BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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[80]

18.

Klassengegensätze und Demokratie

in der römischen Republik.

 

Die Römer haben im 3. und 2. Jahrhundert vor Christus die ganze damalige Kulturwelt sich untertänig gemacht. Sie konnten das, weil das ganze einige Italien mit Hunderttausenden von tüchtigen Soldaten hinter ihnen stand. Die Griechen im Osten wären den Römern gewachsen gewesen, wenn sie einig gewesen wären. Aber daran mangelte es, und so gelang es Rom, einen von den griechischen Staaten nach dem anderen unschädlich zu machen. Im Westen Europas wiederum hatten die Römer es mit mehr oder minder unkultivierten Stämmen zu tun, die der geschlossenen Großmacht Italien erst recht nicht gewachsen waren.

Um die hochinteressante, aber sehr verwickelte Verfassung der römischen Republik und die Klassengegensätze in Rom auch nur in den Grundzügen zu schildern, wäre ein eigenes Buch nötig. Hier müssen wir uns – wie im vorigen Kapitel – auf einige Andeutungen beschränken. Das Staatsgebiet des eigentlichen Rom erstreckte sich im 3. und 2. Jahrhundert über den größten Teil Mittelitaliens, vom Adriatischen bis zum Mittelmeer, und hatte ungefähr 1½ Millionen Einwohner. Das übrige Italien bestand aus Hunderten von Kleinstaaten, die alle mit Rom verbündet waren. Der Staat Rom hatte vorwiegend ländlichen Charakter: der größte Teil seiner Einwohner lebte in Dörfern oder Kleinstädten. Und auch die Kleinstädter waren meistens Landwirte, die ihr Grundstück in der Nähe des Wohnorts hatten. Der Staat Rom hatte zwar die sehr wichtige gleichnamige Hauptstadt. Aber nehmen wir einmal an, die Hauptstadt hätte damals 150000 Einwohner gezählt – genau läßt sich die Ziffer nicht feststellen –, so war dies doch nur der 10. Teil der gesamten Staatsbevölkerung. Von den 35 Kreisen, in die der Staat Rom zerfiel, waren denn auch nur vier großstädtische gegenüber 31 ländlichen und kleinstädtischen. Da ergibt sich der große Unterschied zwischen den Republiken Athen und Rom. In Athen führte wirtschaftlich und politisch die Stadt, in Rom aber das Land. Infolgedessen waren die Träger der Demokratie in Athen die besitzlosen Städter, in Rom aber die kleinen Bauern. [81]

In Rom bestanden im 3. und 2. Jahrhundert zwei große Parteien: die Volkspartei (populares) und die konservative Partei (optimates). Im 1. Jahrhundert existierten die beiden Parteien auch noch, hatten da aber ihr Wesen völlig verändert. In der älteren Zeit entsprachen die Parteien den großen sozialen Gegensätzen. Die Volkspartei war die Partei der kleinen Bauern; die arme städtische Bevölkerung hatte denselben Standpunkt, trat aber vor den Bauern ganz zurück. Bei den freien Landarbeitern finden wir kein besonderes Klassenbewußtsein; sie werden im allgemeinen so gestimmt haben wie ihre Arbeitgeber. Auf der anderen Seite umfaßten die Konservativen die Gutsbesitzer, die Kaufleute, Bankiers usw. Im ältesten Rom (6. und 5. Jahrhundert) herrschte der ritterliche Erbadel. Im 4. Jahrhundert trat an Stelle der Adelsherrschaft die Gewalt der besitzenden Klasse im ganzen. Im Jahre 287 eroberte dann die Klasse der kleinen Bauern durch eine große Revolution die politische Macht und schuf so die römische Demokratie. Aber in Rom hat die arme Bevölkerung lange nicht so durchgegriffen wie in Athen. Auch nach dem Jahre 287 gingen in Rom die hohen Staatsbeamten – die Präsidenten der Republik (Konsuln), die Finanzminister (Zensoren) und Oberrichter (Prätoren) – aus der besitzenden Klasse hervor. Auch der Staatsrat (Senat) bestand aus Besitzenden, und zu den Schwurgerichten hatten die Armen keinen Zutritt. Aber dafür wählte die Gesamtheit der Bürger, in der die kleinen Bauern überwogen, alljährlich zehn „Volksvertreter“ (Volkstribune), welche die Aufsicht über die Staatsverwaltung hatten. Jeder „Volksvertreter“ hatte das Recht, gegen jede Amtshandlung eines Beamten, die ihm nicht gefiel, Einspruch zu erheben, und damit wurde die betreffende Handlung ungültig. Wenn z.B. der Präsident der Republik einen Mann verhaften ließ und ein Volksvertreter erhob dagegen Widerspruch, so mußte der Betreffende wieder freigelassen werden. Ferner konnte der Volksvertreter jeden Staatsbeamten nach Ablauf seines Amtsjahrs (die hohen, politischen Würdenträger, die vom Volk gewählt wurden, waren in der Regel nicht länger im Amt) wegen Amtsmißbrauchs vor sein Gericht laden und verurteilen. Ferner hatte die allgemeine Bürgerversammlung unbeschränkte gesetzgebende Gewalt und das Recht, jedes Todesurteil zu bestätigen oder aufzuheben. Obwohl also in Rom die Macht der armen Bevölkerung äußerlich nicht so in Erscheinung trat wie in [82] Athen, konnte doch auch in Rom nichts gegen den Willen der kleinen Bauernschaft geschehen.

