Carl Niessen
1890 - 1969
Faust auf der Bühne
1929
Quelle:Westermanns Monatshefte,Band 146, I; Heft 871, S. 54 - 64Braunschweig 1929
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In Frau Marthens Garten Kolorierte Umrißzeichnung von Moritz Retzsch (Sammlung Stumme)
Carl Nießen, KölnFaust auf der Bühne.Ein Jahrhundert Inszenierungsgeschichte.Mit zehn mehrfarbigen Abbildungen nach Szenenentwürfen. Schon als das deutsche Theater daranging, Shakespeare zu erobern, waren die Mittel der Bühnen nicht reif, dem dramatischen Gefüge szenisch gerecht zu werden; die Dichtung wurde den Unzulänglich-keiten des Theaters so angepaßt, daß Goethe selbst an der theatralischen Geltung des großen Dramatikers ernsthaft zweifelte. Noch ganz andre Aufgaben stellte der «Faust». Er hatte das aus der Begeisterung für Shakespeare gewonnene lockere Szenengefüge des «Sturm und Drang», von allen Einheiten nur die der Person. Aber selbst diese schien durch Fausts Verjüngung gefährdet. Himmel und Hölle greifen in das Geschehen ein. Mit den Mitteln der Zauberoper und des Opernzaubers war hier nicht durchzukommen, da das geistige Schwergewicht der Dichtung im Vergleich mit dem auf der Bühne Möglichen Anlaß zu stets erneuter Skepsis der Bühnenfähigkeit des Faust war. Über zwei Jahrzehnte lang, nachdem der erste Teil 1808 erschienen war, hatte man eine sehr bequeme Ausrede mit der Meinung, daß Faust gar nicht für die Bühne bestimmt sei und daß er eine Art von Zwischengattung, ein «dramatisches Epos», darstelle.Die bildende Kunst ging in der Versinnlichung des Faust voran, und es wird für die Frühzeit der Faust-Inszenierungen bezeichnend, daß sie nachhaltig durch die Faust-Illustration bestimmt ist. Nach Eckermanns Ausspruch war vom Dekorationsmaler bis zum Schneider niemand über die körperliche Erscheinung der Hauptcharaktere und die Örtlichkeiten im ungewissen. Als Goethe sich an der Schwelle des zweiten Jahrzehnts «verleiten» ließ, neben dramaturgischen Anpassungen bereits das Dekorative zu bedenken, entstanden sechs Zeichnungen zum ersten Teil, die ganz deutlich verraten, wo die besonderen Schwierigkeiten lagen, in den Szenen des Eingreifens außermenschlicher Gewalten, im Prolog im Himmel, im Erdgeist, in des Pudels Metamorphose, in der Hexenküche und der Walpurgisnacht. Durch die bildende Kunst zeigt sich Goethe hier schon eklektisch bestimmt. Putten Raphaels gesellen sich zu einem klassizistischen Jupiter als Herrn; die Erdgeist-Erscheinung ist ein strahlender Apoll; der riesige Pudelkopf erinnert in der Art, wie er gegen eine gotische Bogenöffnung steht, an die auf Faust gedeutete Nigromantenradierung Rembrandts, und sogar Rembrandts magisches Kreiszeichen wird über dem Kopf sichtbar. Bemerkenswerter noch als diese Anlehung an alte Kunst ist das Nachbilden von Faust-Illustrationen, die dem Dichter eben erst bekannt geworden waren. Die ganze Himmelsszenerie erinnert an den Zeichner Retzsch, ebenso wie der Entwurf zur Hexenküche. Wenn Goethe im Szenar eines Weimarer Aufführungsplanes von 1812 das Zwingergebet und die Brunnenszene zusammenlegt, so kann vermutet werden, daß es durch die Anregung einer Zeichnung von Cornelius geschah.
