BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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18

Schwierigkeiten eines Moralisten

beim Schreiben eines Briefs

 

Mit diesem Besuch bei Diotima hatte der unruhige Zustand, worin sich der Zurückgekehrte befand, ein Ende genommen; schon am nächsten Tag setzte sich Ulrich gegen Abend an seinen Schreibtisch, der ihm durch diese Handlung sogleich wieder vertraut wurde, und begann, Agathe einen Brief zu schreiben.

Es war ihm klar – so leicht und klar, wie es manchmal ein windstiller Tag ist, – daß ihr unüberlegtes Unternehmen äußerst gefährlich sei; noch mochte das, was geschehen war, nichts bedeuten als einen gewagten Scherz, der nur ihn und sie anging, aber das hing ganz davon ab, daß es rückgängig gemacht werde, ehe es Beziehungen zur Wirklichkeit gewinne, und mit jedem Tag wurde solche Gefahr größer. So weit hatte Ulrich geschrieben, als er sich unterbrach und zunächst Bedenken fühlte, einen Brief, der das unverschleiert erörterte, der Post zu übergeben. Er sagte sich, daß es wohl in jeder Weise angemessener wäre, er reiste selbst mit dem nächsten Zug an Stelle des Briefs; aber natürlich kam es ihm auch ungereimt vor, das zu tun, nachdem er sich doch der Angelegenheit tagelang überhaupt nicht angenommen hatte, und er wußte, daß er es unterlassen werde.

Er bemerkte, daß dem etwas zugrundelag, das beinahe so fest wie ein Beschluß war: er hatte Lust, es darauf ankommen zu lassen, was aus dem Zwischenfall entstehe. Die ihm aufgegebene Frage war also bloß die, wie weit er das wirklich und klar wollen könne, und es gingen ihm dabei allerhand weitläufige Gedanken durch den Kopf.

So machte er gleich anfangs die Wahrnehmung, daß er sich bisher noch allemal, wenn er sich „moralisch“ verhielt, in einer schlechteren geistigen Lage befunden habe, als bei Handlungen oder Gedanken, die man üblicherweise „unmoralisch“ nennen durfte. Es ist das eine allgemeine Erscheinung: denn in Geschehnissen, die sie in Gegensatz zu ihrer Umgebung bringen, entfalten alle ihre Kräfte, während sie sich dort, wo sie nur ihre Schuldigkeit tun, begreiflicherweise nicht anders verhalten, als beim Steuerzahlen; woraus es sich ergibt, daß alles Böse mit mehr oder weniger Phantasie und Leidenschaft vollbracht wird, wogegen sich das Gute durch eine unverkennbare Affektarmut und Kläglichkeit auszeichnet. Ulrich erinnerte sich, daß seine Schwester diese moralische Notlage sehr unbefangen durch die Frage ausgedrückt hatte, ob Gutsein denn nicht mehr gut sei. Daß es schwierig und atemraubend sein müßte, hatte sie behauptet und sich darüber gewundert, daß trotzdem moralische Menschen fast immer langweilig wären.

Er lächelte befriedigt und führte diesen Gedanken nun in der Weise weiter, daß Agathe und er sich gemeinsam in einem besonderen Gegensatz zu Hagauer befänden, den man ungefähr als den von Menschen, die auf eine gute Art schlecht seien, zu einem Manne bezeichnen könnte, der auf eine schlechte Art gut ist. Und wenn man von der großen Mitte des Lebens absieht, die billigermaßen von Menschen eingenommen wird, in deren Denken die allgemeinen Worte Gut und Bös überhaupt nicht mehr vorkommen, seit sie sich von ihrer Mutter Rock losgemacht haben, so bleiben die Randbreiten, wo es noch absichtlich moralische Anstrengungen gibt, heute wirklich solchen bösguten und gutbösen Menschen überlassen, von denen die einen das Gute niemals fliegen gesehn und singen gehört haben und darum von allen Mitmenschen verlangen, daß sie mit ihnen für eine Natur der Moral schwärmen sollen, in der ausgestopfte Vögel auf leblosen Bäumen sitzen; worauf dann die zweiten, die gut-bösen Sterblichen, gereizt von ihren Nebenbuhlern, mit Fleiß wenigstens in Gedanken eine Neigung für das Böse hervorkehren, als ob sie überzeugt wären, daß nur noch in bösen Taten, die nicht ganz so abgenutzt seien wie die guten, ein wenig moralischer Lebendigkeit zucke. Auf diese Weise hatte die Welt – natürlich ohne daß sich Ulrich dieser Voraussicht ganz bewußt gewesen wäre – also damals die Wahl, ob sie an ihrer lahmen Moral oder an ihren beweglichen Immoralisten zugrundegehen wolle, und weiß wohl bis zum heutigen Tag nicht, wofür sie sich schließlich mit überwältigendem Erfolg entschieden hat, es wäre denn, daß jene Zahlreichsten, die niemals Zeit haben, sich mit der Moral im allgemeinen zu befassen, dies einmal im besonderen getan hätten, weil sie das Vertrauen in den sie umgebenden Zustand verloren und in weiterer Folge dann freilich auch noch manches andere; denn bös-böse Menschen, die man so leicht für alles verantwortlich machen kann, gab es schon damals so wenig wie heute, und die gut-guten bedeuteten eine so entrückte Aufgabe wie ein weit entfernter Sternnebel. Aber gerade an sie dachte Ulrich, während ihm alles andere, woran er scheinbar dachte, ganz gleichgültig war.

