BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Zweiter Teil:

Seinesgleichen geschieht

 

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Die Umkehrung

 

Vielleicht hatte bei Ulrichs Verhalten von Anfang an die Überzeugung mitgespielt, es werde sich alles harmlos aufklären, jene Ungeneigtheit, an das Schlimmste zu glauben, mit der man immer in Gefahren geht; aber als ihm in der Halle unerwartet sein alter Diener entgegentrat, hätte er ihn beinahe niedergeschlagen. Weil er es glücklicherweise im letzten Augenblick unterließ, erfuhr er durch ihn, daß ein Telegramm gekommen sei, das Clarisse in Empfang genommen habe, und daß die gnädige junge Frau schon vor etwa einer Stunde gekommen sei, gerade als der Alte weggehen wollte, und sich nicht habe abweisen lassen, so daß er es vorgezogen habe, auch für seine Person im Haus zu bleiben und für heute auf seinen Urlaub zu verzichten, denn der gnädige Herr möge ihm die Bemerkung verzeihen, aber die junge Dame habe auf ihn einen sehr aufgeregten Eindruck gemacht.

Als Ulrich ihm gedankt hatte und seine Wohnung betrat, lag Clarisse auf einem Diwan, etwas zur Seite gedreht und die Beine an den Leib gezogen; ihre taillenlos schlanke Figur, der knabenartig frisierte Kopf mit dem langen lieblichen Gesicht, das ihm, auf den Arm gestützt, entgegensah, als er die Tür öffnete, waren überaus verführerisch. Er erzählte ihr, daß er sie für einen Einbrecher gehalten habe. Clarisse bekam Augen, die wie das Schnellfeuer eines Brownings waren. „Vielleicht bin ich einer!“ erwiderte sie. „Der alte Schlaukopf, der dich bedient, hat mich um keinen Preis bleiben lassen wollen; ich habe ihn schlafen geschickt, aber ich weiß, daß er sich unten irgendwo versteckt hat! Schön hast du's hier!“ Dabei reichte sie ihm die Depesche, ohne aufzustehen. „Ich habe einmal sehen wollen, wie du nach Hause kommst, wenn du glaubst, daß du allein bist“ fuhr sie fort. „Walter ist in einem Konzert. Er kommt erst nach Mitternacht zurück. Ich habe ihm aber nicht gesagt, daß ich zu dir gehe.“

Ulrich riß die Depesche auf und las sie, während er nur mit halbem Ohr hörte, was Clarisse sagte; er wurde überraschend bleich und las ungläubig noch einmal den sonderbaren Wortlaut. Er hatte schon seit einiger Zeit, obgleich er verschiedene Anfragen seines Vaters wegen der Parallelaktion und der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu beantworten verabsäumt hatte, kein Mahnschreiben erhalten, ohne daß es ihm aufgefallen wäre; nun meldete ihm das Telegramm in einer ausführlichen, aus halb unterdrückten Vorwürfen und voller Todesfeierlichkeit wunderlich gemischten Weise, die sein Vater offenbar selbst noch auf das genaueste geregelt und aufgesetzt hatte, das Ableben seines Erzeugers. Sie hatten wenig Neigung füreinander besessen, ja es war Ulrich der Gedanke an seinen Vater beinahe immer unangenehm gewesen, trotzdem dachte er, während er den schnurrig-unheimlichen Text ein zweites Mal las: „Ich bin nun ganz allein auf der Welt!“ Es war nicht so recht der wörtliche und schlecht zu dem nun beendeten Verhältnis passende Sinn dieser Worte, was er meinte; eher fühlte er sich verwundert aufsteigen, als wäre ein Ankertau zerrissen, oder fühlte einen sich nun ganz herstellenden Zustand der Landesfremdheit in einer Welt, der er durch seinen Vater noch verbunden gewesen war.

„Mein Vater ist gestorben!“ sagte er zu Clarisse und hob mit einiger unwillkürlicher Feierlichkeit die Hand mit der Depesche.

„Ach!“ antwortete Clarisse. „Ich gratuliere!“ Und nach einer kleinen, besinnlichen Pause fügte sie hinzu: „Da wirst du jetzt wohl sehr reich?“ Sie sah sich neugierig um.

