BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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4

Ich hatt' einen Kameraden

 

Zum erstenmal sah sie Ulrich als Frau gekleidet und hatte nach dem gestrigen Eindruck geradezu den, daß sie verkleidet sei. Durch die offene Tür fiel künstliches Licht in das zittrige Grau des frühen Vormittags, und die schwarze Erscheinung mit dem blonden Haar schien in einer Grotte aus Luft zu stehn, durch die strahlender Glanz floß. Agathes Haar lag enger am Kopf und ihr Gesicht wirkte dadurch weiblicher als am Tag zuvor, die zarte, frauenhafte Brust bettete sich in das Schwarz der strengen Kleidung mit jenem vollkommensten Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand, das der federleichten Härte einer Perle eigen ist, und vor die schlanken, hohen, den seinen ähnlichen Beine, die er gestern gesehen hatte, hatten sich Röcke gesenkt. Und weil die Erscheinung ihm heute im Ganzen unähnlicher war, bemerkte er die Ähnlichkeit des Gesichts. Es war ihm zumute, er wäre es selbst, der da zur Tür eingetreten sei und auf ihn zuschreite: nur schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum erstenmal erfaßte ihn da der Gedanke, daß seine Schwester eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst sei; aber da dieser Eindruck nur einen Augenblick dauerte, vergaß er ihn wieder.

Agathe war gekommen, um ihren Bruder schleunig an Pflichten zu erinnern, die sie selbst beinahe verschlafen hätte: sie hielt das Testament in Händen und machte ihn auf Bestimmungen aufmerksam, deren Zeit drängte. Vor allen war darunter eine etwas krause Verfügung über die Orden des alten Herrn zu berücksichtigen, von der auch der Diener Franz wußte, und Agathe hatte diese Stelle im Letzten Willen eifrig, wenn auch etwas pietätlos rot angestrichen. Der Tote wollte mit ihnen begraben sein, von denen er nicht wenig besaß, aber da er nicht aus Eitelkeit mit ihnen begraben werden wollte, war dem eine lange und tiefsinnige Begründung beigegeben, von der seine Tochter nur den Anfang gelesen hatte, ihrem Bruder es überlassend, ihr den Rest zu erklären.

„Wie soll ich es dir erklären?!“ sagte Ulrich, nachdem er sich unterrichtet hatte. „Papa möchte mit den Orden begraben werden, weil er die individualistische Staatstheorie für falsch hält! Er empfiehlt uns die universalistische. Der Mensch empfange erst aus der schöpferischen Gemeinschaft des Staats einen überpersönlichen Zweck, seine Güte und Gerechtigkeit; allein sei er nichts, und darum bedeute der Monarch ein geistiges Symbol: und kurz und gut, der Mensch muß sich bei seinem Tod sozusagen in seine Orden einwickeln, wie man einen gestorbenen Seemann in die Flagge gewickelt ins Meer versenkt!“

„Aber ich habe doch gelesen, daß die Orden zurückgegeben werden müssen?“ fragte Agathe.

„Die Orden müssen von den Erben der kaiserlichen Kabinettskanzlei zurückgestellt werden. Darum hat sich Papa Duplikate angeschafft. Aber die beim Juwelier gekauften scheinen ihm wohl doch nicht die rechten Orden zu sein, und er will, daß wir den Umtausch auf seiner Brust erst vollziehen, wenn der Sarg geschlossen wird: das ist die Schwierigkeit! Wer weiß, vielleicht ist das ein stummer Protest gegen die Vorschrift, den er nicht anders aussprechen wollte.“

„Aber bis dahin werden hundert Leute hier sein, und wir werden es vergessen!“ befürchtete Agathe.

„Wir können es ebensogut gleich tun!“

„Wir haben jetzt keine Zeit; du mußt das Nächste lesen, was er über Professor Schwung schreibt: Professor Schwung kann jeden Augenblick kommen, ich habe ihn schon gestern den ganzen Tag erwartet!“

„Also tun wir es, nachdem Schwung da war.“

„Es ist so unangenehm,“ wandte Agathe ein „ihm nicht seinen Wunsch zu erfüllen.“

„Er weiß es ja nicht mehr.“

Sie sah ihn zweifelnd an. „Bist du dessen sicher?“

„Oh?“ rief Ulrich lachend aus „du hältst es vielleicht nicht für sicher ?!“

„Ich bin in nichts sicher“ antwortete Agathe.

