BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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24

Agathe ist wirklich da

 

Am Abend dieses Tags traf ein Telegramm ein, und am nächsten Nachmittag Agathe.

Ulrichs Schwester kam nur mit wenigen Koffern an, so wie sie es sich ausgemalt hatte, alles hinter sich zu lassen; immerhin entsprach die Anzahl der Koffer nicht ganz dem Vorsatz: Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Als Ulrich von diesem Vorsatz erfuhr, lachte er darüber: sogar zwei Hutschachteln waren dem Feuer entronnen.

Agathes Stirn bekam den lieblichen Ausdruck einer Kränkung und vergeblichen Nachdenkens über sie.

Ob Ulrich recht hatte, als er den unvollkommenen Ausdruck eines Gefühls bemängelte, das groß und hinreißend gewesen war, blieb dabei ungewiß, denn Agathe verschwieg diese Frage; Fröhlichkeit und Unordnung, wie sie durch ihre Ankunft unwillkürlich erregt wurden, rauschten ihr in Ohren und Augen, wie ein Tanz um eine Blechmusik schwankt: sie war sehr heiter und fühlte sich leicht enttäuscht, obwohl sie nichts Bestimmtes erwartet und sich während der Reise sogar mit Absicht aller Erwartungen enthalten hatte. Sie wurde nur plötzlich sehr müde, als sie sich an die vergangene Nacht erinnerte, die sie durchwacht hatte. Es war ihr recht, daß ihr Ulrich nach einiger Zeit gestehen mußte, er habe, als die Nachricht von ihr eingetroffen sei, eine auf den heutigen Nachmittag gelegte Verabredung nicht mehr abändern können; er versprach, in einer Stunde wieder zurück zu sein, und bettete seine Schwester mit einer zum Lachen reizenden Umständlichkeit auf den Diwan, der in seinem Arbeitszimmer stand.

Als Agathe erwachte, war die Stunde längst schon um, und Ulrich fehlte. Das Zimmer war in tiefe Dämmerung getaucht und erschien ihr so fremd, daß sie über den Gedanken erschrak, sie befände sich doch mitten in dem von ihr erwarteten neuen Leben. Soviel sie wahrnehmen konnte, waren die Wände von Büchern bedeckt wie früher die ihres Vaters und die Tische mit Schriften. Sie schloß neugierig eine Tür auf und betrat den benachbarten Raum: Sie traf dort auf Kleiderschränke, Stiefelkasten, den Boxball, Hanteln, eine schwedische Leiter. Sie ging weiter und kam wieder zu Büchern. Sie gelangte zu den Wassern, Essenzen, Bürsten und Kämmen des Badezimmers, zu ihres Bruders Bett, zu dem jagdlichen Schmuck im Hausflur. Ihre Spur war durch aufflammendes und verlöschendes Licht gekennzeichnet, aber der Zufall wollte es, daß Ulrich nichts davon bemerkte, obwohl er schon im Hause war; er hatte den Vorsatz, sie zu wecken, aufgeschoben, um ihr länger Ruhe zu gönnen, und stieß nun mit ihr in der Treppenhalle zusammen, zu der er aus der wenig benutzten, unter der Erde gelegenen Küche emporkam. Er hatte sich dort nach einer Erfrischung für sie umgesehen, da es an diesem Tag kraft fehlender Voraussicht selbst an der notwendigsten Bedienung im Hause gebrach. Als sie nebeneinander standen, fühlte Agathe erst die bisher ohne Ordnung empfangenen Eindrücke sich zusammenfassen, und es geschah mit einem Unbehagen, das sie verzagt machte, als wäre es das beste, sogleich Fersengeld zu geben. Es war etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte.

Ulrich, der es bemerkte, entschuldigte sich dafür und gab scherzhafte Erklärungen. Er erzählte, wie er zu seiner Wohnung gekommen sei, und erläuterte deren Geschichte im einzelnen, mit den Hirschgeweihen beginnend, die er besaß, ohne auf die Jagd zu gehen, bis zum Boxball, den er vor Agathe tanzen ließ. Agathe sah sich alles mit beunruhigendem Ernst noch einmal an und wandte sogar jedesmal, wenn sie einen Raum verließen, prüfend den Kopf zurück: Ulrich wollte dieses Examen ergötzlich finden, aber mit der Wiederholung wurde ihm seine Wohnung dadurch peinlich. Es zeigte sich, was sonst von Gewohnheit verdeckt war, daß er nur die nötigsten Räume bewohnte und die übrigen wie ein nachlässiger Aufputz an diesen hingen. Als sie nach dem Rundgang beisammen saßen, fragte Agathe: „Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?“