Gretchens Zimmer von Friedrich Schinkel Für die Privataufführung des Fürsten Radziwill (Nationalgalerie Berlin)
Als der Fürst Radziwill die in Weimar mißglückte Taktik, den Faust stückweise für die Bühne zu erobern, im Rahmen eines aristokratischen Liebhabertheaters aufgriff, stand ihm ein hervorragender künstlerischer Beirat zur Seite: kein Geringerer als Friedrich Schinkel. In Fausts Studierzimmer und Gretchens Kammer werden geschlossene, nicht aus Kulissen, sondern aus Wänden gebaute Dekorationen verwendet. Wie Schinkels etwas preußisch kühler Entwurf des Gretchenszimmers zeigt, ist das Vorbild der seit 1816 außerordentlich verbreiteten Umrisse des Dresdners Retzsch unverkennbar. Als es Klingemann am 19. Januar 1829 wagte, nach dreimonatiger Vorbereitung den ersten Teil in ziemlicher Ganzheit zur eigentlichen Uraufführung zu bringen, zeigte sich das Vorbild der Faust-Illustration so beherrschend, daß ein Kritiker schrieb, die Umrisse seien im Laufe des Spiels, «ohne steif und vorbereitet zu erscheinen», aufgetaucht. Eine als Unikum in der Faustsammlung Stumme erhaltene kolorierte Folge der Blätter von Retzsch gibt uns eine Vorstellung davon, wie diese Uraufführung gestaltet gewesen sein mag. In den Kalenderkupfern nach Ramberg fand Retzsch einen Nebenbuhler, denn Klingemann verweist für die Versinnlichung von Fausts Traumbildern auf die Kupfer von Ramberg; das Zwingergebet verlegt er wie Ramberg in den Dom, und wenn er am Ende einen in der Folge sehr zählebigen Cherub herabschweben läßt, so darf an die gleiche Anregung gedacht werden. Als Tieck im selben Jahre in Dresden den Faust für die Bühne einrichtete, genügte ihm für den Osterspaziergang ein einfacher Hinweis auf Retzsch, mit dessen Hexenküchen-Requisiten noch Immermann in bemerkenswerter Vollständigkeit aufwartete. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war bei solcher musivischer Anlehnung an eine stilbildende Kraft in der Faust-Inszenierung nicht zu denken. Das bei Gelegenheit der Goethe-Feier von 1849 gezogene Fazit ist ein außerordentlich beschämendes, indem von erneuter Beschränkung auf die Rezitation geredet wird, die den Faust-Aufführungen vorangegangen war, denn «der Faust auf der Bühne mit all dem jämmerlichen Beiwerk, das dieser angehört, und mit den Kräften, wie sie die Jetztzeit bietet, heißt das Riesenwerk zur Puppenkomödie herabwürdigen». Noch nicht einmal über die allgemeine Auffassung des ersten Teils war man sich klar geworden, und meist spielte man den ersten Teil, als ob es keinen zweiten gäbe, indem man ihn mit einer Art von Höllenfahrt mit unerwünschter Annäherung an das alte Volksschauspiel vom Doktor Johann Faustus darstellte. Auch über die Grenze des Darstellbaren herrschte keine volle Klarheit. In Dresden hatte man wenigstens versucht, von der Walpurgisnacht ein «spectacle de décoration» zu retten, wie man es ähnlich auch wohl in Berlin erwogen haben mag, denn ein im Kölner Theatermuseum erhaltener Entwurf für ein Prospektgemälde mit Hexengetriebe und Faust und Mephisto als Staffage stammt von dem Maler Gerst, der Dekorationen beisteuerte, als das Berliner Hoftheater sich endlich 1838 dazu entschloß, den von Seydelmann eingerichteten ersten Teil zu inszenieren. Der Prolog im Himmel kam erst 1856 in Bremen und Leipzig auf die Bühne, während er sich in Dresden sogar erst 1897 durchsetzte.
