BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Zweiter Teil:

Seinesgleichen geschieht

 

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115

Die Spitze deiner Brust ist

wie ein Mohnblatt

 

Nach dem Gesetz, daß auf Zeiten großer Festigkeit stürmische Umlagerungen folgen, erlitt auch Bonadea einen Rückfall. Ihre Annäherungsversuche an Diotima waren vergeblich geblieben, und es wurde nichts aus der schönen Absicht, Ulrich dadurch zu strafen, daß sich die beiden Nebenbuhlerinnen befreundeten und ihn beiseite stehen ließen, – eine Phantasie, der sie viele Träume gewidmet hatte. Sie mußte sich herabwürdigen, wieder an die Tür ihres Geliebten zu klopfen, aber dieser schien es so eingerichtet zu haben, daß sie unaufhörlich gestört wurden, und an seiner leidenschaftslosen Freundlichkeit zerrannen die Erzählungen, durch die sie ihm erklären wollte, warum sie wieder da sei, ohne daß er es verdiene. Das Verlangen, ihm dafür einen fürchterlichen Auftritt zu machen, bedrängte sie sehr, aber andererseits verbot ihr das ihre tugendhafte Haltung, so daß sie mit der Zeit große Abneigung gegen die Vorzüge empfand, die sie sich auferlegt hatte. In den Nächten saß der dicke Kopf, den unbefriedigte Wollust erzeugt, auf ihren Schultern wie eine Kokosnuß, deren affenhaarige Schale durch einen Irrtum der Natur nach innen gewachsen ist, und schließlich wurde sie so voll ohnmächtigen Zorns wie ein Trinker, dem man die Flasche entzogen hat. Sie schimpfte bei sich auf Diotima, die sie eine Schwindlerin, ein unerträgliches Frauenzimmer nannte, und ihre Phantasie versah die edel-frauliche Hoheit, deren Zauber Diotimas Geheimnis war, mit sachkundigen Anmerkungen. Die Nachahmung dieses Aussehens, die ihr solches Glück bereitet hatte, wurde Bonadea nun zum Gefängnis, aus dem sie in wüste Freiheit ausbrach; Brennschere und Spiegel verloren ihre Macht, ein Idealbild aus ihr zu schaffen, und damit fiel auch der künstliche Bewußtseinszustand zusammen, worin sie sich befunden hatte. Sogar der Schlaf, dessen sich Bonadea trotz ihrer Lebenskonflikte immer köstlich erfreut hatte, ließ jetzt abends manchmal ein wenig auf sich warten, was ihr so neu war, daß es ihr wie krankhafte Schlaflosigkeit vorkam; und in diesem Zustand fühlte sie, was alle Menschen fühlen, wenn sie ernsthaft krank sind, daß der Geist flieht und den Körper wie einen Verwundeten im Stich läßt. Wenn Bonadea in ihren Anfechtungen wie in glühendem Sand lag, kamen ihr alle klugen Redereien, die sie an Diotima bewundert hatte, meilenweit entfernt vor, und sie verachtete sie ehrlich.