Ihr Bruder versorgte sie mit Tee und allem, was das Haus bot, und ließ es sich nicht nehmen, sie wenigstens nachträglich wirtlich zu empfangen, damit diese zweite Begegnung an leiblicher Aufmerksam­keit nicht hinter der ersten zurückstehe. Hin und her laufend, beteuerte er: „Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt.“

„Aber es ist ja doch alles sehr hübsch“ tröstete ihn jetzt Agathe.

Nun meinte Ulrich, daß es anders wahrscheinlich noch schlechter ausgefallen wäre. „Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind“ erklärte er. „Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!“

Und Agathe sagte: „Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.“

„Trotzdem kann es ja nicht so bleiben“ berichtigte Ulrich. Er saß jetzt bei ihr am Tisch, und schon damit, daß sie nun immer gemeinsam essen sollten, waren eine Menge Fragen verbunden. Er war eigentlich erstaunt über die Erkenntnis, daß nun wirklich vieles anders werden müsse; er empfand es als eine ganz ungewohnte Leistung, die ihm abverlangt wurde, und hatte anfangs den Eifer des Neulings. „Ein Mensch allein“ entgegnete er auf die nachsichtige Bereitwilligkeit seiner Schwester, alles zu lassen, wie es sei „kann eine Schwäche haben: sie geht zwischen seine übrigen Eigenschaften ein und in ihnen unter. Aber wenn zwei eine Schwäche teilen, so bekommt sie im Vergleich mit den nicht gemeinsamen Eigenschaften das doppelte Gewicht und nähert sich einem gewollten Bekenntnis.“

Agathe konnte das nicht finden.

„Mit einem andern Wort, wir dürfen doch als Geschwister manches nicht tun, was wir uns als Einzelne gestattet haben; gerade darum sind wir ja zusammengekommen.“

Das gefiel Agathe. Dennoch tat ihr die verneinende Fassung, daß man bloß beisammen wäre, um etwas nicht zu tun, nicht genug, und nach einer Weile fragte sie, auf seine von vornehmen Lieferanten zusammengetragene Einrichtung zurückkommend: „Ich verstehe es doch noch nicht ganz. Warum hast du dich eigentlich so eingerichtet, wenn du es nicht richtig gefunden hast?“

Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam und so wunderlich gegenwärtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nähe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plötzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint. „Warum ich es getan habe?“ erwiderte er lächelnd. „Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich, weil man es ebensogut anders hätte machen können. Ich habe keine Verantwortung gefühlt. Weniger sicher wäre es, wenn ich dir erklären wollte, daß die Unverantwortlichkeit, in der wir heute unser Leben führen, schon die Stufe zu einer neuen Verantwortung sein könnte.“

„Auf welche Art?“

„Ach, auf vielerlei Art. Du weißt doch: das Leben einer einzelnen Person ist vielleicht nur eine kleine Schwankung um den wahrscheinlichsten Durchschnittswert einer Serie. Und ähnliches.“

Agathe hörte nur das, was ihr daran klar war. Sie sagte: „Dabei kommt ‚Recht hübsch‘ und ‚Sehr hübsch‘ heraus. Man spürt es bald nicht mehr, wie abscheulich man lebt. Aber manchmal ist es gruselig, als ob man scheintot in einer Leichenhalle aufwachte!“

„Wie warst denn du eingerichtet?“ fragte Ulrich.

