BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

____________________________________________________________

 

 

[71]

16.

Der Untergang der proletarischen Demokratie

in Athen.

 

Athen hatte sich im Laufe des 4. Jahrhunderts allmählich wieder von den Schlägen erholt, die es gegen Ende des 5. erlitten hatte. Die Stadt war wieder der Mittelpunkt des griechischen Handels und der griechischen Schiffahrt, auch ihre Kriegsflotte hatten die Athener neu geschaffen. Die Flotte ist sogar damals an Zahl der Schiffe größer geworden als zur Zeit des Perikles. Athen übte auch wieder eine Oberhoheit über viele Inseln und Küstenstrecken des Ägäischen Meeres aus. So begreift man, daß die athenischen Politiker meistens in der alten Art weiterregieren wollten. Als freilich der Gedanke der griechischen Einigung und des gemeinsamen Eroberungskrieges gegen Persien auftauchte, gab es auch in Athen einzelne Männer, die dafür eintraten, daß Athen sich einem allgriechischen Bund unter Führung Makedoniens anschließen sollte. Innenpolitisch hatte Athen von einem solchen Schritt nichts zu fürchten; denn wenn auch Philippos durch die ganze Lage der Dinge auf die Seite des besitzenden Bürgertums gedrängt wurde, so war er doch viel zu klug, als daß er durch einen gewaltsamen Staatsstreich die Verfassung Athens hätte umstürzen wollen. Er wäre froh gewesen, wenn sich auch das athenische Proletariat seinen nationalen Plänen angeschlossen hätte. Vor allem die athenischen Kriegsschiffe hätte er bei seinem Krieg mit Persien gut gebrauchen können. So empfahlen die Vertreter der nationalen Politik in Athen, man solle sich in das Unvermeidliche fügen und versuchen, bei dem Zusammengehen mit Makedonien und den anderen Griechen für Athen politisch und wirtschaftlich so viel herauszuschlagen wie nur möglich.

Aber die Mehrheit des athenischen Volkes teilte diesen Standpunkt nicht. Sie sagte sich zunächst, daß bei einem Eintritt in den allgriechischen Bund Athen sofort alle seine Rechte über andere Griechen aufgeben mußte. Das heißt, Athen mußte darauf verzichten, die schwächeren griechischen Kantone auszubeuten. Gerade an der Küste Makedoniens und oben im Dardanellengebiet hatte Athen stets wichtige Interessen gehabt, und das aufstrebende Makedonien hatte den Athenern ihre Stützpunkte in diesen Gebieten entrissen und sie damit schwer geschädigt. Die Makedonenfreunde in Athen mochten reden, was sie wollten, [72] es blieb Tatsache, daß die geplante Neuordnung Griechenlands von Athen zunächst nur Opfer forderte. Die Aussicht auf den Anteil an der zu erwartenden orientalischen Beute war demgegenüber recht schattenhaft. Weiter verlor Athen mit dem Eintritt in den griechischen Bund das Recht auf seine selbständige Außenpolitik; das stolze athenische Volk sollte sich direkt oder indirekt den Weisungen eines fremden Königs fügen. Athen sollte nicht mehr das Recht haben, seine Interessen selbständig zu vertreten, und schließlich bestand doch eine gewisse Gefahr, daß Philippos oder seine Nachfolger sich einmal in die inneren Angelegenheiten Athens mischen würden, und dann war die Machtstellung des athenischen Proletariats von den Launen eines ausländischen Militärmonarchen abhängig.

Diesen Standpunkt des überlieferten Athenertums, das seine Verfassung und seine Selbständigkeit bis aufs äußerste verteidigen wollte, hat mit glänzender Beredsamkeit Demosthenes vertreten. Demosthenes ist, das muß man zugeben, ein in vielen Dingen kleinlicher und eitler Mensch gewesen. Er nahm es mit der Wahrheit nicht sehr genau und war auch in Geldfragen nicht ganz sauber. Man kann auch beim besten Willen nicht sagen, daß er ein hervorragender Staatsmann oder Stratege gewesen ist. Aber was ihn trotz alledem unsterblich machte, war zunächst seine hinreißende Redegabe und zweitens, was noch wichtiger ist, daß er eine große und würdige Sache in ihrem Untergang vertreten durfte. Mit allen seinen Schwächen wurde Demosthenes doch für die Mit- und Nachwelt die Verkörperung des alten Athen mit seiner proletarischen Demokratie und seiner staunenswerten Volkskultur. Für die äußere und innere Selbständigkeit Athens kämpfte Demosthenes bis aufs äußerste, und in diesem Kampf hatte er die große Mehrheit des athenischen Proletariats und auch weite Kreise des Bürgertums hinter sich.