In sehr geschickter Weise war dafür gesorgt, daß der Wille der Bauern auch wirklich in der allgemeinen Bürgerversammlung zur Geltung kam, wie sie von Zeit zu Zeit in oder bei der Stadt Rom abgehalten wurde. Rom hatte um das Jahr 150 gegen 300000 stimmberechtigte Bürger, die über einen großen Teil Italiens verstreut wohnten. Es lag in der Natur der Sache, daß zu den Volksversammlungen in der Hauptstadt zwar verhältnismäßig viele Städter, aber wenige Landleute, besonders aus den entfernteren Gegenden, erschienen. Da half man sich folgendermaßen: in der Volksversammlung wurde nicht nach Köpfen abgestimmt, sondern nach den oben erwähnten Kreisen. Die Anwesenden teilten sich in 35 Gruppen; entsprechend den Kreisen, aus denen sie stammten, und jeder Kreis hatte eine Stimme. Angenommen war also ein Antrag, wenn er zumindest 18 Stimmen auf sich vereinigte. Waren aus einem großstädtischen Kreis 5000 Leute erschienen und aus einem entfernten ländlichen nur 200 – so hatten doch die 200 dasselbe Recht wie die 5000, das heißt eine Stimme. Und das war durchaus keine Ungerechtigkeit, weil ja die 200 gewissermaßen die Vertreter von 10000 anderen Bürgern ihres Kreises waren, die nur aus Zeit- und Geldmangel die weite Reise in die Hauptstadt nicht hatten machen können. Auf diese Weise war in der allgemeinen Volksversammlung, die ja die oberste Gewalt in Rom hatte, stets der Einfluß der Mehrheit der Bevölkerung, der ländlichen Masse, gesichert.

Die Volks- oder Bauernpartei hatte zwei große Ziele: das eine war, die unbedingte persönliche Freiheit und Unantastbarkeit auch des ärmsten Bürgers zu sichern. Eine Reihe von Gesetzen und die Tätigkeit der „Volksvertreter“ wirkten in diesem Sinne. Das zweite Ziel war: Land. Die landlosen Söhne kleiner Bauern, arme Pächter usw. sollten ihr eigenes kleines Gut erhalten und sich so eine behagliche Existenz verschaffen. Die großen Eroberungen Roms inner- und außerhalb Italiens machten es möglich, diese Forderung der Bauernpartei in weitestem Umfang zu erfüllen. Hand in Hand mit Roms politischen Erfolgen ging eine gewaltige Kolonisation. Hunderte von neuen Gemeinden sind vom römischen Staat gegründet, Hunderttausende armer Leute zu selbständigen kleinen Besitzern gemacht worden. Es ist klar, daß diese Forderungen der Bauernschaft [83] auch der ärmeren städtischen Bevölkerung zugute kamen: sowohl der Schutz der persönlichen Freiheit als auch die Ansiedlung; denn neben den ländlichen sind doch auch sehr viele städtische Proletarier bei der Kolonisation berücksichtigt worden.