Und er gab seinen Gedanken eine noch allgemeinere und unpersönlichere Form, indem er das Verhältnis, das zwischen den Forderungen „Tu!“ und „Tu nicht!“ besteht, an die Stelle von Gut und Böse setzte. Denn solange sich eine Moral – und das gilt ebenso für den Geist der Nächstenliebe wie für den einer Hunnenschar – im Aufstieg befindet, ist das „Tu nicht!“ nur die Kehrseite und natürliche Folge des „Tu!“; das Tun und Lassen glüht, und was es an Fehlern einschließt, macht nicht viel aus, denn es sind die Fehler von Helden und Märtyrern. In diesem Zustand sind Gut und Böse gleich mit Glück und Unglück des ganzen Menschen. Sobald das Umstrittene jedoch zur Herrschaft gelangt ist, sich ausgebreitet hat und seine Erfüllung nicht mehr mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft ist, durchschreitet das Verhältnis zwischen Forderung und Verbot mit Notwendigkeit einen entscheidenden Zustand, wo nun die Pflicht nicht mehr jeden Tag neu und lebendig geboren wird, sondern, ausgelaugt und in Wenn und Aber zerlegt, zu mannigfaltigem Gebrauch bereitgehalten werden muß; und es beginnt damit ein Vorgang, in dessen weiterem Verlauf Tugend und Laster durch die Herkunft aus den gleichen Regeln, Gesetzen, Ausnahmen und Einschränkungen einander immer ähnlicher werden, bis schließlich jener wunderliche, aber im Grunde unerträgliche Selbstwiderspruch entsteht, von dem Ulrich ausgegangen war, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse alle Bedeutung verliert gegenüber dem Wohlgefallen an einer reinen, tiefen und ursprünglichen Handlungsweise, das wie ein Funke ebensowohl aus erlaubten wie aus unerlaubten Geschehnissen hervorschlagen kann. Ja, wer sich unbefangen danach fragt, wird wahrscheinlich erkennen, daß der verbietende Teil der Moral stärker mit dieser Spannung geladen ist als der fordernde: Während es verhältnismäßig natürlich erscheint, daß bestimmte, als „böse“ bezeichnete Handlungen nicht begangen werden dürfen oder, wenn man sie trotzdem begeht, wenigstens nicht begangen werden sollten, wie etwa die Aneignung fremden Eigentums oder die Schrankenlosigkeit im Genuß, sind die ihnen entsprechenden bejahenden Überlieferungen der Moral – in diesem Fall wäre das also die volle Hingabe des Schenkens oder die Lust, das Irdische abzutöten – fast schon verlorengegangen, und wo sie noch ausgeübt werden, sind sie das Geschäft von Narren und Grillenfängern oder bleichhäutigen Tugendbolden. Und in einem solchen Zustand, wo die Tugend bresthaft ist und das moralische Verhalten hauptsächlich in der Einschränkung des unmoralischen besteht, kann es wohl leicht so kommen, daß dieses nicht nur ursprünglicher und kraftvoller erscheint als jenes, sondern geradezu moralischer, sofern es erlaubt ist, dieses Wort nicht im Sinn von Recht und Gesetz, sondern als Maß aller Leidenschaft zu gebrauchen, die überhaupt noch durch Gewissensfragen erregt wird. Aber kann es wohl auch etwas Widerspruchvolleres geben, als das Böse innerlich zu begünstigen, weil man mit dem Rest an Seele, den man noch hat, das Gute sucht?!