Fausts Studierzimmer für die Prager Aufführung von Johann Kautsky
Oberster Grundsatz war, glatten Ablauf der offenen Verwandlung zu erzielen, und sei es auch noch so sehr auf Kosten der Dichtung. Um den schon durch den Stimmungsgehalt notwendigen Wechsel der Schauplätze einzuschränken, erfand man in Dresden und in Berlin die Sammeldekoration einer Straße mit Kirchhof, die zugleich Valentins Tod und die Domszene umspannte. Den Luxus durchgehend neuer Gestaltung leistete man sich nur für die Oper, von deren Überfluß die Faust-Inszenierung leben mußte. Es ist bezeichnend genug, daß Eduard Devrient, der in seinem Reformprogramm von 1848 beklagt, daß man in derselben Szene aus dem Fundus zusammengeraffte Kulissen und Setzstücke von dreifach grell verschiedener Manier verwende, es in seiner Karlsruher Bühnenleitung nicht anders machte: für die Straße nahm er ein Portal aus «Lohengrin» mit bloß gemalter Treppe, Gretchen wohnte in einem Hause aus der «Jüdin» und Frau Marthe war bei Shylock einquartiert. Man hatte so wenig Gefühl für die aus einer Szene zu gewinnende spezifische Raumstimmung, daß Schinkels vom Berliner Hoftheater übernommenes Gretchenzimmer z. B. zur Oper «Columbus» diente und schließlich sogar noch das Darland-Zimmer im «Fliegenden Holländer» abgab. Es wurde nicht erkannt, daß die Architektur der Bühne im Faust, wie z. B. beim Studierzimmer und Dom, geradezu tätig in die Handlung einzugreifen scheint. Wenn man nur genug von phantastischem Apothekerkram und ausgestopften Tieren addiert hatte, glaubte man schon Fausts Gemach gestaltet zu haben. Kein Wunder, daß Kellers junger Grüner Heinrich erst einmal durch die neue Dekoration von der Handlung abgelenkt wird, um den Krimskrams zu mustern, der von dem Kronjuwel der Bühne den Menschen ablenkt.Mit welch gnadenloser Oberflächlichkeit manche Faust-Inszenierung unternommen wurde, lehrt das Beispiel der Berliner Aufführung. Statt der Vorfrühlingsstimmung des Osterspaziergangs sah man üppige Waldbogen, Auerbachs Keller zeigte vorn ein Stück Kirche mit Heiligenbild und Weihwasserbecken, während in Gretchens Zimmer die noble Ausstattung reichlich «frisch angestrichen und scheuerfest» wirkte. Statt den «süßen Dämmerschein» empfinden zu lassen, dehnte sich ein übergroßer Raum, der mehr Wartesaal dritte Klasse war als stilles Mädchen-«Heiligtum». Angesichts all der optischen Uneinheit-lichkeit erkennt man, wie notwendig die szenische Reform des Herzogs von Meiningen war, denn er verstand es, neben der Pflege des natürlichen Zusammenspiels einheitliche malerische Atmosphäre zu schaffen. Aber selbst sein Wollen mußte der Faust-Inszenierung zum Verhängnis werden, denn man guckte ihm nur die Äußerlichkeiten ab und trieb Unfug mit Statistenmassen und Traumbilder-Ballett-Evolutionen. Auch Wagners Beispiel blieb nicht ohne Nachfolge. In manchen Einzelheiten lehnt sich Dingelstedts Projekt einer festlichen Faust-Trilogie an Wirkungen Wagners an.
Faust auf Otto Devrients Mysterienbühne (Weimar 1876) Gemalt von Karl Fischer
Einen bemerkenswerten Versuch machte Otto Devrient zum erstenmal 1876, indem er beide Teile des Faust auf einer sogenannten «Mysterienbühne» gab, deren Grundaufbau der «Sommernachts-traum»-Bühne Tiecks deutlich glich. Zwei Treppen führten von der Bühnenebene zu einer Brücke, die noch durch einen Podest, die «Zinne», überhöht war. So wie Tieck mehr als dreißig jahre früher geglaubt hatte, die englische Volksbühne mit moderner Szenenmalerei verbinden zu können, wollte Devrient die (geschichtlich falsche) Hypothese einer dreistöckigen Mysterienbühne auf die Guckkasten-bühne übertragen. Entschiedener Gewinn war lebhaftes Auf und Ab im Raum, weniger erfreulich war die Zusammenlegung aller Schauplätze der Gretchentragödie bis zur Walpurgisnacht in einem Bilde. In Gretchens Stübchen schaute man durch die geöffnete Fensterwand. Devrients szenischer Gedanke war von nachhaltiger Wirkung. In Leipzig hält sich seine Einrichtung bis ins neue Jahrhundert, und noch in Mardersteigs Kölner Inszenierung zeigte die unter freiem Himmel gespielte Kerkerszene neben dem Faust-Palast den Einfluß dieser Schichtung der Bühnenebenen.