„Und wenn es nicht sicher wäre: er war ja doch nie mit uns zufrieden!“

„Das ist richtig“ meinte Agathe. „Wir wollen es also später tun. Aber sag mir jetzt eines“ fügte sie hinzu: „Kümmerst du dich nie um das, was man von dir verlangt?“

Ulrich zögerte. „Sie läßt in einem guten Geschäft arbeiten“ dachte er. „Ich hätte mir keine unnützen Sorgen zu machen brauchen, daß sie kleinstädtisch sein könnte!“ Aber weil mit diesen Worten irgendwie der ganze gestrige Abend verbunden war, wünschte er eine Antwort zu geben, die wohl bestehen bleiben und ihr dienen sollte; wußte aber nicht, wie es anzufangen sei, damit sie ihn keinesfalls falsch verstehe, und sagte schließlich unerwünscht jugendlich: „Nicht nur der Vater ist tot, auch die Zeremonien, die ihn umgeben, sind ja tot. Sein Testament ist tot. Die Leute, die hier erscheinen, sind tot. Ich will damit nichts Böses sagen; weiß Gott, wie dankbar man vielleicht den Wesen sein muß, die zur Festigkeit der Erde beitragen: aber all das gehört zum Kalk des Lebens, nicht zum Meer!“ Er gewahrte einen unschlüssigen Blick seiner Schwester und wurde inne, wie unverständlich er daherrede. „Die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen“ ergänzte er lachend.

Er legte ihr etwas gönnerhaft oder übermütig die Arme auf die Schultern; rein aus Verlegenheit. Aber Agathe trat ernst zurück und ging nicht darauf ein. „Hast du das erfunden?“ fragte sie.

„Nein, ein Mann, den ich liebe, hat das gesagt.“

Sie hatte etwas von dem Unmut eines Kindes, das sich mit Nachdenken plagen muß, als sie Ulrichs Antworten in den Satz zusammenfaßte: „Du würdest also einen, der aus Gewohnheit ehrlich ist, kaum gut nennen; Aber einen Dieb, der zum erstenmal stiehlt, während ihm fast das Herz aus der Brust springt, nennst du gut?!“

Ulrich staunte über diese etwas sonderbaren Worte und wurde dadurch ernster. „Ich weiß es wirklich nicht“ sagte er kurz. „Ich selbst mache mir unter Umständen allerdings nicht viel daraus, ob etwas für recht oder unrecht gilt, aber ich kann dir keine Regel angeben, nach der man sich dabei zu richten vermöchte.“

Agathe löste den suchenden Blick langsam von ihm los und nahm das Testament wieder auf: „Wir müssen weiterlesen, hier ist noch etwas angestrichen!“ ermahnte sie sich selbst.

Der alte Herr hatte, ehe er sich endgültig zu Bett legte, eine Reihe von Briefen verfaßt und gab in seinem Vermächtnis Aufklärungen zu ihrem Verständnis und über ihre Absendung. Was davon besonders angestrichen war, bezog sich auf Professor Schwung, und Professor Schwung war jener alte Kollege, der das letzte Lebensjahr des Vaters der beiden Geschwister durch den Kampf um den Paragraphen der verminderten Zurechnungsfähigkeit gallig verbittert hatte, nachdem sie ein Lebensalter lang Freunde gewesen waren. Ulrich erkannte sofort die wohlbekannten langen Auseinandersetzungen über Vorstellung und Wille, Schärfe des Rechts und Unbestimmtheit der Natur, von denen ihm sein Vater vor dem Abscheiden noch einmal eine zusammen­fassende Darstellung gab, und nichts schien diesen in seinen letzten Tagen so sehr beschäftigt zu haben wie die Denunziation der Sozialen Schule, der er sich angeschlossen hatte, als Ausfluß preußischen Geistes. Er hatte soeben eine Broschüre auszuarbeiten begonnen, die den Titel führen sollte: „Staat und Recht oder Konsequenz und Denunziation“, als er sich schwach werden fühlte und erbittert das Schlachtfeld im Alleinbesitz seines Gegners sah. In feierlichen Worten, wie sie nur die Nähe des Todes und der Kampf um das heilige Gut der Reputation eingeben, verpflichtete er seine Kinder, sein Werk nicht verfallen zu lassen, und namentlich seinen Sohn, die Beziehungen zu maßgebenden Kreisen, die er dank der nimmermüden Ermahnungen seines Vaters gewonnen habe, zu nutzen, um die Hoffnungen des Professors Schwung auf Verwirklichung seiner Bestrebungen gründlich zunichte zu machen.

