, nach welchem die Verträglichkeit herzustellen ist, und dieses wäre dann erst das eigentliche Kriterium.

      Ist mir eine Menge von Aussagen gegeben, unter denen sich auch widersprechende befinden, so kann ich die Verträglichkeit ja auf verschiedene Weisen herstellen, indem ich z. B. das eine Mal gewisse Aussagen herausgreife und fallen lasse oder korrigiere, das andere Mal aber dasselbe mit denjenigen Aussagen tue, denen die ersten widersprechen.

      Damit zeigt sich die logische Unmöglichkeit der Kohärenzlehre; sie gibt überhaupt kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit, denn ich kann mit ihr zu beliebig vielen in sich widerspruchsfreien Satzsystemen gelangen, die aber unter sich unverträglich sind.

      Der Unsinn wird nur dadurch vermieden, daß man nicht die Weglassung oder Korrektur beliebiger Aussagen zuläßt, sondern vielmehr diejenigen angibt, welche aufrechtzuerhalten sind und nach denen die übrigen sich zu richten haben.


IV.
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Die Kohärenzlehre ist damit erledigt, und wir sind inzwischen schon längst bei dem zweiten Punkte unserer kritischen Überlegung angelangt, nämlich bei der Frage, ob alle Sätze korrigierbar sind, oder ob es auch solche gibt, an denen nicht gerüttelt werden kann. Diese letzten würden natürlich das «Fundament» aller Erkenntnis bilden, nach dem wir suchten, und dem wir bisher keinen Schritt näher gekommen sind.

      Nach welcher Vorschrift also sind die Sätze auszusuchen, die selbst unverändert bleiben und mit denen alle übrigen in Einklang gebracht werden müssen? Wir wollen sie im folgenden nicht «Protokollsätze», sondern «Fundamentalsätze» nennen, da es ja zweifelhaft ist, ob sie in den Protokollen der Wissenschaft überhaupt vorkommen.

      Das nächstliegende wäre zweifellos, die gesuchte Vorschrift in einer Art Ökonomieprinzip zu erblicken, nämlich zu sagen: als Fundamentalsätze sind diejenigen zu wählen, bei deren Festhaltung ein Minimum von Änderungen in dem ganzen Aussagensystem nötig ist, um es von allen Widersprüchen zu reinigen.

      Es verdient bemerkt zu werden, daß eine derartige Ökonomievorschrift nicht ganz bestimmte Aussagen ein für allemal als Fundamentalsätze festlegen würde, sondern es könnte geschehen, daß mit dem Fortschritt der Erkenntnis die Fundamentalsätze, die bis dahin als solche gedient haben, wieder degradiert werden, da es sich als mehr ökonomisch herausstellt, sie fallen zu lassen zugunsten neu aufgefundener Sätze, die von da an - bis auf weiteres - die Rolle des Fundamentes spielen. - Dies wäre also zwar nicht mehr der reine Kohärenz-, sondern ein Ökonomiestandpunkt, aber der «Relativismus» würde ihm ebenso gut eignen.

      Es scheint mir fraglos, daß die Vertreter der bisher kritisierten Ansicht in der Tat das Ökonomieprinzip als eigentlichen Leitfaden ansahen, ob nun ausdrücklich oder unausgesprochen, ich habe daher auch oben bereits angenommen, daß es bei der relativistischen Lehre Zweckmäßigkeitsgründe seien, die die Wahl der «Protokollsätze» entscheiden, und ich hatte gefragt: Können wir das zugeben?

      Ich beantworte diese Frage jetzt mit Nein! Es ist tatsächlich nicht die ökonomische Zweckmäßigkeit, sondern es sind ganz andere Eigenschaften, die die echten Fundamentalsätze auszeichnen.