Da sie sich nicht entschließen konnte, Ulrich noch einmal aufzusuchen, ersann sie abermals einen Plan, um ihn für natürliche Empfindungen zurückzugewinnen, und zuerst war das Ende davon fertig: Bonadea wird bei Diotima eindringen, wenn Ulrich bei der Verführerin ist. Die Unterredungen bei Diotima waren ja ersichtlich nur Vorwände, um miteinander schönzutun, statt wirklich etwas fürs Allgemeine zu leisten. Bonadea dagegen wird etwas fürs Allgemeine tun, und schon war damit auch der Anfang ihres Plans fertig: denn niemand kümmert sich mehr um Moosbrugger, und dieser geht zugrunde, während die anderen große Worte machen! Bonadea war nicht einen Augenblick erstaunt darüber, daß Moosbrugger wieder zum Retter in ihrer Not werden sollte. Sie würde ihn entsetzlich gefunden haben, wenn sie über ihn nachgedacht hätte; aber sie dachte nur: „Wenn Ulrich schon solche Teilnahme für ihn hat, dann soll er ihn auch nicht vergessen!“ Bei weiterer Beschäftigung mit ihrem Plan fielen ihr sodann noch zwei Einzelheiten ein: Sie erinnerte sich, daß Ulrich im Gespräch über diesen Mörder behauptet habe, man besitze eine zweite Seele, die immer unschuldig sei, und ein zurechnungsfähiger Mensch könne immer auch anders, der unzurechnungsfähige aber nie; sie zog irgendetwas Ähnliches daraus wie den Schluß, daß sie unzurechnungs­fähig sein wolle und dann unschuldig sein werde, ein Zustand, der auch Ulrich abging und ihm zu seinem Heil zu bringen war. – So gut gekleidet, als wolle sie in Gesellschaft, streifte sie, um das auszuführen, durch mehrere Abende vor den Fenstern Diotimas umher und brauchte nicht lange zu warten, bis diese, zum Zeichen innerer Tätigkeit, über die ganze Front erleuchtet waren. Ihrem Mann hatte sie erzählt, daß sie eingeladen sei, aber niemals lange bleibe; und während weniger Tage, wo es ihr noch an Mut fehlte, entstand durch dieses Lügen, durch dieses abendliche Auf- und Abgehen vor einem Haus, wohin sie nicht gehörte, ein wachsender Auftrieb, der sie bald die Treppen hinan führen sollte. Sie konnte von Bekannten gesehen, von ihrem zufällig vorbeikommenden Gatten beobachtet werden; sie konnte dem Hausmeister auffallen, ein Schutzmann vermochte auf den Einfall zu kommen, sie auszufragen; je öfter sich ihr Spaziergang wiederholte, desto größer erschienen ihr diese Gefahren, und desto wahrscheinlicher wurde es, daß sich einmal ein Zwischenfall ereignen werde, wenn sie noch lange zögere. Nun, Bonadea war nicht gerade selten in Tore gehuscht oder auf Wegen gegangen, wo sie nicht gesehen werden wollte, aber da hatte sie wie einen Schutzengel das Bewußtsein auf ihrer Seite gehabt, es gehöre unvermeidlich zu dem, was sie erreichen wolle, während sie diesmal in ein Haus eindringen sollte, wo sie nicht erwartet wurde und das, was ihr bevorstand, ungewiß war; es wurde ihr zumute wie einer Attentäterin, die sich die ganze Sache anfangs nicht so genau vorgestellt hat, aber durch die Nachhilfe der Umstände in den Zustand gehoben wird, wo der Knall einer Pistole, das Blitzen durch die Luft fliegender Salzsäuretropfen kaum mehr eine Erhöhung bedeutet.

Bonadea hatte keine solchen Absichten, aber sie befand sich in ähnlicher Abgeschiedenheit des Geistes, als sie endlich wirklich die Klingel drückte und eintrat. Die kleine Rachel hatte sich unauffällig Ulrich genähert und ihm gemeldet, daß man ihn draußen zu sprechen wünsche, ohne zu verraten, daß „man“ eine fremde, tief verschleierte Dame sei, und als sie hinter ihm die Türe des Salons schloß, schlug Bonadea den Schleier von ihrem Antlitz zurück. Sie war in diesem Augenblick fest davon überzeugt, daß Moosbruggers Schicksal keinen Aufschub mehr dulde, und empfing Ulrich nicht wie eine von Eifersucht geplagte Geliebte, sondern atemlos wie ein Marathonläufer. Mühelos erlog sie die Ergänzung, daß ihr Mann ihr gestern mitgeteilt habe, an Moosbrugger werde bald nichts mehr zu retten sein. „Ich hasse nichts so sehr“ schloß sie „wie diese obszöne Art von Mördern; aber ich habe mich trotzdem der Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, hier als Eindringling empfunden zu werden, weil du jetzt sogleich zu der Dame des Hauses und den einflußreichsten Gästen zurückgehen und deine Angelegenheit zur Sprache bringen mußt, wenn du noch etwas erreichen willst!“ Sie wußte nicht, was sie erwartete. Daß Ulrich gerührt danken, daß er Diotima herausrufen, daß Diotima sich mit ihr und ihm in ein abgelegenes Zimmer zurückziehen werde? Daß Diotima vielleicht schon durch den Laut der Stimmen ins Vorzimmer gelockt werde, wobei sie ihr wohl zu verstehen geben wollte, daß sie, Bonadea, nicht die Unberufenste sei, um sich Ulrichs edler Gefühle anzunehmen! Ihre Augen blitzten feucht, und ihre Hände zitterten. Sie sprach laut. Ulrich befand sich in großer Verlegenheit und lächelte andauernd, als verzweifeltes Mittel, um sie zu beruhigen und Zeit für die Überlegung zu gewinnen, wie er sie davon überzeugen könne, daß sie so rasch wie möglich fortgehen müsse. Die Lage war schwierig und hätte vielleicht auch mit einem Schrei- oder Weinkrampf Bonadeas enden können, wenn nicht Rachel zu Hilfe gekommen wäre. Die kleine Rachel hatte die ganze Zeit mit glänzenden, weit aufgerissenen Augen nicht weit von den beiden gestanden. Sie hatte gleich einen abenteuerlichen Zusammenhang erraten, wie die fremde schöne, am ganzen Körper unruhige Dame Ulrich zu sprechen verlangt hatte. Sie hörte das Gespräch zum größeren Teil mit an, und der Name Moosbruggers fiel mit seinen Silben in ihr Ohr wie Schüsse. Die von Kummer, Verlangen und Eifersucht in mächtige Schwingungen versetzte Damenstimme riß sie mit, obgleich sie diese Gefühle nicht verstand. Sie erriet, daß diese Frau die Geliebte Ulrichs sei, und war augenblicklich doppelt so stark in ihn verliebt als sonst. Sie fühlte sich zu einer Tat hingerissen, so als ob aus ganzer Brust gesungen würde und sie müßte einstimmen. Und so öffnete sie mit einem um Verschwiegenheit bittenden Blick eine Tür und lud die beiden ein, in das einzige von der Gesellschaft nicht benützte Zimmer einzutreten. Es war die erste offenkundige Untreue gegen ihre Herrin, die sie beging, denn sie konnte nicht im Zweifel sein, wie eine Entdeckung aufgenommen werden würde; aber die Welt war so schön, und herrliche Aufregung ist ein so unordentlicher Zustand, daß sie nicht dazu kam, sich das zu überlegen.