Wenn man solches geschrieben hat, so schließt es nicht aus, daß man nach getanem oder vielmehr vorgesehenem Werk das Bedürfnis fühlt, einem gewesenen Freund seine von niederer Eitelkeit eingegebenen Irrtümer zu vergeben. Sobald man sehr leidet und schon bei lebendigem Leib das sachte Ausdennähtengehn der irdischen Hülle empfindet, ist man geneigt, zu verzeihn und um Verzeihung zu bitten; wenn es einem wieder besser geht, so nimmt man es aber zurück, denn der gesunde Körper hat von Natur etwas Unversöhnliches: beides mußte offenbar der alte Herr in den Wechselfällen des Befindens vor dem Tode kennen gelernt haben, und eines hatte ihm so berechtigt erscheinen müssen wie das andere. Ein solcher Zustand ist aber für einen angesehenen Juristen unerträglich, und so hatte er mit geschulter Logik ein Mittel erfunden, seinen Willen so zu hinterlassen, daß er ohne nachträgliche Gegeneinflüsterungen des Gemüts als letzter Wille ungemindert zur Geltung kommen könne: er schrieb einen Verzeihungsbrief und unterschrieb ihn nicht, noch versah er ihn mit einem Datum, sondern trug Ulrich auf, das Datum seiner Todesstunde einzusetzen und die Unterschrift gemeinsam mit der Schwester als Willenszeugen zu setzen, wie es bei einem mündlichen Vermächtnis geschehen kann, das zu unterschreiben der Sterbende nicht die Kraft hat. Er war eigentlich, ohne es wahrhaben zu wollen, ein stiller Kauz, dieser kleine Alte, der sich den Rangordnungen des Daseins unterworfen hatte und sie als ihr eifriger Diener verteidigte, aber in sich allerhand Auflehnungen barg, für die er auf dem von ihm gewählten Lebenswege keinen Ausdruck finden konnte. Ulrich mußte an die Todesanzeige denken, die er empfangen hatte und die wahrscheinlich in der gleichen Verfassung angeordnet worden war, ja beinahe sah er eine Verwandtschaft mit sich selbst darin, diesmal aber nicht zornmütig, sondern mitleidig, wenigstens in dem Sinn, daß er angesichts dieses Ausdruckshungers den Haß auf den Sohn verstand, der sich das Leben durch ungebührliche Freiheiten erleichtert hatte. Denn so erscheinen die Lebenslösungen der Söhne immer den Vätern, und Ulrich wandelte ein Gefühl der Pietät an, indem er an das Ungelöste dachte, das in ihm selbst stak. Aber er fand nicht mehr die Zeit, dem eine gerechte und auch für Agathe verständliche Form zu geben, und hatte eben erst damit begonnen, als die Dämmerung des Raums mit großem Schwung einen Menschen ins Zimmer trug. Dieser schritt, von seiner eigenen Bewegung hereingeschleudert, bis in den Kerzenglanz und hob dort mit einer weiten Bewegung die Hand vor die Augen, einen Schritt von dem Katafalk entfernt, ehe der überrannte väterliche Diener mit der Anmeldung nachhasten konnte. „Verehrter Freund!“ rief der Besucher mit getragener Stimme aus, und der kleine Alte lag mit zusammengekniffenen Kiefern vor seinem Feinde Schwung.

„Junge Freunde: die Majestät des Sternenhimmels über uns, die Majestät des Sittengesetzes in uns!“ fuhr dieser fort und blickte umflorten Auges auf den Fakultätsgenossen. „In dieser kaltgewordenen Brust hat die Majestät des Sittengesetzes gelebt!“ Dann erst wendete er seinen Körper um und schüttelte den Geschwistern die Hände.

