BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Otto Pick

1887 - 1940

 

Texte in der Zeitschrift

«Die Aktion»

 

1918

 

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Seite 348

 

Otokar Brezina

 

Als die deutsche Literatur ihre naturalistische Periode hatte, vor einem Menschenalter beinahe, war bereits der Tschechen gewaltigster Dichter, unter den heute auf Erden Schaffenden der reinsten einer, am Werke, zu singen, was alsbald [von] anderen, Späteren nachgesungen wurde, deren Beispiel sich jetzt den Allwissenden in den Besprechungswinkeln unabweislich aufdrängen wird. Seit Jahr und Tag klingt nun Brezinas Stimme an unsere Seele. Andere, Größere als wir, haben zur rechten Zeit bereits ihren metallischen Ton vernommen. Claudel soll um ihn gewußt haben, als die Gebildeten unter uns noch Jaroslav Vrchlicky für den größten Tschechen hielten und noch nicht aus den Zeitungen erfahren hatten, in welch interessantem Lebensberuf der Dichter der „Verkündigung“ in Österreich und Deutschland waltete.

Brezina ist der Seher unter den Sehenden, der Dichter des gewaltigen Ichs, das alle Geschicke der Menschheit umfaßt, Sichter der irdischen Wunder und ein Ahnender ihrer ewigen Zusammenhänge.

Er singt den Menschen und es ist sein Schöpferisches, was zum Bilde wird. Er singt die Mühe des Tages, herbstliches Welken, das Weib und den Schäfer, den Zermürbten das sanfte Joch der Melancholie – und es sind Gesänge auf die Erschütterungen der Welten, auf den Wandel von Äonen, auf die Ideale der Menschheit, auf die Trauer des Schöpfers, auf den Schmerz des Heiligen …

Er erkennt den Fluch unsrer geheimnisvollen Schuld, er kündet aber und abermals die Erlösung durch das Leiden. Er sieht Haß hinfluten über die Lande, Liebe aus brechenden Blicken strahlen, er singt die ewige Wiederkehr, den zeitlichen Trost der Musik, die Süße der unbelebten Natur, er ist der große Berauschte, der berauschende Sänger der Weltwunder. Und er ist der Mann der hallenden Klage, verschlagen auf dieses Gestirns „verlornen Strand im Meer der Unendlichkeit“, und „Stern, wohin eingehen, die am meisten litten“.

Und wir wollen dereinst daran denken, daß er (im Jahre 1908) die Sätze geschrieben hat: „Neue Liebe, höher und schwindliger als die elementare Urleidenschaft, leuchtet in unseren Tränen und in unserem ekstatischen Lächeln. Das Herz der Menge (der geheimnisvolle Stundenzeiger in der Ewigkeit) hebt an, nie zuvor gefühltes Entsetzen zu empfinden: Entsetzen vor Brudermorden; es beginnt Sehnsucht nach Frieden zu verspüren, ein königliches Recht auf den Traum vom Glück, von Freiheit und Beherrschung der Erde … Über alle Ermattung der Skepsis, Verzweiflung der Liebenden, über alle Schuld hinaus, deren ungesühntes Verschweigen ganze Geschlechter beschwert, wächst der Mensch zu einer Einheit auf der ganzen Erde heran.“