„Ich glaube nicht, daß er mehr als wohlhabend war“ erwiderte Ulrich ablehnend. „Ich lebte hier über seine Verhältnisse.“

Clarisse bestätigte die Zurechtweisung mit einem ganz kleinen Lächeln, einer Art Kratzfuß von Lächeln; viele ihrer ausdrücklichen Bewegungen waren so hastig und auf kleinstem Raum übertrieben wie die Verbeugung eines Knaben, der einer gesellschaftlichen Verpflichtung seinen Erziehungstribut entrichten muß. Sie blieb allein im Zimmer zurück, da sich Ulrich für einige Augenblicke entschuldigte, um die Anordnungen für seine Abreise zu treffen. Als sie nach dem heftigen Auftritt, den sie miteinander gehabt, Walter verlassen hatte, war sie nicht weit gegangen, denn vor der Türe ihrer Wohnung führte eine selten benutzte Stiege zum Boden hinauf, und dort war sie, in ein Tuch gehüllt, sitzen geblieben, bis sie ihren Gatten das Haus verlassen hörte. Sie wußte irgendetwas von Schnürböden in Theatern; dort oben, von wo die Seile laufen, saß sie also, während Walter seinen Abgang über die Treppe hatte. Sie malte sich aus, daß die Schauspielerinnen in ihren Spielpausen, wo sie nichts zu tun hatten, in Tücher geschlagen in dem Gebälk über der Bühne sitzen und zusehen; sie war jetzt auch eine solche Schauspielerin und hatte alle Vorgänge unter sich zu Füßen. Darin kam wieder ihr alter Lieblingsgedanke hervor, daß das Leben eine schauspielerische Aufgabe sei. Man braucht es gewiß nicht mit der Vernunft zu begreifen – dachte sie; was weiß man denn überhaupt davon, selbst wenn einer mehr wußte als sie. Aber man muß den richtigen Instinkt für das Leben haben, wie ein Sturmvogel! Man muß seine Arme – und das hieß nun bei ihr: seine Worte, seine Küsse, seine Tränen – ausspannen wie Flügel! In dieser Vorstellung fand sie einen Ersatz dafür, daß sie nicht mehr an Walters Zukunft glauben konnte. Sie sah das steile Treppenhaus hinunter, das Walter hinabgestiegen war, breitete die Arme aus und hielt sie in dieser Lage erhoben, so lange sie vermochte: vielleicht konnte sie ihm dadurch helfen! „Steil aufwärts und steil abwärts sind in ihrer Stärke feindlich verwandt und gehören zusammen!“ dachte sie. „Jubelnde Weltschräge“ nannte sie ihre ausgebreiteten Arme und den Blick in die Tiefe. Sie ließ den Vorsatz fahren, heimlich den Kundgebungen in der Stadt zuzusehen; was ging sie die „Herde“ an, das ungeheure Drama der einzelnen hatte begonnen.

So war Clarisse zu Ulrich gegangen. Sie hatte unterwegs manchmal ihr listiges Lächeln gezeigt, wenn sie daran dachte, daß Walter sie für verrückt halte, sobald sie etwas von ihrer höheren Einsicht in ihrer beider Zustand merken ließ. Es schmeichelte ihr, daß er sich davor fürchtete, ein Kind von ihr zu bekommen, und es doch kaum erwarten konnte; sie verstand unter „verrückt“ etwa so viel wie einem Wetterleuchten ähnlich zu sein oder sich in einem solchen hohen Zustand von Gesundheit zu befinden, daß es andere erschreckt, und es war eine Eigenschaft, die sich in ihrer Ehe entwickelt hatte, Schritt um Schritt, so wie ihre Überlegenheit und beherrschende Stellung wuchs. Immerhin wußte sie aber, daß sie manchmal den anderen unverständlich war, und als Ulrich wieder eintrat, hatte sie das Gefühl, ihm etwas sagen zu müssen, wie es sich bei einem Ereignis gehörte, das in sein Leben so tief einschnitt. Sie sprang rasch von ihrem Diwan auf, durchschritt einigemal das Zimmer und die angrenzenden Räume und sagte dann: „Also mein herzlichstes Beileid, alter Junge!“

Ulrich sah sie erstaunt an, obwohl er diesen Ton schon an ihr kannte, wenn sie nervös war. „Sie hat dann manchmal etwas so unvermittelt Konventionelles,“ dachte er „wie wenn in ein Buch versehentlich eine Seite aus einem anderen eingebunden ist.“ Sie hatte ihm ihren Satz nicht etwa mit dem üblichen Ausdruck zugerufen, sondern von der Seite, über die Schulter weg, und das verstärkte diese Wirkung, daß man nicht einen falschen Ton zu hören glaubte, sondern einen verwechselten Text, und den nicht ganz geheuren Eindruck empfing, sie selbst bestehe aus mehreren solcher Textlagen. Sie blieb jetzt, da Ulrich nicht antwortete, vor ihm stehen und sagte: „Ich muß mit dir reden!“

„Ich möchte dir gerne eine Erfrischung anbieten“ sagte Ulrich.