Diesen Widerspruch hatte Ulrich noch nie so stark empfunden wie in dem Augenblick, wo ihn der ansteigende Bogen, den seine Überlegung durchmessen hatte, wieder auf Agathe zurückführte. Die in ihrer Natur liegende Bereitwilligkeit, sich einer – wenn er das flüchtige Wort noch einmal anwandte: – gut-bösen Ausdrucksform zu bedienen, was sich in dem Eingriff in das väterliche Testament gewichtig verkörpert hatte, verletzte die in seiner eigenen Natur liegende gleiche Bereitwilligkeit, die bloß eine gedankenmäßige Gestalt, man könnte sagen, die einer geradezu seelsorgerischen Teufelsbewunderung, angenommen hatte, während er als Person nicht nur schlecht und recht zu leben vermochte, sondern, wie er sah, darin auch nicht gern gestört sein wollte. Mit ebensoviel schwermütiger Befriedigung wie ironischer Klarheit stellte er fest, daß seine ganze theoretische Beschäftigung mit dem Bösen im Grunde darauf hinauslaufe, daß er die bösen Geschehnisse am liebsten gegen die bösen Menschen in Schutz nehmen möchte, die sich an sie heranmachen, und er fühlte plötzlich ein Verlangen nach Güte, so wie einer, der sich nutzlos in der Fremde umgetrieben hat, es sich vorstellen mag, einmal nach Hause zu kommen und geradewegs hinzugehn, um das Wasser aus dem Brunnen seines Dorfs zu trinken. Wäre ihm aber nicht dieser Vergleich davorgekommen, so würde er vielleicht bemerkt haben, daß sein ganzer Versuch, sich Agathe unter dem Begriff eines moralisch gemischten Menschen vorzustellen, wie ihn die Gegenwart reichlich hervorbringt, nur ein Vorwand war, um sich vor einer Aussicht zu schützen, die ihn weit mehr erschreckte. Denn merkwürdigerweise übte ja das Verhalten seiner Schwester, das man tadeln mußte, wenn man es bewußt untersuchte, eine betörende Lockung aus, sobald man es mitträumte; denn dann entschwand alles Strittige und Geteilte, und es bildete sich der Eindruck einer leidenschaftlichen, bejahenden, zum Handeln drängenden Güte, die ganz leicht neben ihren entkräfteten alltäglichen Formen wie ein uraltes Laster aussehen mochte.

Ulrich gestattete sich solche Erhöhung seiner Empfindungen nicht leicht, und schon gar nicht wollte er es angesichts des Briefes tun, den er zu schreiben hatte, so daß er seine Gedanken nun von neuem ins Allgemeine hinauslenkte. Sie wären unvollständig gewesen, wenn er sich nicht daran erinnert hätte, wie leicht und oft in den von ihm miterlebten Zeiten das Verlangen nach einer aus dem Vollen kommenden Pflicht dazu geführt hatte, daß aus dem vorhandenen Vorrat einzelner Tugenden bald die eine, bald die andere hervorgeholt und in den Mittelpunkt einer lärmenden Verehrung gestellt wurde. Nationale Tugenden, christliche, humanistische waren an der Reihe gewesen, einmal Edelstahl und ein andermal Güte, bald Persönlichkeit und bald Gemeinschaft, heute die Zehntelsekunde und tags vorher historische Gelassenheit: der Stimmungswechsel des öffentlichen Lebens beruht im Grunde auf dem Austausch solcher Leitvorstellungen: aber das hatte Ulrich immer gleichgültig gelassen und nur dahin geführt, daß er sich abseits stehen fühlte. Auch jetzt bedeutete es ihm bloß eine Ergänzung des allgemeinen Bilds, denn nur halbe Einsicht vermag glauben zu machen, daß man der moralischen Unausdeutbarkeit des Lebens, die sich auf einer Stufe zu groß gewordener Komplikationen eingestellt hat, mit einer der Ausdeutungen beikommen könne, die in ihr schon enthalten sind. Solche Versuche gleichen bloß den Bewegungen eines Kranken, der unruhig die Lage wechselt, während die Lähmung, die ihn an sein Lager fesselt, unaufhaltsam fortschreitet. Ulrich war überzeugt, daß der Zustand, worin sie aufträten, unvermeidlich sei und die Stufe bezeichne, von der jede Zivilisation wieder abwärts gestiegen ist, weil bisher keine fähig war, an die Stelle der verlorenen inneren Spannung eine neue zu setzen. Er war auch überzeugt, daß ein Gleiches, wie es jeder gewesenen Moral widerfahren ist, jeder kommenden bevorstehe. Denn das moralische Erschlaffen liegt nicht am Bereich der Gebote und ihrer Befolgung, es ist unabhängig von ihren Unterschieden, es ist unzugänglich für äußere Strenge, es ist ein ganz innerer Vorgang, gleichbedeutend mit einem Nachlassen des Sinns aller Handlungen und des Glaubens an die Einheit ihrer Verantwortung.

