BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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4.

Wie der Adel in Griechenland zur Macht gelangte

und sie wieder verlor.

 

Der Kampf der verschiedenen Klassen des Altertums gegenein­ander hat seine merkwürdigste Form in der Republik Athen gefunden. Den Höhepunkt bildete dort der Kampf des Bürgertums gegen das Proletariat im 5. Jahrhundert vor Christus. Ehe wir jedoch die bürgerliche Republik Athen und ihren Sturz durch die Besitzlosen betrachten, müssen wir uns zuvor darüber klar werden, wie denn das Bürgertum selbst in Athen zur Macht gelangt ist. Die bürgerliche Republik ist in Athen, wie überhaupt in den meisten Staaten des alten Griechenland und Italien, auf den Trümmern des Adelsstaats erwachsen. In der frühesten Zeit zerfielen die Griechen wie die alten Italiener in eine Menge einzelner Stämme, von denen jeder ein selbständiges politisches Dasein hatte, jeder Stamm umfaßte ein paar tausend freie Bauern, die alle untereinander gleich an Rechten waren. Die Verfassung war ungefähr ebenso, wie die Einrichtungen aller Naturvölker sind; bei den heutigen Negern und Indianern so gut wie etwa bei den alten Deutschen. Die oberste Gewalt im Stamme hatte die Versammlung aller freien, erwachsenen Männer; daneben gab es einen Rat der Ältesten und einen Häuptling oder Fürsten, der aber keine unumschränkte Gewalt [14] hatte, sondern sich den Vorschlägen der Stammesversammlung und des Rates der Ältesten fügen mußte.

Diese einfachen und gemütlichen Verhältnisse der Urzeit änderten sich aber mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung. Es kam allmählich dahin, daß einzelne Landwirte mehr Grund und Boden hatten als die übrigen, und der entscheidende Moment trat dann ein, als der größere Landwirt es nicht mehr nötig hatte, sein Feld selbst zu bestellen, sondern sich dazu Knechte oder Pächter halten konnte. Er hatte also freie Zeit, während andere für ihn arbeiteten, und diese Muße nutzte er dazu aus, um sich gründlich im Waffenhandwerk zu üben. Er verschaffte sich, dank seinem größeren Besitz, Pferde und schwere kostbare Waffen, und wenn der Stamm einen Krieg hatte mit irgendeinem Nachbarn, dann zeigte sich bald, daß nur die Reicheren im Kampfe wirklich etwas bedeuteten. Hoch zu Roß, in Eisen gehüllt, zogen sie in den Streit, oder sie ließen sich auch in einem besonderen Streitwagen in den Kampf fahren. Im Fechten und Gebrauch der Lanze waren sie kräftig geübt. Der ärmere Bauer dagegen, der den ganzen Tag arbeiten mußte, um sich zu ernähren, hatte keine Übung im Waffengebrauch, er besaß auch nur wenige und schlechte Ausrüstungs­gegenstände und keine Pferde. So mußte er die Überlegenheit des Reicheren anerkennen.

Auf diese Art entstanden bei den alten Griechen und Italienern zwei große Stände: der Kriegerstand, der sich aus den größeren Grundbesitzern zusammensetzte, und daneben der Stand der landarbeitenden Bevölkerung, oder um es kürzer zu sagen: Adel und Bauern. Denn die Angehörigen des Kriegerstandes dünkten sich viel vornehmer und edler als die übrigen Menschen, die hinter dem Pfluge hergehen und Schweine hüten mußten. Sie trieben eifrig Sport und ließen sich von dienstwilligen Dichtern Stammbäume verfertigen, nach denen sie von den Göttern selbst abstammten. Die Waffentaten der adligen Ahnen wurden noch von den spätesten Enkeln gekannt und gerühmt. Der gewöhnliche Bauer dagegen wußte nichts von Ahnen und göttlichen Stammvätern, kein Dichter pries ihn, und er trieb auch keinen Sport. Er gewöhnte sich vielmehr, in dem Adligen seinen geborenen Herrn zu erblicken. Denn die vornehmen Krieger begnügten sich nicht damit, mit Hilfe ihrer guten Waffen und ihrer Fechtgewandtheit den auswärtigen Feind abzuwehren, sondern sie beanspruchten auch, gestützt auf ihren Degen, die Herrschaft im Stamme selbst, und der mangelhaft ausgerüsteten Menge blieb [15] nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Der Adlige aber nutzte seine politische und militärische Macht dazu aus, um seinen Besitz immer mehr zu vergrößern und den Bauern in hilflose Abhängigkeit herabzudrücken.