Clarisse bewegte nur zum Zeichen der Ablehnung die aufgerichtete Hand in Schulterhöhe rasch hin und her. Sie nahm ihre Gedanken zusammen und begann: „Walter will durchaus ein Kind von mir. Verstehst du das?“ Sie schien auf eine Antwort zu warten.

Was hätte Ulrich erwidern sollen?

„Ich will aber nicht!“ rief sie heftig aus.

„Sei doch nicht gleich bös“ meinte Ulrich. „Wenn du nicht willst, kann es ohnehin nicht geschehn.“

„Aber daran geht er zugrunde!“

„Leute, die jederzeit zu sterben meinen, leben lang! Du und ich werden längst verhutzelt sein, aber Walter wird noch unter weißem Haar und als Direktor seines Archivs ein Jünglingsgesicht haben!“

Clarisse drehte sich nachdenklich auf dem Absatz herum und ging von Ulrich fort; in einiger Entfernung nahm sie wieder Stellung und „faßte“ ihn „ins Auge“. „Weißt du, wie ein Regenschirm aussieht, nachdem man den Stock herausgezogen hat? Walter fällt zusammen, wenn ich mich abwende. Ich bin sein Stock, er ist -“ „Der Schirm“ hatte sie sagen wollen, aber es fiel ihr eine wesentliche Verbesserung ein; „er ist mein Schirm-Herr“ sagte sie. „Er glaubt mich beschirmen zu müssen. Erst möchte er mich dazu mit einem schweren Bauch sehen. Dann wird er mir zureden, daß eine natürliche Mutter ihr Kind selbst stillt. Dann wird er dieses Kind in seinem Sinn erziehen wollen. Das weißt du doch selbst. Er will sich einfach Rechte aneignen und mit einer großartigen Ausrede Spießbürger aus uns beiden machen. Aber wenn ich weiter, so wie ich es bisher getan habe, nein sage, dann ist es aus mit ihm! Ich bin einfach alles für ihn!“

Ulrich lächelte ungläubig zu dieser umfassenden Behauptung.

„Er will dich töten!“ fügte Clarisse rasch hinzu.

„Was? Ich dachte, das hättest du ihm geraten?“

„Ich möchte das Kind von dir haben!“ sagte Clarisse.

Ulrich pfiff überrascht durch die Zähne.

Sie lächelte wie ein sehr junger Mensch, der eine ungezogene Forderung gestellt hat.

„Ich möchte jemand, den ich so gut kenne wie Walter, nicht hintergehn. Ich habe eine Abneigung dagegen“ sagte Ulrich langsam.

„So? Du bist also sehr anständig?“ Clarisse schien dem eine Bedeutung beizumessen, die Ulrich nicht verstand; sie überlegte, und erst nach einer Weile setzte sie ihren Angriff fort: „Aber wenn du mich liebst, hat er dich in der Hand!?“

„Wieso?“

„Das ist doch ganz klar; ich kann es bloß nicht recht sagen. Du wirst dich gezwungen sehen, rücksichtsvoll gegen ihn zu sein. Er wird uns sehr leid tun. Du kannst ihn doch natürlich nicht einfach betrügen, also wirst du ihm etwas dafür zu geben suchen. Na, und so weiter. Und was das Wichtigste ist: Du wirst ihn zwingen, daß er sein Bestes hergibt. Das kannst du doch nicht leugnen, daß wir in uns stecken wie die Figuren in einem Steinblock. Man muß sich aus sich herausarbeiten! Man muß sich gegenseitig dazu zwingen!“

„Gut“ sagte Ulrich; „aber du setzt viel zu schnell voraus, daß es geschehen wird.“

