BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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7.

Der Imperialismus des Bürgertums

in Athen.

 

Im Jahre 480 hatte Athen einen neuen Angriff der Militärmacht Persien zu bestehen. Die Perser beherrschten damals ganz Vorderasien; sie saßen in Kleinasien wie in Ägypten, und die persische Regierung hatte gewaltige weltwirtschaftliche Pläne: das ganze Mittelmeer sollte in den Bereich der persischen Reichswirtschaft aufgenommen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte Persien auch Griechenland erobern. Aber es gelang den Athenern, im Bund mit anderen griechischen Staaten, auch diesmal den Angriff der persischen Übermacht abzuwehren. Den Hauptanteil am Sieg hatte die Flotte Athens, die gerade in dem Jahrzehnt vorher außerordentlich vermehrt worden war. Das Bürgertum Athens war sich nämlich mit der Zeit auch seiner Kraft nach außen hin bewußt geworden. Es wollte möglichst weite Gebiete beherrschen, um sie wirtschaftlich ausbeuten zu können. Es wollte dort einen sicheren Absatz für seine Fabrikate und zugleich die Gelegenheit zum billigen und reichlichen Einkauf [28] von Rohstoffen und Lebensmitteln finden. Um diese Ziele zu erreichen, brauchte Athen aber eine starke Flotte. Der erste Athener, der, um dafür einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, imperialistisch gedacht hatte, war der „Tyrann“ Peisistratos gewesen. Seine Gedanken hat in größerem Umfang Themistokles wieder aufgenommen, der klügste und einflußreichste Staatsmann des athenischen Bürgertums um das Jahr 480. Themistokles setzte es durch, daß die Flotte Athens von 50 auf 150 Kriegsschiffe vermehrt wurde. Diese starke Marine sollte zunächst den Angriff Persiens abwehren, auf den man mit Sicherheit rechnen konnte. Dann aber sollte sie für das Bürgertum Athens den gewünschten Profit erkämpfen.

Alles verlief zunächst im Sinne dieses Planes: die Perser wurden besiegt, und dann gründete Athen einen griechischen Bundesstaat, der die meisten Inseln und Küstenstädte des Ägäischen Meeres umfaßte. Auf dem Papier waren die Bundesgenossen mit Athen gleichberechtigt, tatsächlich wurden sie bald von dem führenden Bundesstaat hilflos abhängig. Der athenische Staatsmann, der bei der Ausgestaltung dieses sogenannten Bundes die erste Rolle spielte, war Aristides; ein Mann, der es verstand, die Vertretung der Profitinteressen des athenischen Bürgertums unter dem Mäntelchen der Ehrbarkeit zu verstecken, und der deshalb bis auf den heutigen Tag den Ruf mustergültiger Gerechtigkeit hat. Die Athener haben auf die verschiedenste Art und Weise ihre sogenannten Bundesgenossen ausgebeutet. Zunächst stellten sie den Grundsatz auf, daß die Flotte Athens zum Schutz aller Reichsangehörigen da sei und daß diese deshalb Geld für die athenische Marine zahlen müßten. So leisteten fast alle Gemeinden des Bundes jährlich eine bestimmte Abgabe an Athen. Im ganzen bekam der Staat Athen auf diese Art jährlich ungefähr 2½ Millionen Goldmark; eine sehr erhebliche Summe, wenn man die Kleinlichkeit der damaligen Verhältnisse bedenkt. Überdies war die Kaufkraft des Geldes im alten Athen fast zehnmal so groß wie in Deutschland vor dem Kriege. Mit Hilfe dieses Geldes hat Athen die Kosten seiner zahlreichen Kriege bestritten; denn die Seekriege, um die es sich hier meistens handelte, waren auch schon damals recht kostspielig. Die Flotte Athens war allmählich auf 200 Schiffe vermehrt worden, und wenn diese ganze Streitmacht mobil war, brauchte man allein 30000 Ruderer (150 auf jedes Schiff), die der Staat zu besolden und zu erhalten hatte. [29]

Weiter stellte Athen den Grundsatz auf, daß in fast allen Prozessen, die vor Gerichten der Bundesgenossen spielten, Berufung nach Athen eingelegt werden konnte. Ja, die athenischen Gerichte behielten sich sogar direkt die Entscheidung wichtiger krimineller wie zivilrechtlicher Streitfälle vor. Die Folge davon war, daß ständig Hunderte von Bundesgenossen nach Athen reisen mußten, um dort ihre Prozesse zu erledigen. Der politische Druck, den Athen dadurch auf die Reichsangehörigen ausüben konnte, ist ohne weiteres begreiflich. Aber die Sache hatte auch ihre wirtschaftliche Seite; denn die Bundesgenossen, die durch ihre Prozesse genötigt waren, nach Athen zu kommen, mußten dort auch eine Reihe von Tagen leben, und so ließen sie viel Geld in Athen, wodurch die athenische „Fremdenindustrie“ mächtig aufblühte.