Aber Ulrich benutzte diese erste Gelegenheit, um sich seines Auftrags zu entledigen. „Herr Hofrat und mein Vater sind leider in der letzten Zeit Gegner gewesen?“ fühlte er vor.

Es machte den Eindruck, daß sich der Weißbart erst besinnen müsse, ehe er verstehe. „Meinungsverschiedenheiten und nicht der Rede wert!“ erwiderte er großmütig, den Toten innig betrachtend. Als aber Ulrich höflich beharrte und durchblicken ließ, daß es sich um einen Letzten Willen handle, wurde die Lage in dem Zimmer plötzlich gespannt wie in einer Spelunke, wenn das ganze Lokal weiß: jetzt hat einer unter dem Tisch das Messer gezogen, und im nächsten Augenblick wird es losgehn. Der Alte hatte es also richtig verstanden, seinem Kollegen Schwung noch im Abscheiden eine Unannehmlichkeit zu bereiten! Eine solche alte Feindschaft war natürlich längst kein Gefühl mehr, sondern eine Denkgewohnheit; wenn nicht irgend etwas die Affekte der Feindseligkeit gerade neu aufreizte, so waren sie gar nicht mehr da, und es hatte sich der gesammelte Inhalt zahlloser vergangener unliebsamer Vorgänge in die Form eines geringschätzigen Urteils über einander geballt, das so unabhängig vom Kommen und Gehen der Gefühle war wie eine vorurteilslose Wahrheit. Professor Schwung empfand das genau ebenso, wie es sein jetzt toter Angreifer empfunden hatte; es erschien ihm vollkommen kindisch und überflüssig zu verzeihen, denn die eine nachgiebige Regung vor dem Ende, noch dazu bloß ein Gefühl und kein wissenschaftlicher Widerruf, hatte natürlich gar keine Beweiskraft gegenüber den Erfahrungen eines jahrelangen Streites und sollte, wie Schwung es ansah, ganz schamlos bloß dazu dienen, ihn bei der Ausnutzung des Sieges ins Unrecht zu setzen. Ganz etwas anderes war es natürlich, daß Professor Schwung das Bedürfnis hatte, von seinem toten Freund Abschied zu nehmen. Mein Gott, man kannte sich schon, seit man Dozent und noch unverheiratet war! Erinnerst du dich, wie wir im Burggarten der Abendsonne zutranken und über Hegel disputierten? Wieviel Sonnen mögen seither untergegangen sein, aber ich erinnere mich besonders an diese! Und erinnerst du dich an unseren ersten wissenschaftlichen Streit, der uns beinahe schon damals zu Feinden gemacht hätte; Wie schön war das! Nun bist du tot, und ich stehe zu meiner Freude noch, wenn auch an deiner Bahre! Von solcher Art sind, wie man weiß, die Gefühle bejahrter Leute beim Absterben gleichaltriger. Es bricht, wenn man in die Eisjahre kommt, die Poesie durch. Viele Menschen, die seit ihrem siebzehnten Jahr kein Gedicht mehr gemacht haben, verfassen plötzlich eines im siebenundsiebzigsten Jahr, wenn sie ihr Testament schreiben. Wie beim Jüngsten Gericht die Toten einzeln aufgerufen werden – obschon sie am Grund der Zeit samt ihren Jahrhunderten ruhen wie die Ladung in untergegangenen Schiffen! – werden im Testament die Dinge mit Namen aufgerufen und erhalten ihre im Gebrauch verlorengegangene Persönlichkeit wieder zurück. „Der Buchara-Teppich mit dem Loch von einer Zigarre, der in meinem Arbeitszimmer liegt“ heißt es in solchen letzten Manuskripten, oder „der Regenschirm mit dem Nashorngriff, den ich im Mai 1887 bei Sonnenschein & Winter erworben habe“; sogar die Aktienpakete werden einzeln bei ihren Nummern angesprochen und genannt.