Osterspaziergang für die Düsseldorfer Goethe-Festspiele 1903 Von Georg Hacker (Theatermuseum Köln)
Mephisto Entwurf für das Münchner Künstlertheater 1908 von Fritz Erler (Theatermuseum Köln)
Hauptfehler aller Faust-Inszenierungen war zu weitgehendes Streben der Versinnlichung, immer entschiedener wollte man die «vollkommene Illusion», statt sich an produktive Kräfte der Phantasie zu wenden. Die ersten Fortschritte waren rein malerische; in den Düsseldorfer Goethe-Festspielen 1903 wurde der Anschluß an die Freilichtmalerei gesucht. Entschiedene Abwendung von allem Herkommen bedeutete Erlers Faust-Lösung für das Münchner Künstlertheater 1908. Die bloße Vortäuschung eines Raumes durch perspektivisch bemalte Flächen wurde vermieden, indem durch seitliche plastische Türme ein Spielfeld des wirklichen Raumes geschaffen wurde, wie es ähnlich Roller bereits 1904 in Wien auf seiner Mozartbühne angestrebt hatte. Erler schwebte der große Gedanke vor, den Weg zu einer nationalen «Skene» bahnen zu helfen. Alle malerische Zutat wurde aufs äußerste vereinfacht. Eine Wiener-Burgtheater-Inszenierung war mit einem nur aus Vorhängen gegliederten Kaisersaal vorangegangen; das Düsseldorfer Schauspielhaus hatte bei dem Prolog im Himmel mit der üblichen Engelschar vor pappenen Wolken gebrochen: die drei Erzengel standen einfach vor dem faltigen Stoffhintergrund.
Fausts Studierzimmer für das Lessingtheater in Berlin von Lovis Corinth, Zeichnung von Hanns Haas (Theatermuseum Köln)
Max Reinhardt versuchte Verwirklichung des Raumes mit andern Mitteln als die Münchner «Reliefbühne», indem er die Malerei plastisch aus sich hervortreten ließ und bis zur erschöpfenden Tastbarkeit der kulturhistorischen Realität gelangte. Sein auf der Drehbühne kreisender Aufbau des ersten Teiles war im Entstehen schon ein Endpunkt, so gut wie die künstlerische Bankrotterklärung der Faust-Inszenierung zur Eröffnung des neuen Weimarer Theaters, die Max Brückner, der Lieferant Wagners, bestritten hatte. Der ebenfalls von Roller gestaltete zweite Teil fand mehr den Anschluß an die neuen Prinzipien der Steigerung der Form.Im Gegensatz zur früheren materiellen Belastung bedeutet die Folge Entsinnlichung, um geistiges Auswirken zu fördern. Karl Zeiß ließ in Frankfurt den Urfaust ganz zwischen Vorhängen spielen.
Osterspaziergang von Johannes Schröder Skizze für die Bochumer Goethe-Woche 1928 (Theatermuseum Köln)
Die drei Patres (Faust 2. Teil) von Hans Wildermann, Bühnenbild für eine Sonderaufführung des 5. Aktes (Theatermuseum Köln)
Von der Wirklichkeit bleibt nur der Anstoß der Phantasie, und statt des kulturhistorischen Bilderbogens begnügt sich ein Künstler wie Johannes Schröder mit einer Architektur von ornamentaler Haltung. Bei Hans Wildermann schmiegen sich die Bäume wie Pfeiler eines gotischen Domes ineinander. Früher belebte man den Bühnenbogen höchstens durch Setzstücke malerisch und ging mit Praktikabeln höchst sparsam um; jetzt fordert die neue Bühnenkunst plastische Durchbildung des Bodens. Gesteigertem Ausdruck soll alles dienen, z. B. der symbolhaft geformte Rahmen, der sich im zweiten Teil der großen Welt wieder weitet, oder leichte Abwandlungen eines grundlegenden Stufenbaues, der zum szenischen Generalnenner wird.
Prolog im Himmel von Ludwig Sievert für das Schauspielhaus in Köln (1929)
Das Wort des Vorspiels, daß an unsren deutschen Bühnen ein jeder probiert, was er mag, hat seine Geltung für die Faust-Inszenierung nicht verloren. Starke Gegensätze sind unverkennbar. Während die jüngste Inszenierung des Wiener Burgtheaters die drei Engel als Goldplastiken gibt, sind sie bei Ludwig Sievert nur Projektion, und Jeßner verzichtet ganz auf ihre Versinnlichung, indem Mephisto mit großen Flügeln als Schattenriß vor dem abendlich erglühten leeren Himmelsgewölbe auftaucht. -Gewiß ist, daß das Jahrhundert der Inszenierungsgeschichte des Faust, das sich jetzt auf der Braunschweiger Faust-Ausstellung den Blicken der Besucher zu fast lückenlosem Überblick darbietet, Fortschritte genug angebahnt hat. Möge das zweite Faust-Jahrhundert die Darsteller finden, die den szenischen Mitteln den letzten Sinn geben. |