Und so fanden sich Ulrichs Gedanken, ohne daß er es vorher beabsichtigt hatte, wieder bei jener Vorstellung, die er, spöttisch an Graf Leinsdorf gewandt, als das „Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele“ bezeichnet hatte; und obwohl er auch sonst nie anders als übermütig und im Scherz davon gesprochen hatte, sah er nun ein, daß er sich, seit er ein Mann war, nicht anders betragen hatte, als ob ein solches „Generalsekretariat“ im Bereich des Möglichen läge. Vielleicht, das konnte er sich zu seiner Entschuldigung sagen, trägt jeder denkende Mensch eine solche Idee der Ordnung in sich, geradeso wie erwachsene Männer unter den Kleidern das Heiligenbild tragen, das ihnen ihre Mutter an die Brust gehängt hat, als sie Kind waren, und dieses Bild der Ordnung, das keiner sich ernst zu nehmen noch abzulegen getraut, kann nicht viel anders aussehen als so: Auf der einen Seite stellt es dunkel die Sehnsucht nach einem Gesetz des rechten Lebens dar, das ehern und natürlich ist, das keine Ausnahme zuläßt und keinen Einwand ausläßt, das lösend ist wie ein Rausch und nüchtern wie die Wahrheit; auf der andern Seite aber bildet sich darin die Überzeugung ab, daß die eigenen Augen niemals ein solches Gesetz erblicken, die eigenen Gedanken niemals es denken werden, daß es nicht durch Botschaft und Gewalt eines einzelnen herbeizuführen sein wird, sondern nur durch eine Anstrengung aller, wenn es nicht überhaupt ein Hirngespinst ist. Einen Augenblick zögerte Ulrich. Ohne Zweifel war er ein gläubiger Mensch, der bloß nichts glaubte: seiner größten Hingabe an die Wissenschaft war es niemals gelungen, ihn vergessen zu machen, daß die Schönheit und Güte der Menschen von dem kommen, was sie glauben, und nicht von dem, was sie wissen. Aber der Glaube war immer mit Wissen verbunden gewesen, wenn auch nur mit einem eingebildeten, seit den Urtagen seiner zauberhaften Begründung. Und dieser alte Wissensteil ist längst vermorscht und hat den Glauben mit sich in die gleiche Verwesung gerissen: es gilt also heute, diese Verbindung neu aufzurichten. Und natürlich nicht etwa bloß in der Weise, daß man den Glauben „auf die Höhe des Wissens“ bringt; doch wohl aber so, daß er von dieser Höhe auffliegt. Die Kunst der Erhebung über das Wissen muß neu geübt werden. Und da dies kein einzelner vermag, müßten alle ihren Sinn darauf richten, wo immer sie ihn auch sonst noch haben mögen; und wenn Ulrich in diesem Augenblick an einen Jahrzehnt-, Jahrhundert- oder Jahrtausendplan dachte, den sich die Menschheit zu geben hätte, um ihre Anstrengungen auf das Ziel zu richten, das sie ja in der Tat noch nicht kennen kann, so brauchte er nicht viel zu fragen, um zu wissen, daß er sich das schon seit langem unter vielerlei Namen als das wahrhaft experimentelle Leben vorgestellt habe. Denn er meinte mit dem Wort Glauben ja nicht sowohl jenes verkümmerte Wissenwollen, die gläubige Unwissenheit, die man gemeinhin darunter versteht, als vielmehr die wissende Ahnung, etwas, das weder Wissen, noch Einbildung ist, aber auch nicht Glaube, sondern eben „jenes andere“, das sich diesen Begriffen entzieht.