Die Stammesversammlung blieb bei den Griechen auch in der Zeit der Adelsherrschaft bestehen; aber zu sagen hatte sie nichts. Die Bauern, Hirten, Landarbeiter und Handwerker fanden sich demütig in der Versammlung ein und hörten sich alles an, was die edlen Herren vortrugen und wünschten. Widerspruch wagten sie nicht; denn wer ein kritisches Wort äußerte, bekam mächtige – Prügel. Homer, der größte Dichter des Altertums, hat in der griechischen Adelszeit gelebt; als wandernder Dichter und Rezitator, wie es damals üblich war. Er zog von einem Rittergut zum anderen, trug seine Verse vor und erhielt dafür Unterkunft, Speise und Trank. Es ist begreiflich, daß Homer zu den adligen Herren halten mußte, von denen er lebte. Aber in der Zeit Homers, um 700 vor Christus, begann sich schon der Widerstand der Massen gegen den Adelsdruck zu regen. Da hat dann Homer eine böse Karikatur des frechen Burschen aus dem Volke in der Gestalt des Thersites geschaffen, der die edlen Herren schmäht und dafür jämmerlich verprügelt wird. Aber die Zeit sollte kommen, wo auch der Stock des griechischen Junkers dem arbeitenden Volk nicht mehr imponierte.

So wurde die Volksversammlung in der Adelszeit zu einem bloßen Zerrbild. Der Rat der Ältesten blieb auch meistens bestehen, setzte sich aber nun durchweg aus Adligen zusammen. Endlich die Gewalt des alten Stammesfürsten war den Adligen zu unbequem; so schafften sie diese Stellung ganz ab und führten stattdessen die Republik ein. Gewöhnlich wurde alljährlich der Präsident neu gewählt. In Athen hieß dieser Präsident „Archon“. Selbstverständlich war es stets ein Adliger, und auch die anderen Staatsbeamten mußten aus den Reihen des Adels genommen werden. Was aber ganz besonders wichtig war: auch die Richter gingen durchweg aus dem herrschenden Adelsstand hervor, und man kann sich ungefähr die Urteile vorstellen, die solche Edelleute sprachen, wenn sie den Rechtsstreit eines Klassengenossen mit einem Bauern zu entscheiden hatten.

Wie die wirtschaftliche Entwicklung den Adelsstand bei den Griechen zur Macht gebracht hatte, so sorgte sie auch dafür, daß der Adel zur gegebenen Zeit wieder gestürzt wurde. Der kriegerische Adel war das Ergebnis einer Gesellschaft, die im wesentlichen [16] von der Landwirtschaft lebte. Aber ungefähr seit dem Jahre 700 vor Christus begannen die Griechen auch in größerer Zahl sich anderen Berufen zuzuwenden: Städte blühten auf, Handel, Schiffahrt, Verkehr entwickelten sich, das Handwerk nahm an Leistungsfähigkeit zu, die ersten Manufakturen entstanden. Das gemünzte Geld kam auf, und damit bildeten sich die Anfänge des Geldgeschäfts heraus. In der alten Zeit hatte es nur die beiden Klassen des Adligen und Landmanns gegeben, neben denen die paar Handwerker, Händler usw. ganz in den Hintergrund traten. Nun entwickelt sich aber ein wohlhabendes städtisches Bürgertum, dann ein städtischer Mittelstand und eine städtische arme Bevölkerung. Es war klar, daß diese neuen Klassen sich nicht widerstandslos der Herrschaft der Landjunker fügen würden.