Als das Licht aufflammte und Bonadeas Augen allmählich sahen, wo sie sich befand, hätten ihre Beine beinahe die Kraft verloren, sie zu tragen, und die Röte der Eifersucht stieg ihr in die Wangen, denn es war Diotimas Schlafzimmer, worin sie sich umsah; Strümpfe, Haarbürsten und vieles andere lag umher, was zurückbleibt, wenn eine Frau sich eilig von Kopf zu Fuß für eine Gesellschaft umkleidet und das Mädchen keine Zeit mehr hat aufzuräumen oder das unterläßt, wie in diesem Fall, weil am nächsten Morgen ohnehin alles gründlich gemacht werden soll; denn an den großen Festabenden mußte auch das Schlafzimmer als Möbelspeicher herhalten, um die übrigen Räume zu entleeren. Die Luft roch nach diesen eng aneinandergerückten Möbeln, nach Puder, Seife und Essenzen. „Die Kleine hat eine Dummheit gemacht; wir können hier nicht bleiben!“ sagte Ulrich lachend. „Überhaupt, du hättest nicht kommen sollen, es läßt sich ja doch nichts für Moosbrugger tun.“

„Ich hätte mich nicht herbemühen sollen, sagst du?“ wiederholte Bonadea fast stimmlos. Ihre Augen irrten umher. Wie wäre das Mädchen, fragte sie sich gequält, auf den Einfall gekommen, Ulrich ins Innerste des Hauses zu führen, wenn es das nicht gewöhnt wäre?! Sie brachte es aber nicht über sich, ihm diesen Beweis vorzuhalten, sondern sagte lieber mit tonlosem Vorwurf: „Du bringst es über dich, ruhig zu schlafen, wenn solches Unrecht geschieht? Ich schlafe nächtelang nicht, und darum habe ich mich entschlossen, dich zu suchen!“ Sie hatte dem Zimmer den Rücken gekehrt, stand am Fenster und starrte in die spiegelnde Undurchsichtigkeit, die von außen an ihre Augen herantrat. Das mochten Baumkronen sein, oder die Tiefe eines Hofs. Soweit, um zu wissen, daß dieses Zimmer nicht auf die Straße sehe, kannte sie sich trotz ihrer Aufregung in der Örtlichkeit aus; man mochte von anderen Fenstern hereinblicken können, und wenn sie sich vergegenwärtigte, daß sie nun also gemeinsam mit ihrem ungetreuen Geliebten, bei aufgezogenen Vorhängen vom Licht bestrahlt, vor einem unbekannten dunkeln Zuschauerraum im Schlafzimmer ihrer Nebenbuhlerin stehe, so erregte sie das sehr. Sie hatte den Hut abgenommen und den Mantel zurückgeschlagen, ihre Stirn und die warmen Spitzen ihrer Brüste berührten die kalten Fensterscheiben; Zärtlichkeit und Tränen feuchteten ihre Augen. Sie machte sich langsam los und wandte sich wieder ihrem Freund zu, aber etwas von dem weichen, nachgiebigen Schwarz, in das sie gebückt hatte, blieb in ihren Augen, die jetzt eine unbewußte Tiefe hatten. „Ulrich!“ sagte sie eindringlich „Du bist nicht schlecht! Du stellst dich nur so! Du machst dir Schwierigkeiten, gut zu sein, so viel du nur kannst!“