„Spießerisch. Hagauerisch. ‚Ganz hübsch.‘ Ebenso unecht wie du!“

Ulrich hatte indes einen Bleistift genommen und entwarf damit auf dem Tischtuch den Grundriß des Hauses und eine Neueinteilung der Räume. Das ging leicht und war so rasch getan, daß Agathes hausmütterliche Bewegung, das Tuch zu schützen, zu spät kam und zwecklos auf seiner Hand endete. Die Schwierigkeiten stellten sich erst wieder bei den Grundsätzen der Einrichtung ein. „Wir haben nun einmal ein Haus“ verwahrte sich Ulrich „und müssen es für uns beide anders einrichten; aber im ganzen ist diese Frage heute überholt und müßig. ‚Ein Haus machen‘ täuscht eine Schauseite vor, hinter der sich nichts mehr befindet; die sozialen und persönlichen Verhältnisse sind nicht mehr fest genug für Häuser, es bereitet keinem Menschen mehr ein ehrliches Vergnügen, Dauer und Beharrung nach außen darzustellen. Früher einmal hat man das getan und durch die Zahl der Zimmer und Diener und Gäste gezeigt, wer man sei. Heute fühlt fast jeder, daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist, und die jungen Leute lieben entweder die nackte Einfachheit, die wie ein unmöbliertes Theater ist, oder sie träumen von Schrankkoffern und Bobmeisterschaft, vom Tennischampionat und vom Luxushotel an der Autokarawanenstraße mit Golflandschaft und fließender Musik zum Auf- und Zudrehen in den Zimmern.“ So sprach er, und tat es ziemlich unterhaltungsmäßig, als hätte er eine Fremde vor sich; er redete sich eigentlich an die Oberfläche empor, weil ihn die Verbindung von Endgültigkeit und Anfänglichkeit in diesem Beisammensein verlegen machte.

Aber nachdem sie ihn hatte zu Ende reden lassen, fragte seine Schwester: „Schlägst du also vor, daß wir im Hotel leben sollen?“

„Ganz gewiß nicht!“ beeilte sich Ulrich zu versichern. „Höchstens hie und da auf Reisen.“

„Und für die übrige Zeit wollen wir uns eine Laubhütte auf einer Insel oder eine Blockhütte im Gebirge baun?“

„Wir werden uns natürlich hier einrichten“ antwortete Ulrich ernster, als es diesem Gespräch zukam. Die Unterhaltung verstummte eine kleine Weile, er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Agathe tat, als hätte sie etwas an dem Saum ihres Kleides zu schaffen, und bog den Kopf aus der Linie, auf der sich ihrer beider Blicke bisher vereinigt hatten. Plötzlich blieb Ulrich stehn und sagte mit einer Stimme, die schwer hervorkam, aber aufrichtig war: „Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle ‚wie soll ich leben?‘“

Auch Agathe hatte sich erhoben, sah ihn aber noch immer nicht an. Sie zuckte die Achseln. „Man muß es versuchen!“ sagte sie. Das Blut war ihr in die Stirn gestiegen; als sie den Kopf hob, waren ihre Augen aber blank und übermütig, und nur auf den Wangen zögerte die Röte als davonziehende Wolke. „Wenn wir beisammen bleiben wollen,“ erklärte sie „wirst du mir vor allem auspacken, einräumen und umkleiden helfen müssen, denn ich habe nirgends ein Hausmädchen gesehn!“

Das schlechte Gewissen fuhr ihrem Bruder nun wieder in Arme und Beine und machte sie galvanisch beweglich, unter Agathes Anleitung und Mithilfe seine Unachtsamkeit gutzumachen. Er räumte Schränke aus, wie ein Jäger ein Tier ausweidet, und verließ sein Schlafzimmer mit dem Schwur, daß es Agathe gehöre und er selbst irgendwo einen Diwan finden werde. Lebhaft trug er die Gegenstände des täglichen Bedarfs hin und her, die bisher still wie die Blumen eines Ziergartens auf ihren Plätzen gelebt hatten, der wählenden Hand als einziger Veränderung ihres Schicksals gewärtig. Anzüge häuften sich auf Stühlen, auf den Glasborden des Badezimmers wurde durch sorgfältiges Zusammen­schieben aller der Körperpflege dienenden Geräte eine Herren- und eine Damenabteilung geschaffen; als alle Ordnung einigermaßen in Unordnung gebracht war, standen schließlich nur noch die leuchtenden Lederpantoffeln Ulrichs verlassen auf der Erde und sahen aus wie ein gekränkter Schoßhund, der aus seinem Körbchen geworfen worden ist, ein Jammerbild der zerstörten Bequemlichkeit in ihrer so angenehmen wie nichtigen Natur. Es fand sich aber nicht Zeit, davon berührt zu werden, denn schon kamen nun Agathes Koffer an die Reihe, und so wenig ihrer gewesen zu sein schienen, so unerschöpflich waren sie an fein zusammengefalteten Dingen, die sich im Hervorgehn ausbreiteten und an der Luft nicht anders aufblühten als die Hunderte Rosen, die ein Zauberer aus seinem Hut zieht. Sie mußten aufgehängt und gelegt, geschüttelt und geschichtet werden, und weil Ulrich auch mithalf, geschah es mit Zwischenfällen und Lachen.