Zwar bewies der griechische Adel eine erhebliche Anpassungs­fähigkeit. Er erkannte jeden reichen Mann als seinesgleichen an, der sich die äußeren Formen der adligen Gesellschaft angewöhnte, die Waffen führen lernte und mit Sport trieb. Wenn solch ein reich gewordener Kaufmann oder Schiffsbesitzer ein vollendeter Edelmann werden wollte, lud er sich einen Dichter ins Haus, und dieser machte ihm für ein gutes Essen den prächtigsten Stammbaum: 15 Ahnen zumindest bis hinauf zu den unsterblichen Göttern im Himmel. Und solche Stammbäume und ihre Inhaber wurden ohne weiteres anerkannt. Der griechische Adel war in dieser Beziehung viel weitherziger als etwa der römische: in Rom ist der Unterschied zwischen Geburts- und Geldadel stets aufrechterhalten worden. In Griechenland dagegen fielen die Begriffe „reich“ und „adlig“ meistens zusammen: in Athen nannte man jeden „Ritter“, der so viel Geld hatte, daß er auf eigenem Pferde in den Krieg ziehen konnte. Ob er aber sein Geld durch die Bewirtschaftung eines Weinberges oder durch den Handel mit Tongefäßen verdient hatte, ob erst er selbst oder schon sein Urgroßvater reich und adlig gewesen war – das machte praktisch kaum einen Unterschied: die Ritter regierten eben, und die anderen hatten zu gehorchen.

Auf diese Weise sog der grundbesitzende Adel Griechenlands das reich gewordene Bürgertum in sich auf. Es war aber nun der politisch rechtlose Mittelstand, dessen Zahl und Selbstbewußtsein ständig wuchs, der sich schließlich mit den Bauern verbündete und so die Macht des Adels brach.

In Athen war freilich um das Jahr 600 vor Christus die politische Macht der Ritter noch unerschüttert, und auch der [17] kluge adlige Präsident der Republik, Solon, hielt es nicht für erforderlich, diesen Zustand zu ändern. Er meinte, es genüge, der ärmeren Bevölkerung, besonders den Bauern, in wirtschaftlicher Beziehung und in der Rechtspflege entgegenzukommen. Solon sorgte dafür, daß das in Athen geltende Privatrecht niedergeschrieben wurde. Bis dahin hatte der Richter einfach nach der Überlieferung und dem Gewohnheitsrecht sein Urteil gesprochen. Nun konnte sich der Bauer und Handwerker in seinen Prozessen wenigstens auf bestimmte Gesetzesparagraphen berufen – das heißt, wenn er sie wußte – und damit war die Klassenjustiz der adligen Richter wenigstens etwas gemildert. Ferner setzte es Solon durch, daß die Bauern, die auf ihr Grundstück Hypotheken aufgenommen hatten, durch Eingreifen des Staates entschuldet wurden. Aber das war alles. Die ärmere Bevölkerung Athens war zwar persönlich frei und die Bauernschaft nunmehr im ungestörten Besitz ihrer Grundstücke; aber politisch blieben die nichtadligen Athener rechtlos. Nach wie vor waren der Präsident der Republik, der Oberst des athenischen Heeres, die Richter und die Mitglieder des Staatsrats stets Edelleute. Es ist klar, daß trotz der Reformen Solons dieser Zustand die Bürger und Bauern nicht befriedigen konnte.

Im Jahre 580 kam es zu einem eigentümlichen Versuch, die Gegen­sätze der Klassen auszugleichen: es wurde ein oberstes Regierungs­kollegium von 9 Männern eingesetzt, bestehend aus 4 Adligen, 3 Bauern und 2 Handwerkern. Aber dieser „Burgfriede“ dauerte nicht lange: der Adel beseitigte wieder die Mitregierung der Bürger und Bauern und behielt die Zügel des Staates selbst in der Hand. Nach einigen anderen Wirren brachte erst das Jahr 545 den endgültigen Zusammenbruch der Adelsherrschaft in Athen.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 4.

 

1. Wie entstand der Adel bei den Griechen?

2. Wie verhielt sich der Adel zu den Fürsten?

3. Welche Rechte hatte die Stammesversammlung in der Adelszeit?

4. Wodurch wurde die Adelsherrschaft erschüttert?

5. Wie verhielt sich der griechische Adel zu den reich gewordenen Bürgern?

6. Wie verhielt er sich zu den armen Bürgern?

7. Wer war Solon und was tat er?