Aber die Athener haben auch ganz unumwunden wirtschaftlichen Zwang gegen ihre Bundesgenossen ausgeübt. Nur einige Beispiele seien dafür hier angeführt. Zum athenischen Reich – das ist der Ausdruck, den man am besten für den angeblichen Bundesstaat anwendet – gehörte auch die kleine Insel Keos. Die Insel hatte das Monopol, daß auf ihr allein in Griechenland der Farbstoff Rötel gewonnen wurde. Nun bestimmte Athen, daß die Leute von Keos ihren Rötel ausschließlich nach Athen und auf einem dazu von der athenischen Regierung bestimmten Schiff liefern durften. Auf diese Weise konnten die athenischen Kaufleute den Preis, den sie an die Erzeuger in Keos zahlten, so niedrig ansetzen, wie sie wollten, und den übrigen Griechen konnten sie wieder den Rötel so teuer verkaufen, wie sie wollten, da sie ja keinen Wettbewerb zu fürchten hatten. Und nebenbei war auch noch der Transport der Ware von Keos nach Athen ausschließlich in der Hand der Athener! Ferner: Athen selbst und viele Gemeinden seines Reichs erzeugten in ihrem eigenen Gebiet nicht genug Brot, um sich zu ernähren, und sie mußten deshalb Getreide aus dem Ausland beziehen. Der wichtigste Kornmarkt für Griechenland war aber damals Südrußland. Wenn nun aber das südrussische Getreide zu den Griechen kommen sollte, so mußte es die Dardanellen-Straße passieren, und die Dardanellen waren in der Hand der athenischen Flotte. Athen kontrollierte dadurch den gesamten Kornhandel zwischen Südrußland und Griechenland. Es sorgte zunächst dafür, daß sein eigener Bedarf an Lebensmitteln reichlich gedeckt wurde, und die anderen Griechen bekamen nur das, was Athen [30] ihnen gnädigst und mit angemessenem eigenen Nutzen erlaubte. Hören wir nun aber, was ein Athener jener Zeit selbst sagte. In einer politischen Flugschrift aus Athen im 5. Jahrhundert vor Christus finden sich folgende Sätze: „Die Produkte der ganzen hellenischen und barbarischen („Barbaren“ nannte man damals die Nicht-Griechen) Welt besitzen allein die Athener; denn wenn irgendeine Gemeinde reich ist an Schiffsbauholz oder an Eisen, Kupfer oder Flachs, wo soll sie es absetzen, wenn der Beherrscher des Meeres (= Athen) nicht damit einverstanden ist? Eben daraus aber bauen wir Athener uns die Schiffe; von dem einen beziehen wir Holz, von dem anderen Eisen, von dem dritten Kupfer, Flachs, Wachs. Anderswohin aber, zu unseren Konkurrenten, lassen wir diese Dinge nicht ausführen. So erhalten wir alle Produkte des Erdbodens ohne eigene Arbeit (gemeint ist damit die Arbeit des Erzeugers) durch das Meer, während keine andere Stadt gleichzeitig zweierlei hat, sondern wo es viel Flachs gibt, ist das Land flach und holzarm, und ebenso wenig findet sich Eisen, Kupfer usw. in demselben Stadtgebiet, sondern das eine hier, das andere da.“

Man sieht also, daß der Besitz der großen Flotte sich für das athenische Bürgertum als sehr nützliche Kapitalanlage erwies. Die Flotte brachte den Athenern die Seeherrschaft: im östlichen Teil des Mittelmeers, sie hielt die Bundesgenossen nieder und sorgte dafür, daß Athen die Rohstoffe und Lebensmittel, die es brauchte, reichlich und zu billigem Preis erhielt. So kam es, daß Athen mit seinen Gewerben und Manufakturen alle anderen Griechen überflügelte. Da überdies die Athener die meisten Handelsschiffe hatten, brachten sie auch den Verkehr in ihre Hand, und als Hauptsitz der Manufakturen und der Schiffahrt Griechenlands wurde Athen auch der Mittelpunkt des griechischen Handels und des griechischen Geldverkehrs. Die Stadt Athen wuchs daher in den Jahrzehnten nach Abwehr des persischen Angriffs erheblich an. Tausende von Fremden aus allen Teilen Griechenlands ließen sich dort nieder. Athen zeigte sich diesen Ausländern gegenüber sehr weitherzig. Es gestattete ihnen ohne weiteres die Niederlassung, und es ließ ihnen persönlich und geschäftlich ganz die gleiche Bewegungsfreiheit wie den eigenen Bürgern. Nur das athenische Bürgerrecht selbst verlieh man solchen Fremden nicht gern. Auch aus dem eigenen athenischen Staatsgebiet zog der Überschuß der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerung in die Hauptstadt, um sich dort [31] eine neue Lebensmöglichkeit zu schaffen. Massenhafte neue geschäftliche Unternehmungen entstanden, und die alten dehnten sich aus. Der Wohlstand des athenischen Bürgertums wuchs schnell; aber ebenso schnell wuchs auch die Zahl derer, die durch ihrer Hände Arbeit diesen Wohlstand erst möglich machten. Die Sklavenarbeiter und die freien Ausländer, die in Athen tätig waren, mußten sich zwar mit ihrer Lage abfinden, aber die freien besitzlosen athenischen Bürger, die im Dienst der athenischen Bourgeoisie standen, begannen ihre Lage immer deutlicher zu begreifen, und allmählich kamen sie zu dem Entschluß, sich die Herrschaft des besitzenden Bürgertums nicht länger gefallen zu lassen.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 7.

 

1. Welchen Nutzen brachte die große Flotte den Athenern?

2. Wie stand Athen zu seinen Bundesgenossen?

3. Wie verschafften sich die athenischen Fabrikanten billige Rohstoffe?

4. Wodurch wurde die Lebensmittel-Versorgung Athens gesichert?

5. Wieso konnten sich die Athener die vielen Handels- und Kriegsschiffe bauen?

6. Wie verhielt sich Athen zu den Ausländern?