Rasch zog er seinen Brief an sich, schob ihn aber sogleich wieder fort.

Sein Gesicht, soeben noch streng erglüht, verlosch wieder, und sein gefährlicher Lieblingsgedanke kam ihm lächerlich vor. Wie mit einem Blick durch ein rasch geöffnetes Fenster fühlte er, was ihn wirklich umgab: die Kanonen, die Geschäfte Europas. Die Vorstellung, daß sich Menschen, die in dieser Weise lebten, je zu einer überlegten Navigation ihres geistigen Schicksals zusammentun könnten, war einfach nicht zu bilden, und Ulrich mußte einsehen, daß sich auch die geschichtliche Entwicklung niemals in einer solchen planenden Verbindung der Ideen vollzogen habe, wie sie im Geist des einzelnen Menschen zur Not möglich ist, sondern stets vergeudend und so verschwenderisch, als hätte sie die Faust eines groben Spielers auf den Tisch geworfen. Er schämte sich sogar ein wenig. Alles, was er in dieser Stunde gedacht hatte, erinnerte verdächtig an eine gewisse „Enquete zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung“, ja daß er überhaupt moralisierte, dieses Denken nach theoretischer Art, das die Natur bei Kerzenlicht betrachtet, kam ihm völlig unnatürlich vor, während doch der einfache, ans Sonnenklare gewöhnte Mensch stets nur nach dem Nächsten greift und sich nie mit einer anderen Frage abgibt als der ganz bestimmten, ob er diesen Griff ausführen und wagen könne.

In diesem Augenblick strömten Ulrichs Gedanken wieder aus dem Allgemeinen zu ihm selbst zurück, und er fühlte die Bedeutung seiner Schwester. Ihr hatte er jenen wunderlichen und uneingeschränkten, unglaubwürdigen und unvergeßlichen Zustand gezeigt, worin alles ein Ja ist. Den Zustand, worin man keiner anderen geistigen Bewegung fähig ist als der moralischen, also auch den einzigen, worin es eine Moral ohne Unterbrechung gibt, selbst wenn sie nur darin bestehen sollte, daß alle Handlungen grundlos in ihm schweben. Und Agathe tat doch nichts, als daß sie die Hand danach ausstreckte. Sie war der Mensch, der die Hand ausstreckt, und an die Stelle von Ulrichs Überlegungen traten Körper und Gebilde der wirklichen Welt. Alles, was er gedacht hatte, erschien ihm jetzt bloß als Verzögerung und Übergang. Er wollte „es darauf ankommen lassen“, was aus Agathes Einfall entstünde, und es war ihm in diesem Augenblick ganz gleichgültig, daß die geheimnisvolle Verheißung mit einer nach gemeinen Begriffen schimpflichen Handlung begonnen hatte. Man konnte nur abwarten, ob sich die Moral des „Steigens und Sinkens“ daran ebenso anwendbar zeigen werde wie die einfache der Ehrlichkeit. Und er erinnerte sich der leidenschaftlichen Frage seiner Schwester, ob er selbst das glaube, was er ihr erzähle, aber er konnte sie auch jetzt ebensowenig bejahen wie damals. Er gestand sich ein, daß er auf Agathe warte, um diese Frage zu beantworten.

Da schrillte der Fernsprecher, und Walter, der am Apparat war, sprach plötzlich auf ihn ein, mit überstürzten Begründungen und in eilig zusammengerafften Worten. Ulrich hörte gleichgültig und bereitwillig zu, und als er den Hörer weglegte und sich aufrichtete, empfand er noch immer das Klingelzeichen, das nun endlich aufhörte; Tiefe und Dunkelheit strömten wohltuend in die Umgebung zurück, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, ob das in Tönen oder Farben geschah, es war wie eine Tiefe aller Sinne. Lächelnd nahm er das Blatt Papier, auf dem er seiner Schwester zu schreiben begonnen hatte, und zerriß es, ehe er das Zimmer verließ, langsam in kleine Stücke.