      Das Verfahren der Wahl dieser Sätze wäre ökonomisch zu nennen, wenn es etwa in einer Anpassung an die Meinungen (oder «Protokollsätze») der Majorität der Forscher bestünde. Nun ist es allerdings so, daß wir ein Faktum, z. B. ein geographisches oder historisches, oder auch ein Naturgesetz, als unzweifelhaft bestehend hinnehmen, wenn wir an den für solche Berichte in Frage kommenden Stellen es sehr oft als bestehend erwähnt fanden. Es fällt uns dann gar nicht ein, es noch selbst nachprüfen zu wollen. Wir stimmen also dem allgemein Anerkannten bei. Aber dies erklärt sich dadurch, daß wir genaue Kenntnis davon haben, auf welche Art solche Tatsachenaussagen zustande zu kommen pflegen, und daß diese Art unser Vertrauen erweckt; nicht aber dadurch, daß es der Ansicht der Majorität entspricht. Im Gegenteil es konnte erst zur allgemeinen Anerkennung gelangen, weil jeder einzelne dasselbe Vertrauen fühlt. Ob und in welchem Maße wir eine Aussage für korrigierbar oder annullierbar erklären hängt ganz allein von ihrer Herkunft ab und (von ganz besonderen Fällen abgesehen) durchaus nicht lavon, ob ihre Beibehaltung eine Korrektur sehr vieler anderer Aussagen und vielleicht eine Umschichtung des ganzen Wissenssystems erfordert.

      Bevor man das Ökonomieprinzip anwenden kann, muß man wissen: auf welche Sätze denn? Und wenn das Prinzip die einzige entscheidende Vorschrift wäre, so könnte die Antwort nur lauten: nun, eben auf alle, die überhaupt mit dem Anspruch auf Geltung aufgestellt werden oder sogar je aufgestellt worden sind. Ja, eigentlich wär die Klausel «mit dem Anspruch auf Geltung» fortzulassen, denn wie sollen wir sie von den rein willkürlich aufgestellten, zum Spaß oder zur Irreführung erdachten unterscheiden? Diese Unterscheidung läßt sich schon gar nicht formulieren, ohne die Entstehung der Aussagen in Betracht zu ziehen. So sehen wir uns immer wieder auf die Frage nach ihrer Herkunft verwiesen. Ohne die Aussagen nach ihrer Herkunft klassifiziert zu haben, wäre jede Anwendung des ökonomischen Prinzips der Zusammenstimmung völlig absurd. Hat man aber die Sätze einmal auf ihren Ursprung untersucht, so bemerkt man alsbald, daß man sie damit bereits zugleich in eine Ordnung nach ihrer Geltung gebracht hat, und daß für eine Anwendung des Ökonomieprinzips gar kein Platz mehr ist (abgesehen von gewissen Sonderfällen an noch unabgeschlossenen Stellen der Wissenschaft), und daß jene Ordnung zugleich den Weg weist zu dem Fundament, das wir suchen.


V.
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Hier ist freilich die äußerste Vorsicht am Platze. Denn hier stoßen wir gerade auf den Weg, den man seit jeher verfolgte, so oft man die Reise nach den letzten Gründen der Wahrheit antrat. Und immer hat man das Ziel verfehlt. Bei jener Ordnung der Sätze nach ihrem Ursprung, die ich zum Zwecke der Beurteilung ihrer Gewißheit vornehme, stellen sich nämlich alsbald diejenigen an einen ausgezeichneten Platz, die ich selbst aufstelle. Und von diesen treten die in der Vergangenheit liegenden wieder weiter zurück, weil wir glauben, daß ihre Gewißheit durch «Erinnerungstäuschungen» beeinträchtigt sein kann - und zwar im allgemeinen um so mehr, ja weiter sie in der Zeit zurückliegen. Dagegen treten an die Spitze als allem Zweifel entrückt jene, die einen in der Gegenwart liegenden Tatbestand der eigenen «Wahrnehmung» oder des «Erlebens» (oder wie die Ausdrücke lauten mögen) ausdrücken. Und so einfach und klar dies zu sein scheint, so sind doch die Philosophen in ein hoffnungsloses Labyrinth geraten, sobald sie wirklich die Sätze der zuletzt erwähnten Art als Grundlage alles Wissens zu benutzen versuchten. Einige Vexiergänge dieses Labyrinths sind z. B. jene Formulierungen und Folgerungen, die unter den Namen «Evidenz der inneren Wahrnehmung», «Solipsismus», «Instantansolipsismus», «Selbstgewißheit des Bewußtseins» usw. im Mittelpunkte so vieler philosophischer Kämpfe gestanden haben. Der bekannteste Endpunkt, zu dem die Verfolgung des geschilderten Weges geführt hat, ist das Cartesische cogito ergo sum, zu dem ja auch Augustinus eigentlich schon vorgedrungen war. Und über das cogito ergo sum sind uns ja heute durch die Logik die Augen genugsam geöffnet worden: Wir wissen, daß es ein bloßer Scheinsatz ist, der auch dadurch nicht zu einer echten Aussage wird, daß man ihn in der Form ausspricht: cogitatio est - «die Bewußtseinsinhalte existieren» *) Ein solcher Satz, der selbst nichts ausdrückt, kann in gar keinem Sinne als Fundament von irgend etwas dienen; er ist selbst keine Erkenntnis, und es ruht keine auf ihm; er kann keinem Wissen Sicherheit verleihen.