Clarisse lächelte wieder. „Vielleicht vorschnell!“ sagte sie. Sie näherte sich ihm und hing freundschaftlich ihren Arm in den seinen, der schlaff vom Körper hängen blieb, ohne ihr Platz zu bereiten. „Gefalle ich dir nicht? Hast du mich nicht gern?“ fragte sie. Und als Ulrich keine Antwort gab, fuhr sie fort: „Ich gefalle dir, das weiß ich doch; ich habe oft genug bemerkt, wie du mich anschaust, wenn du bei uns bist! Erinnerst du dich, ob ich dir schon einmal gesagt habe, du bist der Teufel? Mir ist so. Versteh mich gut: Ich sage nicht, du bist ein armer Teufel, das ist einer, der das Böse will, weil er es nicht besser versteht; du bist ein großer Teufel, du weißt, was gut wäre, aber du tust gerade das Gegenteil von dem, was du möchtest! Du findest das Leben, wie wir alle es führen, abscheulich, und darum sagst du zum Trotz, man soll es weiterführen. Und du sagst furchtbar anständig: ‚Ich betrüge meine Freunde nicht!‘, aber du sagst es bloß, weil du dir schon hundertmal gedacht hast: ‚Ich möchte Clarisse haben!‘ Aber weil du ein Teufel bist, hast du auch etwas von Gott in dir, Ulo! Von einem großen Gott! Einem, der lügt, damit man ihn nicht erkennen soll! Du möchtest mich -“

Sie hatte statt eines Arms jetzt seine beiden Arme ergriffen und stand mit emporgehobenem Gesicht vor ihm, den Leib wie eine Pflanze zurückgebogen, die man sanft an der Blüte anfaßt. „Jetzt wird es gleich wieder über ihr Gesicht strömen, so wie damals!“ fürchtete Ulrich. Aber es geschah nicht. Ihr Gesicht blieb schön. Sie hatte nicht ihr gewöhnliches schmales Lächeln, sondern ein geöffnetes, das mit dem Fleisch der Lippen zugleich ein wenig die Zähne zeigte, als wollte sie sich wehren, und die Form ihres Mundes bildete den doppelt geschwungenen Bogen des Liebesgotts, der sich in den Hügeln der Stirn wiederholte und über ihnen noch einmal in der lichtdurchstrahlten Wolke des Haars.

„Du möchtest mich längst zwischen die Zähne deines Lügenmunds nehmen und forttragen, wenn du es nur über dich brächtest, dich mir zu zeigen, wie du bist!“ war Clarisse fortgefahren. Ulrich machte sich sanft los. Sie ließ sich auf den Diwan nieder, als hätte er sie dorthin gesetzt, und zog ihn nach.

„Du solltest nicht so übertreiben“ verwies ihr Ulrich ihre Worte.

Clarisse hatte ihn losgelassen. Sie schloß die Augen und stützte den Kopf in beide Arme, deren Ellbogen sich auf die Knie stemmten; ihr zweiter Angriff war abgeschlagen, und sie hatte jetzt die Absicht, Ulrich durch eisige Logik zu überzeugen. „Du brauchst dich nicht an die Worte zu halten“ antwortete sie; „das sind Redensarten, wenn ich Teufel sage oder Gott. Aber wenn ich allein zu Hause bin, gewöhnlich den ganzen Tag, und in der Umgebung herumstreife, habe ich mir früher oft gedacht: Gehe ich jetzt links, so kommt Gott, gehe ich rechts, so kommt der Teufel. Oder ich habe dasselbe Gefühl gehabt, wenn ich etwas in die Hand nehmen sollte und konnte es rechts oder links tun. Wenn ich das Walter gezeigt habe, so hat er die Hände aus Angst in die Taschen gesteckt! Er freut sich an den Blumen oder schon an einer Schnecke; aber sag, ist das Leben, das wir führen, nicht furchtbar traurig? Es kommt weder Gott noch Teufel. So gehe ich schon jahrelang herum. Was kann denn kommen? Nichts: das ist alles, wenn mit der Kunst nicht noch durch ein Wunder eine Änderung glückt!“

Sie machte in diesem Augenblick einen so sanft traurigen Eindruck, daß sich Ulrich verleiten ließ, ihr weiches Haar mit der Hand zu berühren. „Du magst im einzelnen schon recht haben, Clarisse,“ sagte er „aber ich verstehe bei dir nie die Zusammenhänge und Sprünge der Folgen.“