Und es ist nicht Zufall, daß zugleich mit diesem letzten Aufleuchten jedes einzelnen Gegenstands auch das Verlangen erwacht, eine Moral, eine Mahnung, einen Segen, ein Gesetz daran zu knüpfen, die dieses ungeahnt Viele, rings um den Untergang noch einmal Auftauchende mit einer kräftigen Formel besprechen sollen. Zugleich mit der Poesie der Testamentszeit erwacht darum auch die Philosophie, und es ist begreiflichermaßen meistens eine alte und verstaubte Philosophie, die man wieder hervorholt, nachdem man sie vor fünfzig Jahren vergessen hat. Ulrich verstand auf einmal, daß keiner von diesen beiden Alten hatte nachgeben können. „Möge das Leben machen, was es will, wenn nur die Grundsätze unangefochten bleiben!“ ist ein sehr vernünftiges Bedürfnis, wenn man weiß, daß man in wenigen Monaten oder Jahren von seinen Grundsätzen überlebt werden wird. Und es war deutlich zu sehen, wie in dem alten Hofrat die beiden Antriebe noch immer miteinander kämpften: sein Romantizismus, seine Jugend, seine Poesie forderten eine große, schöne Gebärde und ein edles Wort; seine Philosophie dagegen verlangte, daß er die Unberührbarkeit des Gesetzes der Vernunft durch jähe Gefühlseinfälle und vorübergehende Gemütsschwächen zum Ausdruck bringe, wie ihm solche sein toter Feind als Falle gelegt hatte. Schon seit zwei Tagen hatte sich Schwung vorgestellt: der ist nun tot, und der Schwungischen Auffassung der verminderten Zurechnungsfähigkeit steht kein Hindernis mehr im Wege; also war sein Gefühl in breiten Wogen zu dem alten Freund geströmt, und wie einen sorgsam ausgearbeiteten Mobilmachungsplan, der bloß noch des Signals zur Durchführung bedarf, hatte er sich die Abschiedsszene ausgedacht. Aber in diese war Essig gefallen und wirkte klärend. Schwung hatte mit mächtiger Bewegung begonnen, aber nun geschah ihm, wie wenn einer mitten in einem Gedicht vernünftig wird und die letzten Zeilen fallen ihm nicht mehr ein. So befanden sie sich voreinander, ein weißer Stoppelbart und weiße Bartstoppeln, beide die Kiefer unerbittlich festgeklemmt.

„Was wird er also tun?“ fragte sich Ulrich, der gespannt den Auftritt beobachtete. Schließlich setzte sich in Hofrat Schwung die frohe Gewißheit, daß nun der § 318 des Strafgesetzbuches nach seinen Vorschlägen zur Annahme kommen werde, gegen den Ärger durch, und da er von den bösen Gedanken befreit war, hätte er am liebsten zu singen begonnen: „Ich hatt' einen Kameraden …“, um seinem nunmehr guten und einzigen Gefühl Ausdruck zu geben. Und da er das nicht konnte, wandte er sich an Ulrich und sagte: „Glauben Sie mir, junger Sohn meines Freundes, es ist die sittliche Krisis, welche führt; der soziale Verfall folgt nach!“ Dann wandte er sich an Agathe und fuhr fort: „Es war das Große an Ihrem Herrn Vater, daß er jederzeit bereit war, einer idealistischen Auffassung in den Grundlagen des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen.“ Dann ergriff er eine Hand Agathes und eine Hand Ulrichs, schüttelte sie und rief aus: „Ihr Vater hat kleinen Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei langem Zusammenwirken manchmal unvermeidlich sind, viel zu großes Gewicht beigelegt. Ich war immer überzeugt, daß er das tun mußte, um sich in seinem empfindlichen Rechtssinn keinem Vorwurf auszusetzen. Es werden morgen viele Professoren von ihm Abschied nehmen, aber es wird keiner darunter sein wie er!“

So endete dieser Auftritt versöhnlich, und Schwung hatte noch im Abgehn Ulrich bekräftigt, er möge auf die Freunde seines Vaters rechnen, falls er sich noch zur akademischen Laufbahn entschließen sollte.

Agathe hatte mit weiten Augen zugehört und die unheimliche Endform betrachtet, die das Leben dem Menschen gibt. „Wie ein Wald von Gipsbäumen ist das gewesen!“ sagte sie nachträglich zu ihrem Bruder. Ulrich lächelte und erwiderte: „Ich fühle mich so sentimental wie ein Hund bei Mondschein!“