      Es besteht also die größte Gefahr, daß man bei der Begehung des empfohlenen Weges statt zu dem gesuchten Fundament zu nichts als zu leeren Wortgebilden gelangt. Aus dem Wunsch, dieser Gefahr zu entgehen, war ja die kritische Protokollsatzlehre entsprungen. Der von ihr eingeschlagene Ausweg konnte uns aber nicht befriedigen; sein wesentlicher Mangel liegt in der Verkennung der verschiedenen Dignität der Sätze, die sich am deutlichstcn in der Tatsache ausdrückt, daß für das Wissenssystem, welches einer als das «richtige» annimmt, seine eigenen Sätze schließlich doch die einzig entscheidende Rolle spielen.

      Es wäre theoretisch denkbar, daß die Aussagen, welche alle anderen Menschen über die Welt machen, durch meine eigenen Beobachtungen in keiner Weise bestätigt würden. Es könnte sein, daß alle Bücher, die ich lese, und alle Lehrer, die ich höre, unter sich in vollkommener Übereinstimmung sind, daß sie einander nie widersprechen, daß sie aber mit einem großen Teil meiner eigenen Beobachtungssätze schlechthin unvereinbar sind. (Gewisse Schwierigkeiten würde in diesem Falle die Frage des Erlernens der Sprache und ihres Gebrauchs zur Verständigung bereiten, aber sie ließen sich beheben durch gewisse Annahmen darüber, an welchen Stellen allein die Widersprüche auftreten sollen.) Nach der kritisierten Lehre würde ich in einem solchen Falle einfach meine eigenen «Protokollsätze» opfern müssen, da ihnen ja die überwältigende Menge der anderen, unter sich harmonischen, gegenüberstünde, denen man unmöglich zumuten kann, sich nach meiner beschränkten fragmentarischen Erfahrung zu korrigieren.

      Was geschähe aber wirklich in dem gedachten Falle? Nun, ich würde unter gar keinen Umständen meine eigenen Beobachtungssätze aufgeben, sondern ich finde, daß ich nur ein Erkenntnissystem annehmen kann, in welches sie unverstümmelt hineinpassen. Und ein solches könnte ich auch stets konstruieren. Ich brauche nur die anderen Menschen als träumende Narren anzusehen, in deren Wahnsinn eine bewundernswerte Methode ist, oder - um dasselbe sachlicher auszudrücken - ich würde sagen, daß die anderen eben in einer andern Welt als ich leben, die mit der meinigen nur gerade so viel gemeinsam hat, daß eine Verständigung durch dieselbe Sprache möglich ist. Auf jeden Fall würde ich, welches Weltbild ich auch konstruiere, seine Wahrheit immer nur an der eigenen Erfahrung prüfen; diesen Halt würde ich mir niemals rauben lassen, meine eigenen Beobachtungssätze würden immer das letzte Kriterium sein. Ich würde sozusagen ausrufen: «Was ich sehe, das sehe ich!»


VI.
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Nach diesen kritischen Vorbereitungen ist klar, in welcher Richtung wir die Auflösung der verwirrenden Schwierigkeiten zu suchen haben: wir müssen die Stücke des Cartesischen Weges benutzen, soweit sie gut und gangbar sind, dann aber uns davor hüten, uns in das cogito ergo sum und verwandte Sinnlosigkeiten zu verwirren. Das tun wir, indem wir uns klar machen, welcher Sinn und welche Rolle denn nun wirklich den Sätzen zukommt, die «gegenwärtig Beobachtetes» ausdrücken.

      Was steckt eigentlich dahinter, wenn man sagt, daß sie «absolut gewiß» seien? Und in welchem Sinne darf man sie als letzten Grund alles Wissens bezeichnen?