„Die sind einfach“ antwortete sie, noch in der gleichen Haltung wie zuvor. „Ich habe mit der Zeit eben eine Idee bekommen: Hör zu!“ Nun richtete sie sich aber auf und war plötzlich wieder lebhaft. „Hast du nicht selbst einmal gesagt, daß der Zustand, in dem wir leben, Risse hat, aus denen sozusagen ein unmöglicher Zustand hervorschaut. Du brauchst nichts zu erwidern; ich weiß das schon lange. Jeder Mensch will natürlich sein Leben in Ordnung haben, aber keiner hat es! Ich mache Musik oder male; das ist aber so, wie wenn ich eine spanische Wand vor ein Loch in der Mauer stellen würde. Du und Walter habt außerdem Ideen, davon verstehe ich wenig, aber irgendetwas stimmt dabei auch nicht, und du hast gesagt, daß man zu diesem Loch aus Trägheit und Gewohnheit nicht hinsieht oder sich mit bösen Dingen davon ablenkt. Nun, das Weitere ist einfach: durch dieses Loch muß man hinaus! Und ich kann das! Ich habe Tage, wo ich aus mir hinausschlüpfen kann. Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden. Es ist ein unerhört großartiger Zustand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische, und ich bin dann nicht die Bürgerin Clarisse, als die ich getauft bin, sondern vielleicht ein glänzender Splitter, der in ein ungeheures Glück eindringt. Aber das weißt du ja alles selbst! Denn das hast du gemeint, wenn du gesagt hast, daß die Wirklichkeit einen unmöglichen Zustand in sich hat und daß man seinen Erlebnissen nicht die Wendung zu sich geben und sie nicht als persönlich und wirklich ansehen darf, sondern daß man sie, wie gesungen oder gemalt, hinauswenden muß und so weiter und so weiter: ich könnte dir alles ja ganz genau wiederholen!“ – Dieses „und so weiter“ kehrte wie ein wilder Reim wieder, während Clarisse überstürzt weitersprach, und fast jedesmal schloß sie die Behauptung daran: „Und du hast die Kraft dazu, aber du willst nicht; ich weiß nicht, warum du nicht willst, aber ich werde an dir rütteln!!“

Ulrich hatte sie sprechen lassen; er hatte hie und da stumm verneint, wenn sie ihm etwas zuschrieb, was sich zu weit vom Möglichen entfernte, fand aber nicht den Willen in sich, Einspruch zu erheben, und ließ seine Hand auf ihrem Haar ruhen, darunter er das wirre Pulsen dieser Gedanken fast mit den Fingerspitzen fühlte. Er hatte Clarisse noch nie so sinnlich erregt gesehen, und es verwunderte ihn fast, daß auch in ihrem schmalen, harten Körper alle Lockerung und weiche Ausbreitung des weiblichen Erglühens Platz fand, wobei die ewige Überraschung, daß sich eine Frau, die man für alle nur geschlossen gekannt hat, plötzlich öffnet, ihre Wirkung auch diesmal nicht verfehlte. Ihre Worte stießen ihn aber nicht ab, obwohl sie die Vernunft beleidigten; denn indem sie seinem Inneren nahekamen und sich davon wieder bis zur Absurdität entfernten, wirkte diese dauernde rasche Bewegung wie ein Schwirren oder Summen, dessen Tonschönheit oder -häßlichkeit neben der Heftigkeit der Schwingung nicht zur Geltung kam. Er fühlte, daß es ihm seine eigenen Entschlüsse wie eine wilde Musik erleichterte, ihr zuzuhören, und nur als ihm vorkam, sie selbst finde keinen Ausweg aus ihren Worten mehr und kein Ende, schüttelte er mit seiner gebreiteten Hand ein wenig ihren Kopf, um sie zurückzurufen und zu ermahnen.