Für Demosthenes war der König von Makedonien der eine und einzige Feind. Er tat alles, um die sogenannte nationale Einigung unter Führung Makedoniens zu verhindern. Er scheute sich auch nicht, zu diesem Zweck in Verbindung mit dem Perserreich zu treten, also gerade mit der orientalischen Großmacht, welche die geeinten Griechen zerschlagen wollten. Schon diese eine Tatsache zeigt, daß Demosthenes unterliegen mußte; denn die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands nötigte dazu, daß das griechische Volk für seinen Menschenüberschuß den Abfluß eben ins Perserreich suchte. Demosthenes und Athen kämpften für [73] eine verlorene Sache. Aber man hätte sich doch kaum denken können, daß das athenische Proletariat nach einer solchen Vergangenheit einfach widerstandslos seine Selbständigkeit aufgegeben hätte.

Nach mancherlei Kämpfen und Verhandlungen kam es im Jahre 338 zu der entscheidenden Auseinandersetzung. Es war Athen gelungen, noch mehrere andere griechische Republiken zum gemeinsamen Kampf gegen den König von Makedonien zu veranlassen. Die beiden Armeen trafen sich bei Chaironeia in Boiotien. Die überlegene Kriegskunst der Makedonen siegte: unter schweren Verlusten mußten die Athener den Rückzug antreten. Es waren vorwiegend die athenischen Kleinbürger und Bauern gewesen, die in der Schlacht gekämpft hatten; denn die Besitzlosen dienten ja auf der Flotte. Aber sie hatten alle aufopfernd ihre Pflicht getan, weil auch der Mittelstand die Freiheit Athens über alles schätzte. Die Stimmung der Kämpfer von Chaironeia veranschaulicht die Grabschrift der Gefallenen, die in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautet:

 

Zeit, du überschauest alles Menschenschicksal, Freud und Leid.

Das Geschick, dem wir erlagen, künde du der Ewigkeit.

Auf Boiotiens Schlachtfeld sanken wir, gefällt vom Feindesspeere,

Was wir wollten, war, zu wahren unseres heiligen Hellas Ehre.

 

Man sieht aus diesen Versen den Gegensatz, der durch das griechische Volk ging. Während das Bürger- und Bauerntum außerhalb Athens meistens dem Gedanken der nationalen Einigung zujubelte, glaubten die Massen Athens für des „heiligen Hellas“, das ist Griechenlands, Ehre einzutreten, wenn sie ihre republikanische Freiheit gegen die makedonische Monarchie verteidigten. Nach der Schlacht wollten die Anhänger des Demosthenes, gestützt auf die Flotte und die gewaltigen Festungsmauern der Hauptstadt, den Kampf bis aufs äußerste fortsetzen. Aber sie drangen nicht durch: Athen schloß Frieden, verzichtete auf seine Rechte über andere Griechen, trat in den neuen nationalen griechischen Bund ein, behielt aber seine Flotte.

Nach der Niederlage Athens hat Philippos sein erstes Ziel – die Einigung der Griechen – ohne Mühe erreicht. Aber die zweite Aufgabe, die Eroberung des Orients, anzufassen, war ihm nicht mehr vergönnt. Im Jahre 336 fiel er einem Attentat zum Opfer; der Mörder war ein makedonischer Adliger, der eine persönliche Feindschaft gegen den König hatte. Die Eroberung des persischen Reichs durch die geeinten Griechen wurde aber trotzdem durchgeführt; der makedonische Generalstab löste die militärische [74] Aufgabe glatt in wenigen Jahren. Den Namen für diese Erfolge gab der jugendliche Alexander, der Sohn und Nachfolger des Königs Philippos, her. Tatsächlich hat er von Kriegführung und Politik nicht viel verstanden. Aber die Leistungen seiner Feldmarschälle verschafften ihm den Beinamen des „Großen“. Nun lag der ganze Osten von den Dardanellen bis nach Indien für den griechischen Unternehmungsgeist offen da. Hunderttausende von Griechen aller Kantone wanderten innerhalb weniger Jahrzehnte in den Orient aus, um dort neue Existenzen zu suchen und zu finden. Dieser politischen und wirtschaftlichen Weltumwälzung sah Athen mit überkreuzten Armen zu. Es war zwar, wie erwähnt, Mitglied des griechischen Bundes, es beteiligte sich aber an dem Nationalkrieg gegen die Perser so gut wie gar nicht. Im Jahre 323 starb plötzlich König Alexander, ohne einen erwachsenen Erben zu hinterlassen. Man rechnete auf ernste Wirren im makedonisch-griechischen Reich. Diesen Augenblick wollte nun die Demosthenespartei dazu benutzen, um wieder die Selbständigkeit Athens zu erkämpfen. Aber das war ein schwerer politischer Rechenfehler: man hat schon im Jahre 338 gegen Makedonien nichts ausrichten können. Inzwischen hatte der griechisch-makedonische Bund den ganzen Orient erobert, und der makedonischen Regierung standen die Hilfsmittel fast der gesamten Kulturwelt zur Verfügung. Wie wollte Athen gegen eine solche Übermacht aufkommen?