      Betrachten wir die zweite Frage zuerst. Wenn wir uns denken daß ich jede Beobachtung sofort notierte - wobei es prinzipiell gleichgültig ist, ob dies auf dem Papier oder nur im Gedächtnis geschieht - und begönne nun von da aus den Aufbau der Wissenschaft: so hätte ich echte «Protokollsätze» vor mir die zeitlich am Anfang der Erkenntnis stünden. Aus ihnen würden die übrigen Sätze der Wissenschaft allmählich durch jenen Prozeß entstehen, den man «Induktion» nennt und der in nichts anderem besteht als darin, daß ich, durch die Protokollsätze angeregt oder veranlaßt, allgemeine Sätze versuchsweise aufstelle («Hypothesen»), aus denen jene ersten Sätze, aber auch unzählige andere, logisch folgen. Wenn nun diese anderen dasselbe aussagen wie spätere Beobachtungssätze, die unter ganz bestimmten, vorher genau anzugebenden Umständen gewonnen werden, so gelten die Hypothesen so lange als bestätigt, als nicht auch Beobachtungsaussagen auftreten, die zu aus den Hypothesen abgeleiteten Sätzen - und damit zu den Hypothesen selbst - im Widerspruch stehen. Solange das nicht eintritt, glauben wir ein Naturgesetz richtig erraten zu haben. Induktion ist also nichts anderes als ein methodisch geleitetes Raten, ein psychologischer, biologischer Prozeß, dessen Behandlung gewiß nichts mit «Logik» zu tun hat.

      Hiermit ist das tatsächliche Verfahren der Wissenschaft schematisch beschrieben. Es ist deutlich, welche Rolle die Aussagen über «gegenwärtig Wahrgenommenes» darin spielen. Sie sind nicht identisch mit dem Aufgeschriebenen oder Erinnerten, also mit dem, was rechtmäßig «Protokollsätze» heißen könnte, sondern sie sind der Anlaß zu ihrer Bildung. Die im Buche oder Gedächtnis aufbewahrten Protokollsätze sind, wie wir oben längst anerkannten, zweifellos in ihrer Geltung den Hypothesen gleichzusetzen, denn wenn wir einen solchen Satz vor uns haben, so ist es eine bloße Annahme, daß er wahr ist, daß er mit dem Beobachtungssatz übereinstimmt, durch den er veranlaßt wurde. (Ja, vielleicht wurde er durch gar keinen Beobachtungssatz veranlaßt, sondern entsprang irgendeinem Spiel.) Mit einem wirklichen Protokollsatz kann das, was ich Beobachtungssatz nenne, schon deshalb nicht identisch sein, weil es sich in gewissem Sinne überhaupt nicht aufzeichnen läßt - wie wir sogleich besprechen werden.

      In dem Schema des Erkenntnisaufbaus, das ich beschrieben habe spielen also die Beobachtungssätze erstens die Rolle, daß sie zeitlich am Anfang des ganzen Prozesses stehen, ihn anregen und in Gang bringen. Wieviel von ihrem Inhalt in die Erkenntnis eingeht, bleibt prinzipiell zunächst ganz dahingestellt. Mit einem gewissen Rechte kann man also die Beobachtungssätze als letzten Ursprung alles Wissens ansehen, aber soll man sie als das Fundament, als den letzten sicheren Grund bezeichnen? Dies dürfte kaum angezeigt sein, denn dieser «Ursprung» hängt mit dem Erkenntnisgebäude doch auf eine zu fragwürdige Art zusammen. Außerdem haben wir ja den wahren Prozeß schematisch vereinfacht gedacht. In Wirklichkeit schließt sich das, was tatsächlich protokolliert wird, an das Beobachtete selbst noch weniger eng an, und im allgemeinen wird man nicht einmal annehmen dürfen, daß zwischen die Beobachtung und das «Protokoll» sich überhaupt reine Beobachtungssätze einschieben.

      Aber nun scheint ja diesen Sätzen, den Aussagen über gegenwärtig Wahrgenommenes, den «Konstatierungen», wie wir sie auch nennen könnten, noch eine zweite Funktion zuzukommen: nämlich bei der Bestätigung der Hypothesen, bei der Verifikation.