Aber da geschah das Gegenteil von dem, was er wollte, denn Clarisse rückte ihm nun plötzlich auf den Leib. Sie schlang so geschwind, daß er es nicht abwehren konnte und ordentlich verdutzt darüber war, ihren Arm um seinen Hals und preßte ihre Lippen auf seine, hatte ihre Beine mit einer raschen Bewegung unter sich gezogen und rutschte zu ihm hin, so daß sie in seinen Schoß zu knien kam, und an der Schulter fühlte er den kleinen Ball ihres Busens. Er faßte das wenigste auf, was sie sagte. Sie stammelte von ihrer Kraft zu erlösen und seiner Feigheit, und so viel verstand er, daß er ein „Barbar“ sei und sie deshalb von ihm und nicht von Walter den Erlöser der Welt empfangen werde, eigentlich waren ihre Worte aber nur ein wildes Spiel nahe an seinem Ohr, ein halblautes, hastiges Murmeln, mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Mitteilung, und nur hie und da war in diesem drieselnden Bach ein einzelnes Wort, wie „Moosbrugger“ oder „Teufelsauge“, wahrzunehmen. Er hatte zu seiner Verteidigung seine kleine Bedrängerin an den Oberarmen gefaßt und auf den Diwan gedrückt, nun arbeitete sie mit den Beinen an ihm herum, preßte das Haar ihres Kopfes an sein Gesicht und trachtete, sein Genick wieder zu umschlingen. „Ich werde dich ermorden, wenn du nicht nachgibst!“ sagte sie hell und klar. Sie glich einem Knaben, der sich in einem Gemisch von Zärtlichkeit und Ärger nicht abweisen lassen will und in seiner Erregung immer mehr steigert. Die Anstrengung, sie zu bändigen, ließ das Fließen der Wollust in ihren Gliedern dabei nur schwach fühlen; trotzdem hatte Ulrich den Augenblick, wo er fest seinen Arm um ihren Körper schlang und sie niederdrückte, heftig empfunden. Es war geradeso, als wäre ihr Körper in sein Gefühl eingedrungen; er kannte sie doch schon so lange und hatte oft ein wenig mit ihr gebalgt, aber er hatte dieses vertraut-fremde kleine Wesen, mit seinem wild springenden Herzen, noch nie so von oben bis unten berührt, und als sich Clarissens Bewegungen nun, von seinen Händen gefesselt, sänftigten und diese Lösung der Glieder zärtlich in ihren Augen zu schimmern begann, wäre beinahe das geschehen, was er nicht wollte. In diesem Augenblick erinnerte er sich aber an Gerda, als ob jetzt erst die Forderung vor ihm stünde, mit sich selbst zu einem Abschluß zu kommen.

„Ich will nicht, Clarisse!“ sagte er und ließ sie los. „Ich will jetzt allein bleiben und habe vor meiner Abreise noch viel zu ordnen!“

Als Clarisse seine Ablehnung begriff, war das, als ob mit einigen harten Rucken ein anderes Räderwerk in ihrem Kopf eingeschaltet würde. Sie sah Ulrich mit peinlich verzerrten Zügen einige Schritte weit vor sich stehen, sah ihn reden, verstand scheinbar nichts, aber während sie den Bewegungen seiner Lippen folgte, fühlte sie einen wachsenden Widerwillen, dann bemerkte sie, daß sich ihre Röcke über die Knie hochgeschoben hatten, und schnellte in die Höhe. Ehe sie sich noch an irgend etwas erinnerte, stand sie auf den Beinen, schüttelte ihr Haar und ihre Kleider zurecht, als hätte sie in Gras gelegen, und sagte: „Natürlich mußt du einpacken, ich will dich nicht länger aufhalten!“ Sie hatte ihr gewöhnliches Lächeln wieder, das sich spöttisch unsicher durch einen schmalen Spalt zwängte, und wünschte gute Reise. „Wenn du wiederkommst, wird wahrscheinlich Meingast bei uns sein; er hat sich angekündigt, und das bin ich eigentlich dir zu sagen gekommen!“ fügte sie nebenbei an.

Ulrich hielt zögernd ihre Hand.

Ihr Finger feilte spielend an der seinen; sie würde für ihr Leben gern gewußt haben, was sie ihm eigentlich alles gesagt hatte, denn es mußte alles mögliche gewesen sein, weil sie so erregt gewesen war, daß sie es vergessen konnte! Ungefähr wußte sie, was vorgegangen war, und machte sich nichts daraus, denn ihr Gefühl sagte ihr, daß sie tapfer oder opferbereit gewesen sei und Ulrich zaghaft. Sie hatte bloß den Wunsch, sich recht kameradschaftlich von ihm zu verabschieden, damit er darüber nicht im Zweifel bleibe. Sie sagte leichthin: „Es ist besser, du erzählst Walter nichts von diesem Besuch, und was wir gesprochen haben, bleibt bis zum nächsten Mal unter uns!“ Sie reichte ihm an der Gartentür noch einmal die Hand und lehnte eine weitere Begleitung ab.