Bei allen diesen Beschäftigungen konnte er aber eigentlich nichts anderes denken als ununterbrochen das eine, daß er sein Leben lang und noch vor wenigen Stunden allein gewesen sei. Und nun war Agathe da. Dieser kleine Satz: „Agathe ist jetzt da“ wiederholte sich in Wellen, erinnerte an das Staunen eines Knaben, dem ein Spielzeug geschenkt worden ist, hatte etwas den Geist Hemmendes an sich, aber anderseits auch eine schier unbegreifliche Fülle an Gegenwart, und führte, alles in allem, immer wieder auf den kleinen Satz zurück: „Agathe ist jetzt da.“ „Sie ist also groß und schlank?“ dachte Ulrich und beobachtete sie heimlich. Aber das war sie gar nicht: sie war kleiner als er und in den Schultern von einer gesunden Breite. „Ist sie anmutig?“ fragte er sich. Das ließ sich nun auch nicht sagen: ihre stolze Nase zum Beispiel war, von der einen Seite gesehn, ein wenig aufgebogen; davon ging ein weit kräftigerer Reiz aus als Anmut. „Ob sie am Ende schön ist?“ fragte sich Ulrich in einer etwas wunderlichen Weise. Denn diese Frage fiel ihm nicht leicht, obwohl Agathe, wenn man alles Konventionelle beiseite ließ, eine fremde Frau für ihn war. Ein inneres Verbot, eine Blutsverwandte nicht mit männlicher Liebe anzusehn, gibt es ja nicht, das ist nur Sitte oder auf Umwegen der Moral und Hygiene begründbar; auch hatte der Umstand, daß sie nicht gemeinsam erzogen worden waren, zwischen Ulrich und Agathe das sterilisierte Geschwister­empfinden, wie es in der europäischen Familie herrscht, am Entstehen verhindert; trotzdem genügte schon das Herkommen, ihre Empfindungen für einander, auch die arglose der nur gedachten Schönheit, anfangs einer äußersten Spitze zu berauben, deren Fehlen Ulrich in diesem Augenblick an seiner deutlichen Verblüffung spürte. Etwas schönfinden, heißt ja wahrscheinlich vor allem, es finden: mag es eine Landschaft oder eine Geliebte sein, da liegt es, blickt dem geschmeichelten Finder entgegen und scheint einzig und allein nur auf ihn gewartet zu haben; und so, mit diesem Entzücken darüber, daß sie nun ihm gehöre und von ihm entdeckt sein wollte, gefiel ihm seine Schwester wohl über alle Maßen, aber er dachte doch: „Wahrhaft schön finden kann man seine eigene Schwester nicht, es kann höchstens schmeicheln, daß sie anderen gefällt.“ Aber dann hörte er, wo früher Stille war, minutenlang ihre Stimme, und wie war ihre Stimme? Wellen von Duft begleiteten die Bewegung ihrer Kleider, und wie war dieser Geruch? Ihre Bewegungen waren bald Knie, bald zarter Finger, bald Widerspenstigkeit einer Locke. Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. Es war da, wo zuvor nichts gewesen war. Der Unterschied an Eindringlichkeit zwischen dem lebhaftesten Augenblick, wo Ulrich an seine zurückgelassene Schwester gedacht hatte, und dem leersten der gegenwärtigen Augenblicke bedeutete noch eine so große und deutliche Annehmlichkeit, wie wenn ein schattiger Platz von der Sonne mit Wärme und dem Duft sich öffnender Kräuter erfüllt wird!