      Die Wissenschaft macht Prophezeiungen, die durch die «Erfahrung» geprüft werden. Im Aufstellen von Voraussagen besteht ihre wesentliche Funktion. Sie sagt etwa: «Wenn du zu der und der Zeit durch ein so und so eingestelltes Fernrohr blickst, so siehst du ein Lichtpünktchen (Stern) in Koinzidenz mit einem schwarzen Strich (Fadenkreuz)». Nehmen wir an, daß bei Befolgung dieser Anweisung das prophezeite Ereignis wirklich eintritt, so heißt dies ja, daß wir eine Konstatierung machen, auf die wir vorbereitet sind; wir fällen ein Beobachtungsurteil, das wir erwarteten, wir haben dabei ein Gefühl der Erfüllung, einer ganz charakteristischen Befriedigung, wir sind zufrieden. Man kann mit vollem Rechte sagen, daß die Konstatierungen oder Beobachtungssätze ihre wahre Mission erfüllt haben, sobald diese eigentümliche Befriedigung uns zuteil geworden ist.

      Und sie wird uns in demselben Augenblick zu teil, in dem die Konstatierung geschieht, die Beobachtungsaussage gemacht wird. Dies ist von der höchsten Wichtigkeit, denn damit liegt die Funktion der Sätze über das gegenwärtig Erlebte selbst in der Gegenwart. Wir sahen ja, daß sie sozusagen keine Dauer haben, daß man, sobald sie vorbei sind, an ihrer Stelle nur noch Aufzeichnungen oder Gedächtnisspuren zur Verfügung hat, die nur die Rolle von Hypothesen spielen können und damit der letzten Sicherheit ermangeln. Man kann auf den Konstatierungen kein logisch haltbares Gebäude errichten, weil sie schon fort sind in dem Moment, in dem man zu bauen anfängt. Wenn sie zeitlich am Anfang des Erkenntnisprozesses stehen, sind sie logisch zu nichts nutze. Ganz anders aber, wenn sie am Ende stehen: sie sind die Vollendung der Verifikation (oder auch Falsifikation), und in dem Augenblick ihres Auftretens haben sie ihre Pflicht auch schon erfüllt. Logisch schließt sich nichts mehr an sie an, es werden keine Schlüsse aus ihnen gezogen, sie sind ein absolutes Ende.

      Freilich, psychologisch und biologisch beginnt mit der Befriedigung, die sie erzeugen, ein neuer Erkenntnisprozeß: die Hypothesen, deren Verifikation in ihnen endete, werden als bestätigt angesehen, und es wird die Aufstellung umfassenderer Hypothesen versucht, das Suchen und Erraten der allgemeinen Gesetze nimmt seinen Fortgang. Für diese zeitlich folgenden Vorgänge bilden also die Beobachtungssätze den Ursprung und die Anregung in dem Sinne, wie ich es vorhin beschrieben habe.

      Durch diese Überlegungen wird, so scheint mir, auf die Frage nach dem letzten Fundament des Wissens ein neues helles Licht geworfen, und wir überblicken klar, wie der Aufbau des Systems unserer Erkenntnis geschieht, und welche Rolle die «Konstatierungen» dabei spielen:

      Erkenntnis ist ursprünglich ein Mittel im Dienste des Lebens. Der Mensch muß, um sich in der Umwelt zurechtzufinden und seine Handlungen den Ereignissen anzupassen, diese Ereignisse bis zu einem gewissen Grade voraussehen können: dazu braucht er allgemeine Sätze, Erkenntnisse, und er kann sie nur insofern gebrauchen, als die Prophezeiungen wirklich eintreffen. In der Wissenschaft nun bleibt dieser Charakter des Erkennens vollständig erhalten; der einzige Unterschied ist der, daß er nicht mehr den Zwecken des Lebens dient, nicht um des Nutzens willen gesucht wird. Mit dem Eintreffen der Voraussagen ist der wissenschaftliche Zweck erreicht: die Erkenntnisfreude ist die Freude an der Verifikation, das Hochgefühl, richtig geraten zu haben. Und dieses ist es nun, das die Beobachtungssätze uns vermitteln, in ihnen erreicht die Wissenschaft gleichsam ihr Ziel, um ihretwillen ist sie da. Die Frage, die sich hinter dem Problem des absolut sicheren Erkenntnisfundaments verbirgt, ist die Frage gleichsam nach der Berechtigung der Befriedigung, mit welcher die Verifikation uns erfüllt. Sind unsere Voraussagen auch wirklich eingetroffen? In jedem einzelnen Falle der Verifikation oder Falsifikation antwortet eine «Konstatierung» eindeutig mit ja oder nein, mit Erfüllungsfreude oder Enttäuschung. Die Konstatierungen sind endgültig.