Diese vorwiegend bäuerliche Demokratie, wie sie in Rom seit dem Jahre 287 bestand, ist dann aber gerade durch die gewaltigen außenpolitischen Erfolge des Staates gefährdet und schließlich zerbrochen worden. Zwei böse Früchte hat das römische Volk dadurch geerntet, daß es alle Länder von Gibraltar bis Jerusalem seiner Herrschaft unterwarf: den Großkapitalismus und die Militärdiktatur. Der römische Staat zog ungezählte Millionen aus den abhängigen Ländern: direkte Steuern, Zölle, Lieferungen von Lebensmitteln, Ertrag von Bergwerken, Grundbesitz, Wäldern usw., die der römische Staat mit Beschlag belegt hatte. Alle diese Einkünfte trieb der Staat aber nicht direkt durch seine Beamten ein, sondern er verpachtete sie an große Unternehmer, die daraus Riesengewinne zogen. Die reichen Einkünfte der römischen Staatskasse aus den eroberten Ländern dienten zunächst dazu, die römischen Bürger von Steuern zu entlasten. Und dann nahm Rom gewaltige öffentliche Arbeiten vor: Bau von Straßen, Häfen, Wasserleitungen, Tempeln und vieles andere. Auch die Ausführung dieser Staatsaufträge kam in die Hand des großen Unternehmertums. So ging die Entwicklung dahin, daß der Reichtum des Staates zu einem erheblichen Teil in die Hand eines kleinen Kreises von Kapitalisten überging. Wie Rom die erste Militärmacht der Welt geworden war, so wurde es jetzt auch die erste Kapitalmacht. Die römischen Bankiers gingen nun mit ihrem Geld in alle Länder der Mittelmeerwelt, machten überall ihre Wuchergeschäfte und sogen, gedeckt von den römischen Statthaltern, die Einwohner bis aufs äußerste aus. Alle anderen Länder verarmten, und die Bankiers Italiens wurden reich.

Diese Anhäufung riesiger Kapitalien in den Händen des römischen Bankierstandes verschob auch das politische Gleichgewicht in Rom vollkommen. Die Kapitalisten, von denen ein großer Teil der Bevölkerung direkt oder indirekt abhängig war, suchten nun auch die entscheidende politische Macht. Durch mehrere Gesetze, die der Volkstribun Gaius Gracchus im Jahre 123 durchbrachte, wurde die oberste politische Gewalt des Kapitalistenstandes, des „Ritterstandes“, wie man in Rom zu sagen pflegte („Ritter“ bedeutete damals „Reiche“), befestigt. Vor allem, weil [84] der römische Staatsgerichtshof in die Hand der Kapitalisten geriet, waren die höheren Staatsbeamten völlig von ihnen abhängig. Vierzig Jahre lang hat die tatsächliche Herrschaft der Großbanken in Rom gedauert; sie hat den Staat moralisch völlig zerrüttet und die unterworfenen Länder ins Elend gestürzt. Erst nach einem blutigen Bürgerkrieg gelang es den verfassungstreuen Bürgern und Bauern unter Führung des L. Sulla, die Macht der Kapitalistenpartei zu brechen (im Jahre 80).

In derselben Zeit vervielfältigten sich die militärischen Aufgaben, die Rom zu lösen hatte, um in allen drei Weltteilen seine Eroberungen zu behaupten und abzurunden. Die Sicherung des Römischen Reichs erforderte die Schaffung einer großen Berufsarmee mit einheitlichem Oberkommando. Es ist klar, daß diese Armee und ihre Führung auch politisch eine Macht darstellte; ja, eine Macht, die größer war als die der Parteipolitiker. Der erste Oberbefehlshaber der neuen Berufsarmee war Gnaeus Pompeius, ein hervorragender General und treuer Republi­kaner. Sein Gedanke war, daß die alte republikanische Verfassung bestehen bleiben, daß ihr aber der Posten des Oberbefehlshabers eingefügt werden sollte. Der oberste General sollte als „erster Bürger“ (lateinisch: princeps) unter den anderen Bürgern stehen.

Aber nicht alle römischen Generale waren so maßvoll wie Pompeius. Als der berühmte Cäsar, der Gallien (Frankreich) für Rom erobert hatte, in einen Streit mit den Zivilgewalten geriet, begann er den Bürgerkrieg, schlug die Republik in Trümmer und richtete die Militärdiktatur auf (48). Aber obwohl Cäsar sich bemühte, den Interessen der ärmeren Bevölkerung gerecht zu werden, konnte er sich doch nicht behaupten. Im Jahre 44 fiel er einer republikanischen Verschwörung zum Opfer. Jahrelange Kämpfe folgten; im wesentlichen zwischen den republikanisch gesinnten Bürgern und Bauern auf der einen Seite und der Armee und den Vertretern der Militärmonarchie auf der anderen Seite. Am Ende kam es zu einem Kompromiß, durchgeführt von Augustus, dem Adoptivsohn und politischen Erben Cäsars. Augustus sah ein, daß es nicht möglich war, in Rom den republikanischen Freiheitssinn ganz zu ersticken. So verließ er die Bahnen Cäsars und schlug wieder den Weg des Pompeius ein: er begnügte sich damit, Führer der Armee und der „erste Bürger“ Roms zu sein. Augustus, ein überaus kluger [85] und besonnener Mann, war damit zufrieden, im Rahmen der Republik zu bleiben. Aber seine tatsächliche Stellung im Reich war doch so mächtig, daß die Nachwelt ihn als den ersten der römischen „Kaiser“ bezeichnete.