Als Ulrich zurückkehrte, erging es ihm sonderbar. Er mußte einige Briefe schreiben, um sich von Graf Leinsdorf und Diotima zu verabschieden, und hatte auch sonst verschiedenes in Ordnung zu bringen, denn er sah voraus, daß ihn die Übernahme seines Erbes längere Zeit fernhalten werde; dann tat er die mannigfaltigen Gegenstände des kleinen Gebrauchs und Bücher in die von seinem Diener, den er schlafen geschickt hatte, schon gepackten Koffer, und als er mit alledem fertig war, fühlte er keine Lust mehr, sich zur Ruhe zu legen. Er war abgespannt und überreizt als Folge des bewegten Tags, und diese beiden Zustände schwächten sich nicht, sondern hoben sich wechselseitig in die Höhe, so daß er sich bei großer Müdigkeit schlaflos fühlte. Nicht denkend, sondern hin und her schwingenden Erinnerungen folgend, gestand Ulrich sich zunächst ein, daß der schon einigemal empfangene Eindruck, Clarisse sei nicht bloß ein ungewöhnliches, sondern im geheimen wohl bereits ein geisteskrankes Wesen, keinen Zweifel mehr erlaube, und doch hatte sie in ihrem Anfall, oder wie man den Zustand nennen mochte, worin sie sich vor kurzem befunden, Aussprüche getan, die manchen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren. Es hätte ihn von neuem und gründlich zum Nachdenken darüber bringen können, aber er fühlte sich bloß in einer unangenehmen und zu der Natur seines Halbschlafzustandes gegensätzlichen Weise darauf aufmerksam gemacht, daß er noch viel zu tun habe. Von dem Jahr, das er sich vorgesetzt hatte, war die eine Hälfte fast schon verstrichen, ohne daß er mit irgendeiner Frage in Ordnung gekommen wäre. Es fuhr ihm durch den Sinn, daß Gerda von ihm verlangt hatte er möge ein Buch darüber schreiben. Aber er wollte leben, ohne sich in einen wirklichen und einen schattenhaften Teil zu spalten. Er entsann sich des Augenblicks, wo er mit Sektionschef Tuzzi darüber gesprochen hatte. Er sah sich und ihn in Diotimas Salon stehn, und es hatte etwas Dramatisches, etwas von Darstellern an sich. Er erinnerte sich, leichthin gesagt zu haben, er werde wohl ein Buch schreiben oder sich töten müssen. Aber auch der Gedanke an den Tod war, wenn er sich das jetzt, und sozusagen aus der Nähe, überlegte, durchaus nicht der wirkliche Ausdruck seines Zustands; denn wenn er ihm weiter nachgab und sich vorstellte, er könnte sich ja, statt abzureisen, noch vor dem Morgen töten, so kam es ihm in dem Augenblick, wo er die Todesnachricht seines Vaters erhalten hatte, einfach als ein unpassendes Zusammentreffen vor! Er befand sich in einem halben Zustand des Schlafs, wo die Gebilde der Einbildungskraft einander zu jagen beginnen. Er sah den Lauf einer Waffe vor sich, in dessen Dunkel er hineinblickte und darin er ein schattiges Nichts, den die Tiefe absperrenden Schatten wahrnahm, und fühlte, es sei eine seltsame Übereinstimmung und ein sonderbares Zusammentreffen, daß dieses gleiche Bild einer geladenen Waffe in seiner Jugend ein Lieblingsbild seines auf Flug und Ziel wartenden Willens gewesen war. Und er sah mit einemmal viele solcher Bilder wie jenes der Pistole und seines Beisammenstehens mit Tuzzi. Der Anblick einer Wiese am frühen Morgen. Das von der Eisenbahn gesehene, von dicken Abendnebeln erfüllte Bild eines langen gewundenen Flußtals. Am anderen Ende Europas ein Ort, wo er sich von einer Geliebten getrennt hatte; das Bild der Geliebten war vergessen, jenes der erdigen Straßen und schilfgedeckten Häuser frisch wie gestern. Das Achselhaar einer anderen Geliebten, einzig und allein übrig geblieben von ihr. Einzelne Teile von Melodien. Die Eigenart einer Bewegung. Gerüche von Blumenbeeten, einst unbeachtet über heftigen Worten, die aus tiefer Erregung der Seelen kamen, heute diese Vergessenen überlebend. Ein Mensch auf verschiedenen Wegen, beinahe peinlich anzusehen: er, wie eine Reihe Puppen übrig geblieben, in denen die Federn längst gebrochen sind. Man sollte meinen, solche Bilder seien das Flüchtigste von der Welt, aber eines Augenblicks ist das ganze Leben in solche Bilder aufgelöst, nur sie stehen auf dem Lebensweg, nur von ihnen zu ihnen scheint er gelaufen zu sein, und das Schicksal hat nicht Beschlüssen und Ideen gehorcht, sondern diesen geheimnisvollen halb unsinnigen Bildern.