      Endgültigkeit ist ein sehr passendes Wort, die Geltung der Beobachtungssätze zu kennzeichnen. Sie sind ein absolutes Ende, in ihnen erfüllt sich die jeweilige Aufgabe des Erkennens. Daß mit der Freude, in der sie gipfeln, und mit den Hypothesen, die sie zurücklassen, dann eine neue Aufgabe beginnt, geht sie nichts mehr an. Die Wissenschaft ruht nicht auf ihnen, sondern führt zu ihnen, und sie zeigen an, daß sie gut geführt hat. Sie sind wirklich die absolut festen Punkte; es befriedigt uns, sie zu erreichen, auch wenn wir nicht auf ihnen stehen können.


VII.
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Worin besteht diese Festigkeit? Wir kommen damit zu der oben einstweilen aufgeschobenen Frage: In welchem Sinne kann man von einer «absoluten Gewißheit» der Beobachtungssätze sprechen?

      Ich möchte dies verdeutlichen, indem ich zuerst etwas über eine ganz andere Art von Sätzen sage, nämlich die analytischen Sätze, und diese dann mit den «Konstatierungen» vergleiche. Bei analytischen Urteilen bildet die Frage ihrer Geltung bekanntlich kein Problem. Sie gelten a priori, man muß und kann sich von ihrer Richtigkeit nicht durch Erfahrung überzeugen, weil sie überhaupt nichts von Gegenständen der Erfahrung aussagen. Dafür kommt ihnen auch nur «formale Wahrheit» zu, d.h. sie sind nicht deswegen «wahr», weil sie irgendwelche Tatsachen richtig ausdrücken sondern ihre Wahrheit besteht nur darin, daß sie formal richtig gebildet sind, d. h. im Einklang mit unseren willkürlich aufgestellten Definitionen stehen.

      Nun haben aber einige philosophische Schriftsteller fragen zu müssen geglaubt: ja, woher weiß ich denn im einzelnen Falle, ob ein Satz wirklich im Einklang mit den Definitionen steht, ob er also wirklich analytisch ist und daher unzweifelhaft gilt? Muß ich nicht die aufgestellten Definitionen, die Bedeutung aller verwendeten Worte im Kopfe haben, während ich den Satz ausspreche oder höre oder lese? Kann ich aber sicher sein, daß meine psychischen Fähigkeiten dazu ausreichen? Ist es nicht z.B. möglich, daß ich am Schlusse des Satzes, und dauerte er nur eine Sekunde, den Anfang vergessen oder falsch in der Erinnerung habe? Muß ich also nicht eingestehen, daß ich aus psychologischen Gründen auch bei einem analytischen Urteil seiner Geltung niemals sicher bin?

      Hierauf ist zu erwidern: Die Möglichkeit eines Versagens des psychischen Mechanismus muß natürlich jederzeit zugegeben werden, aber die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind in den soeben angeführten zweifelnden Fragen nicht richtig beschrieben.

      Es kann infolge von Gedächtnisschwäche und aus tausend anderen Ursachen geschehen, daß wir einen Satz nicht verstehen oder falsch verstehen, (d. h. anders als er gemeint war) - aber was bedeutet das? Nun, solange ich einen Satz nicht verstanden habe, ist er für mich überhaupt keine Aussage, sondern eine bloße Reihe von Worten, von Lauten oder Schriftzeichen. In diesem Falle gibt es kein Problem, denn nur bei einem Satz kann man fragen, ob er analytisch oder synthetisch ist, nicht aber bei einer unverstandenen Wortreihe. Habe ich aber eine Wortreihe falsch gedeutet, aber doch immerhin als irgendeinen Satz - nun, so weiß ich eben von diesem Satze, ob er analytisch und daher a priori gültig ist oder nicht. Man darf nicht meinen, ich könnte einen Satz als solchen aufgefaßt haben und dann noch über seine analytische Natur im Zweifel sein, denn wenn er analytisch ist, so habe ich ihn eben erst dann verstanden, wenn ich ihn als analytisch verstanden habe. Verstehen heißt nämlich nichts anderes als sich klar sein über die Verwendungsregeln der vorkommenden Wörter; es sind aber gerade diese Verwendungsregeln, die den Satz zu einem analytischen machen. Wenn ich nicht weiß, ob ein Komplex von Wörtern einen analytischen Satz bildet oder nicht, so heißt dies eben, daß mir in dem Augenblick die Verwendungsregeln der Worte fehlen, daß ich also den Satz gar nicht verstanden habe. Es steht also so: Entweder ich habe gar nichts verstanden, und dann läßt sich weiter nichts sagen; oder aber ich weiß, ob der Satz, den ich verstanden habe, analytisch oder synthetisch ist (was natürlich nicht voraussetzt, daß mir diese Worte dabei vorschweben oder auch nur bekannt sind). Im Falle des analytischen weiß ich dann zugleich, daß er gilt, daß ihm formale Wahrheit zukommt.