Das Verhängnis nahm denn auch seinen Lauf: die makedonische Reichsflotte siegte über die athenische bei Amorgos, und darauf mußte die Stadt Athen sich der makedonischen Landarmee ergeben. Die makedonischen Generale, in deren Hand nun das Schicksal Athens lag, hatten die ganz richtige Überzeugung, daß der Widerstand Athens gegen das makedonische Königtum vor allem vom Proletariat ausging. So beschlossen sie, der bürgerlichen Reaktion in Athen zum Sieg zu verhelfen. Alle Athener, die weniger besaßen als 2000 Drachmen (= 1600 Goldmark), verloren ihre politischen Rechte. Damit war die Herrschaft des Proletariats beseitigt (322). Die Führer der proletarischen und republikanischen Partei wurden, wenn man sie aufspürte, hingerichtet. Demosthenes entging diesem Schicksal dadurch, daß er sich selbst vergiftete. So ist der Vorkämpfer des alten Athen zusammen mit seinem Staat ins Grab gesunken. Zur Sicherung der Herrschaft der Besitzenden und zur Niederhaltung des Proletariats blieben makedonische Truppen in Athen. [75]

Hand in Hand mit dem politischen ging der wirtschaftliche Verfall Athens. Bisher war es geschäftlich der Mittelpunkt der griechischen Welt gewesen. Aber jetzt hatte das griechische Wirtschaftsgebiet eine ungeheure Erweiterung erfahren; der ganze Orient gehörte nun mit dazu. Damit verlor Athen seine günstige geographische Lage: es war jetzt nicht mehr das Zentrum des griechischen Handels, sondern es war in einen entlegenen Winkel des griechischen Wirtschaftsgebiets gerückt. Der wirtschaftliche Erbe Athens wurde die Insel Rhodos an der Südwestecke Kleinasiens. Rhodos vermittelte den Handel zwischen den Kolonialländern des Griechentums, Syrien und Ägypten, auf der einen Seite und dem griechischen Mutterland und Kleinasien auf der anderen Seite. So wurde Rhodos in wenigen Jahrzehnten groß und reich, während Athen langsam niederging. Dem athenischen Proletariat ist es später noch mehrfach gelungen, auch auf lange Zeiten, seine politische Macht zurückzuerobern. Aber die athenische Flotte war und blieb verloren und ebenso das Geschäftsleben der alten Zeit. Das Athen des 3. und 2. Jahrhunderts ist nicht viel mehr als ein Kleinstaat mit interessanter Vergangenheit, aber ohne wirtschaftlichen und politischen Einfluß auf das Leben des gesamten griechischen Volkes.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 16.

 

1. Wie stellte sich Athen zum Gedanken der Einigung aller Griechen?

2. Welcher Staatsmann vertrat den Standpunkt des alten, selbständigen Athen?

3. Wie stand Athen in der Zeit des Demosthenes zum Perserreich?

4. Warum mußte Athen im Kampfe gegen Makedonien unterliegen?

5. Wie verlief der entscheidende Krieg zwischen beiden Mächten?

6. Welche wirtschaftlichen Folgen hatte die Eroberung des Ostens für das griechische Volk?

7. Wie ist die proletarische Demokratie in Athen zugrunde gegangen?

8. Wodurch erklärt sich der wirtschaftliche Niedergang Athens seit dem Jahre 330?

9. Wer ist der Erbe Athens geworden?