Auch Agathe gewahrte, daß ihr Bruder sie beobachtete, aber sie ließ es ihn nicht wissen. In den Augenblicken des Verstummens, wo sie fühlte, wie sein Blick ihren Bewegungen folgte, während Rede und Antwort nicht so sehr aussetzten, als es schien, sie glitten wie ein Fahrzeug mit abgestopptem Motor über eine tiefe und unsichere Stelle, genoß auch sie die Übergegenwart und ruhige Heftigkeit, die mit der Wiedervereinigung verbunden war. Und als Auspacken und Einräumen beendet und Agathe im Bad allein war, entwickelte sich daraus ein Abenteuer, das wie der Wolf in diese friedliche Augenweide einbrechen wollte, denn sie hatte sich bis auf die Wäsche in einem Zimmer entkleidet, wo nun Ulrich, Zigaretten rauchend, über ihre Verlassenschaft wachte. Vom Wasser umspült, überlegte sie, was sie tun solle. Bedienung gab es keine, Läuten war voraussichtlich ebenso vergeblich wie Rufen, und es blieb scheinbar nichts übrig, als in Ulrichs an der Wand hängenden Bademantel gehüllt an die Tür zu klopfen und ihn aus dem Zimmer zu schicken. Aber Agathe zweifelte fröhlich, ob es bei der ernsten Vertraulichkeit, die zwischen ihnen zwar noch nicht lebte, aber doch soeben geboren würde, erlaubt sei, sich so wie eine junge Dame zu betragen und Ulrichs Rückzug zu erflehen, und sie beschloß, keine zweideutige Weiblichkeit anzuerkennen und als das natürliche Duwesen, das sie ihm auch in spärlicher Bekleidung zu bedeuten hatte, vor ihm zu erscheinen.

Als sie aber entschlossen bei ihm eintrat, fühlten doch beide eine unerwartete Bewegung des Herzens. Sie trachteten beide nicht verlegen zu werden. Sie konnten die natürliche Folgewidrigkeit, die an der See fast die Nacktheit gestattet, im Zimmer aber den Saumweg am Rand von Hemd oder Höschen zum Schmuggelpfad der Romantik macht, beide einen Augenblick lang nicht von sich abstreifen. Ulrich lächelte unbeholfen, als Agathe, mit dem Licht des Vorraums hinter sich, in der geöffneten Tür wie eine von battistenem Rauch leicht umhüllte Silberstatue anzusehen war; und sie verlangte mit einer Stimme, deren Unbefangenheit sie viel zu stark ansetzte, nach Strümpfen und Kleid, die sich aber erst im nächsten Zimmer vorfanden. Ulrich führte seine Schwester dahin, und sie schritt zu seinem heimlichen Entzücken ein wenig zu knabenhaft aus, mit einer Art Trotz selbst davon kostend, so wie es Frauen leicht tun, wenn sie sich nicht von ihren Röcken geschützt fühlen. Dann ergab sich etwas Neues, als Agathe ein wenig später halb in ihrem Kleid stak und halb darin stecken geblieben war, denn nun wurde Ulrich zu Hilfe gerufen. Sie empfand, während er in ihrem Rücken hantierte, ohne schwesterliche Eifersucht, ja mit einer Art Annehmlichkeit, daß er sich vorzüglich in Frauenkleidern zurechtfinde, und sie selbst rührte sich mit lebhaften, von der Natur des Vorgangs geforderten Gebärden.

Ulrich fühlte sich dabei, nahe an die bewegte zarte und doch satte Haut ihrer Schultern gebeugt und aufmerksam dem ungewohnten Geschäft ergeben, bei dem sich ihm die Stirn rötete, von einer Empfindung umschmeichelt, die sich nicht recht in Worte fassen ließ, man hätte denn sagen müssen, daß sein Körper ebenso davon angegriffen wurde, daß er eine Frau, wie daß er keine Frau in nächster Nähe vor sich habe; aber man hätte ebensogut auch sagen können, daß er zwar ohne zu zweifeln in seinen eigenen Schuhen stand, sich aber dennoch aus sich hinübergezogen fühlte, als sei ihm da selbst ein zweiter, weit schönerer Körper zu eigen gegeben worden.

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, war darum das erste, was er seiner Schwester sagte: „Ich weiß jetzt, was du bist: Du bist meine Eigenliebe!“ Es klang wohl wunderlich, aber er beschrieb damit wirklich das, was ihn bewegte. „Mir hat eine richtige Eigenliebe, wie sie andere Menschen so stark besitzen, in gewissem Sinn immer gefehlt“ erläuterte er. „Und nun ist sie offenbar, durch Irrtum oder Schicksal, in dir verkörpert gewesen, statt in mir selbst!“ fügte er ohneweiters hinzu.

Es war sein erster Versuch an diesem Abend, die Ankunft seiner Schwester in einem Urteil festzuhalten.