      Die obigen Zweifel an der Geltung analytischer Sätze waren also unrecht am Platze. Wohl kann ich daran zweifeln, ob ich den Sinn irgendeines Zeichenkomplexes richtig erfaßt habe, ja ob ich überhaupt jemals den Sinn irgendeiner Wortreihe verstehen werde; aber ich kann nicht fragen, ob ich die Richtigkeit eines analytischen Satzes auch wirklich einzusehen vermag. Denn seinen Sinn verstehen und seine apriorische Geltung einsehen, sind bei einem analytischen Urteil ein und derselbe Prozeß. Im Gegensatz dazu ist eine synthetische Aussage dadurch charakterisiert, daß ich durchaus nicht weiß, ob sie wahr oder falsch ist, wenn ich nur ihren Sinn eingesehen habe, sondern ihre Wahrheit wird erst durch den Vergleich mit der Erfahrung festgestellt. Der Prozeß der Einsicht in den Sinn ist hier ein völlig anderer als der Prozeß der Verifikation.

      Nur eine Ausnahme gibt es hiervon. Und damit kommen wir zu unseren «Konstatierungen» zurück. Diese nämlich sind immer von der Form «Hier jetzt so und so». Z.B. «Hier fallen jetzt zwei schwarze Punkte zusammen», oder «Hier grenzt jetzt gelb an blau», oder auch «Hier jetzt Schmerz. . .» usw. Das Gemeinsame aller dieser Aussagen ist, daß in ihnen hinweisende Worte vorkommen, die den Sinn einer gegenwärtigen Geste haben, d. h. die Regeln ihres Gebrauchs sehen vor, daß beim Aufstellen des Satzes, in dem sie vorkommen, eine Erfahrung gemacht, auf etwas Beobachtetes die Aufmerksamkeit gerichtet wird. Was die Worte «hier», «jetzt», «dies da» usw. bedeuten, läßt sich nicht durch allgemeine Definitionen in Worten, sondern nur durch eine solche mit Hilfe von Aufweisungen, Gesten angeben. «Dies da» hat nur Sinn in Verbindung mit einer Gebärde. Um also den Sinn eines solchen Beobachtungssatzes zu verstehen, muß man die Gebärde gleichzeitig ausführen, man muß irgendwie auf die Wirklichkeit hindeuten.

      Mit anderen Worten: den Sinn einer «Konstatierung» kann ich nur dann und nur dadurch verstehen, daß ich sie mit den Tatsachen vergleiche, also jenen Prozeß ausführe, der bei allen synthetischen Sätzen für die Verifikation erforderlich ist. Während aber bei allen anderen synthetischen Aussagen die Feststellung des Sinnes und die Feststellung der Wahrheit getrennte, wohl unterscheidbare Prozesse sind, fallen sie bei den Beobachtungssätzen zusammen, ganz wie bei den analytischen Urteilen. So verschieden also auch die «Konstatierungen» von den analytischen Sätzen sind: gemeinsam ist ihnen, daß bei beiden der Vorgang des Verstehens zugleich der Vorgang der Verifikation ist: mit dem Sinn erfasse ich zugleich die Wahrheit. Bei einer Konstatierung hätte es ebensowenig Sinn zu fragen, ob ich mich vielleicht über ihre Wahrheit täuschen könne wie bei einer Tautologie. Beide gelten absolut. Nur ist der analytische, der tautologische Satz zugleich inhaltsleer, während der Beobachtungssatz uns die Befriedigung echter Wirklichkeitserkenntnis verschafft.