Aber während ihn diese sinnlose Ohnmacht aller Bemühungen, deren er sich gerühmt hatte, beinahe zu Tränen rührte, entfaltete sich in dem übernächtigen Zustand, worin er sich befand, oder fast müßte man sagen, geschah um ihn wunderliches Gefühl. In allen Zimmern brannten noch die Lampen, die Clarisse, als sie allein war, überall angezündet hatte, und der Überfluß des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau begrenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über. Es war eine Auflockerung, als hätte sich ein zusammenschnürendes Band entknotet; und da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich änderte und kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils verzichtete (soweit ihn nicht seine Müdigkeit darüber täuschte), konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Veränderung unterworfen war, und von dieser Beziehung wieder nicht der gegenständliche Teil, noch Sinne und Verstand, die ihm nüchtern entsprechen, sondern es schien sich ein tief wie Grundwasser ausgebreitetes Gefühl zu ändern, worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrnehmens und Denkens sonst ruhten, und sie rückten nun weich auseinander oder ineinander: diese Unterscheidung hatte nämlich im gleichen Augenblick auch ihren Sinn verloren. „Es ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch auch das, was mit mir in Verbindung steht!“ dachte Ulrich, der sich gut zu beobachten meinte. Man hätte aber auch sagen können, daß seine Einsamkeit – ein Zustand, der sich ja nicht nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband – man hätte sagen können, und er fühlte es selbst, daß diese Einsamkeit immer dichter oder immer größer wurde. Sie schritt durch die Wände, sie wuchs in die Stadt, ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt. „Welche Welt?“ dachte er. „Es gibt ja gar keine!“ Es kam ihm vor, daß dieser Begriff keine Bedeutung mehr hätte. Aber Ulrich hatte sich immer noch so viel Selbstüberwachung bewahrt, daß dieser zu hoch gesteigerte Ausdruck ihn im gleichen Augenblick unangenehm berührte; er suchte nach keinen anderen Worten mehr, ja im Gegenteil, er näherte sich von da an wieder der Vollwachheit und nach wenigen Sekunden fuhr er auf. Es graute der Tag und mischte seine Fahlheit in die rasch abwelkende Helligkeit des künstlichen Lichts.

Ulrich sprang auf und dehnte seinen Körper. Es war etwas darin zurückgeblieben, das sich nicht abschütteln ließ. Er strich sich mit dem Finger über die Augen, aber sein Blick behielt etwas von der Weichheit einer einsinkenden Berührung der Dinge. Und mit einemmal erkannte er in einer schwer beschreiblichen, abströmenden Weise, einfach so, als verließe ihn die Kraft, es länger abzuleugnen, daß er wieder dort stand, wo er sich schon einmal vor vielen Jahren befunden hatte. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Einen „Anfall der Frau Major“ nannte er sein Befinden spöttisch. Nach der Meinung seiner Vernunft bestand keine Gefahr, denn es war niemand da, mit dem er eine solche Torheit hätte wiederholen können. Er öffnete ein Fenster. Es war eine gleichgültige Luft draußen, eine Allerweltsmorgenluft mit den ersten anklingenden Geräuschen der Stadt. Während die Kühle seine Schläfen wusch, begann ihn die Abneigung des Europäers gegen Gefühlsduselei mit ihrer klaren Härte zu erfüllen, und er nahm sich vor, dieser Geschichte, wenn es sein müßte, mit aller Exaktheit zu begegnen. Und doch hatte er, lange so am Fenster stehend und ohne Gedanken in den Morgen blickend, auch da noch etwas von dem blinkenden Vergleiten aller Empfindungen in sich.

Er war überrascht, als mit einemmal sein Diener mit dem feierlichen Ausdruck des Frühaufgestandenen eintrat, um ihn zu wecken. Er badete, gab rasch seinem Körper einige lebhafte Bewegung und fuhr zur Bahn.

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