Es ist bemerkenswert, daß die ruhmreiche alte Volkspartei im letzten Jahrhundert der Republik völlig verkommen ist: sie vertrat jetzt nicht mehr die Interessen der armen Bevölkerung, sondern die des Großkapitals und des Militärs. Die politischen Agenten der Banken, wie Gaius Gracchus und Cinna, und ebenso die rücksichtslosesten Vertreter der Militärherrschaft, wie Cäsar und Antonius, haben sich als Angehörige der Volkspartei bezeichnet. Im entgegengesetzten Sinne entwickelten sich die Konservativen: sie wollten vor allem den bestehenden Staat erhalten, das heißt die Republik, wie die Väter sie geschaffen hatten. Daher standen sie im Kampf gegen das Großkapital und gegen die Militärmonarchie in erster Reihe. Der Konservative Sulla hat die politische Macht der Banken gebrochen, und Brutus und Cassius, die den Diktator Cäsar niederstachen, gehörten derselben Partei an. Es ist klar, daß die Konservativen in ihrem Kampf für die Republik auch in steigendem Maße die Unterstützung der ärmeren Bevölkerung, besonders auf dem Lande, fanden.

Im allgemeinen muß man jedoch sagen, daß alle politischen Gruppen sich in jener Zeit bemühten, durch soziale Reformgesetze die breiten Massen sich günstig zu stimmen: der hauptstädtischen armen Bevölkerung wurde das Brot immer mehr verbilligt, bis sie es schließlich vom Staate ganz umsonst erhielt, und die Kolonisation, die Ansiedlung armer Bürger, wurde eifrig fortgesetzt. Dagegen scheiterte eine revolutionäre Erhebung im Jahre 63, deren Führer Catilina war. Ihr nächstes Ziel war die Befreiung der kleinen Bauern von den Hypothekenschulden. Wäre der Aufstand geglückt, so hätte er eine völlige Umgestaltung des römischen Staates und die uneingeschränkte Herrschaft der armen Bevölkerung gebracht. Catilina unterlag den vereinten kapitalistischen und konservativen Interessen; sein Andenken ist von seinen politischen und Klassengegnern schmählich beschmutzt worden.

Aber er bleibt doch der ernsthafteste Vertreter der sozialen Revolution in der römischen Geschichte. Ebenso erfolglos wie die Erhebung der armen Bauern unter Führung Catilinas blieb der Aufstand der unfreien Landarbeiter unter Spartacus im Jahre 73. Die letztere Bewegung war schon deshalb aussichtslos, weil die [86] Sklaven, teils nordische Barbaren, teils Orientalen, der großen Masse der Bevölkerung Italiens fremd gegenüberstanden. Ein Zusammengehen in großem Stil zwischen den armen Freien und den Sklaven war schon durch den Sprach- und Kulturunterschied unmöglich.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 18.

 

1. Wodurch gelang es den Römern, die Weltherrschaft zu gewinnen?

2. Welche Stellung hatte die Bauernschaft im römischen Staate?

3. Welche Stellung hatten die Großstädter?

4. Welche politischen Parteien gab es in der römischen Republik?

5. Worin lag der Hauptunterschied zwischen den Republiken Rom und Athen?

6. Welche Bedeutung hatte in Rom die Revolution von 287?

7. Was hatten die römischen Volkstribunen zu tun?

8. Wie stimmte die römische Volksversammlung ab?

9. Welche politischen Ziele hatte die römische Volkspartei?

10. Wodurch ist die römische Republik zugrunde gegangen?

11. Wie entstand die Macht des Großkapitals in Rom?

12. Wie entstand die Gefahr der Militärdiktatur?

13. Was wollten Pompeius, Cäsar, Augustus?

14. Welche Veränderungen in den politischen Parteien Roms vollzogen sich im letzten Jahrhundert der Republik?

15. Wie stand es mit den wirtschaftlichen Forderungen der armen Bevölkerung in derselben Zeit?

16. Welche Ziele verfolgte Catilina?

17. Warum mußte der Sklavenaufstand unter Spartacus scheitern?