      Es ist hoffentlich deutlich geworden, daß hier alles auf den Charakter der Gegenwärtigkeit ankommt, der den Beobachtungssätzen eigentümlich ist und dem sie ihren Wert und Unwert verdanken: den Wert der absoluten Geltung und den Unwert der Unbrauchbarkeit als dauerndes Fundament.

      Auf der Verkennung dieses Charakters beruht zum großen Teil die unglückliche Problematik der Protokollsätze, von der unsere Betrachtung ausgegangen war. Wenn ich die Konstatierung mache: «Hier jetzt blau», so ist sie nicht dasselbe wie der Protokollsatz: «M. S. nahm am soundsovielten April 1934 zu der und der Zeit an dem und dem Orte blau wahr», sondern der letzte Satz ist eine Hypothese und als solcher stets mit Unsicherheit behaftet. Der letzte Satz ist äquivalent der Aussage: «M. S. machte  . . . (hier sind Ort und Zeit anzugeben) die Konstatierung <hier jetzt blau>». Und daß diese Aussage nicht mit der in ihr vorkommenden Konstatierung identisch ist, ist klar. In den Protokollsätzen ist immer von Wahrnehmungen die Rede (oder sie sind hinzuzudenken; die Person des wahrnehmenden Beobachter ist für ein wissenschaftliches Protokoll wichtig), in den Konstatierungen dagegen niemals. Eine echte Konstatierung kann nicht aufgeschrieben werden, denn sowie ich die hinweisenden Worte «hier», «jetzt» aufzeichne, verlieren sie ihren Sinn. Sie lassen sich auch nicht durch eine Orts- und Zeitangabe ersetzen, denn sowie man dies versucht, setzt man, wie wir schon sahen, an die Stelle des Beobachtungssatzes unweigerlich einen Protokollsatz, der als solcher eine ganz andere Natur hat.


VIII.
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Ich glaube, die Frage nach dem Fundament der Erkenntnis ist jetzt geklärt.

      Betrachtet man die Wissenschaft als ein System von Sätzen, bei dem man sich als Logiker lediglich für den logischen Zusammenhang der Sätze interessiert, so kann man die Frage nach ihrem Fundament, das dann ein «logisches» wäre, ganz nach Belieben beantworten, denn es steht einem frei, wie man das Fundament definieren will. An sich gibt es ja in einem abstrakten Satzsystem kein Prius und Posterius. Man könnte z. B. die allgemeinsten Sätze der Wissenschaft, also die, welche man meist als «Axiome» auszuwählen pflegt, als ihre letzte Grundlage bezeichnen, man könnte aber ebensogut diesen Namen für die allerspeziellsten Sätze reservieren, die dann etwa wirklich den aufgeschriebenen Protokollen entsprechen würden - oder auch irgendeine andere Wahl wäre möglich. Alle Sätze der Wissenschaft aber sind samt und sonders Hypothesen, sobald man sie vom Gesichtspunkt ihres Wahrheitswertes, ihrer Gültigkeit betrachtet.

      Richtet man das Augenmerk auf den Zusammenhang der Wissenschaft mit der Wirklichkeit, sieht man in dem System ihrer Sätze das, was es eigentlich ist, nämlich ein Mittel, sich in den Tatsachen zurechtzufinden, zur Bestätigungsfreude, zum Gefühl der Endgültigkeit zu gelangen, so wird sich das Problem des «Fundamentes» von selbst in das Problem der unerschütterlichen Berührungspunkte von Erkenntnis und Wirklichkeit verwandeln. Diese absolut festen Berührungspunkte, die Konstatierungen, haben wir in ihrer Eigenart kennengelernt: es sind die einzigen synthetischen Sätze, die keine Hypothesen sind. Sie liegen keineswegs am Grunde der Wissenschaft, sondern die Erkenntnis züngelt gleichsam zu ihnen auf, jeden nur in einem Augenblick erreichend und ihn sogleich verzehrend. Und neu genährt und gestärkt flammt sie dann zum nächsten empor.

      Diese Augenblicke der Erfüllung und des Verbrennens sind das Wesentliche. Von ihnen geht alles Licht der Erkenntnis aus. Und dies Licht ist es eigentlich, nach dessen Ursprung der Philosoph fragt, wenn er das Fundament alles Wissens sucht.
 
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      *)
Vergl. «Erkenntnis», Bd. 3, S. 20.
 
 
 
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