Die Lage wurde durch diese unverhältnismäßig klugen Worte Bonadeas von neuem gefährlich; das war einmal nicht die lächerliche Sehnsucht solcher von ihrem Körper beherrschten Frau nach Trost in geistiger Vornehmheit; sondern da sprach die Schönheit dieses Körpers selbst ihr Recht auf die sanfte Würde der Liebe aus. Er trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter; sie hatten sich wieder dem Dunkel zugekehrt und sahen gemeinsam hinaus. In der scheinbar unbegrenzten Finsternis hatte sich ein wenig Licht, das aus dem Haus kam, aufgelöst, und das sah aus, wie wenn dicker Nebel die Luft mit seiner Weichheit ausfüllte. Aus irgendeinem Grund hatte Ulrich auf das stärkste den Eindruck, in eine mildkalte Oktobernacht hinauszustarren, obgleich es Spätwinter war, und es kam ihm vor, die Stadt sei in sie eingehüllt wie in eine ungeheure Wolldecke. Dann fiel ihm ein, daß man ebensogut von einer Wolldecke sagen könnte, sie sei wie eine Oktobernacht. Er spürte eine sanfte Unsicherheit auf der Haut und zog Bonadea fester an sich.

„Wirst du jetzt hineingehen?“ fragte Bonadea.

„Und das Unrecht verhindern, das Moosbrugger zugefügt werden soll? Nein; ich weiß ja nicht einmal, ob ihm wirklich Unrecht geschieht! Was weiß ich von ihm? Ich habe ihn einmal in einer Verhandlung flüchtig gesehen, und einiges andere, das über ihn geschrieben worden ist, habe ich gelesen. Es ist so, wie wenn ich von der Spitze deiner Brust geträumt hätte, sie sei wie ein Mohnblatt. Darf ich darum schon glauben, daß sie wirklich eines ist?“

Er dachte nach. Auch Bonadea dachte nach. Er dachte: „Es ist doch wirklich so, daß ein Mensch, auch nüchtern betrachtet, für den andern nicht viel mehr bedeutet als eine Reihe Gleichnisse.“ Bonadea, nachdenkend, kam zu dem Ergebnis: „Komm, gehen wir fort!“

„Das ist unmöglich,“ gab Ulrich zur Antwort „man würde fragen, wo ich geblieben sei, und wenn etwas von deinem Besuch durchsickern sollte, so würde das übles Aufsehen erregen.“

Schweigen, Hinaussehen und etwas, das ebensogut Oktobernacht, Jännernacht, Wolltuch, Schmerz oder Glück sein konnte, ohne daß sie es unterschieden, vereinigte die beiden wieder.

„Warum tust du nie das Nächstliegende?“ fragte Bonadea.

Er erinnerte sich mit einemmal an einen Traum, den er in der letzten Zeit gehabt haben mußte. Er gehörte zu den Menschen, die selten träumen oder sich wenigstens nie des Träumens entsinnen, und es berührte ihn seltsam, wie sich diese Erinnerung unversehens öffnete und ihn einließ. Er hatte mehrmals vergeblich versucht, einen steilen Berghang zu überqueren, und war jedesmal von heftigen Schwindelgefühlen zurückgetrieben worden. Ohne weitere Erklärung wußte er jetzt, daß sich dieses Erlebnis auf Moosbrugger bezog, der aber nirgends darin vorkam. Es bedeutete auch, wie ein Traumbild oft mehrfachen Sinn hat, in körperlicher Weise die vergeblichen Versuche seines Geistes, die sich in letzter Zeit immer wieder in seinen Gesprächen und Beziehungen geäußert hatten und ganz einem Gehen ohne Weg glichen, das über irgendeinen Punkt nicht hinauskommt. Er mußte über die ungekünstelte Handfestigkeit lächeln, mit der sein Traum das dargestellt hatte: glatter Stein und abrutschende Erde, da und dort ein einzelner Baum als Halt oder Ziel und dazu das ungestüme Wachsen des Höhenunterschieds im Gehen. Er hatte es mit dem gleichen Mißerfolg höher und tiefer versucht, und es wurde ihm schon übel von Schwindel, als er jemand, der mit ihm ging, erklärte, wir lassen es sein, ganz unten in der Talsohle führt ohnehin der bequeme allgemeine Weg! Das war deutlich! Es kam Ulrich übrigens vor, daß die Person in seiner Gesellschaft ganz gut Bonadea gewesen sein konnte. Vielleicht hatte er wirklich auch davon geträumt, daß die Spitze ihrer Brust wie ein Mohnblatt sei; etwas Unzusammenhängendes, das für das suchende Gefühl recht wohl breite Zackigkeit, dunkel malvenfarbiges Blaurot sein konnte, löste sich aus einem noch nicht erhellten Winkel des Traumbilds wie ein Nebel.

In diesem Augenblick trat jene Helle des Bewußtseins ein, wo man mit einem Blick seine Kulissen sieht, samt allem, was sich dazwischen abspielt, auch wenn man diesen Eindruck beiweitem nicht darlegen kann. Die Beziehung, die zwischen einem Traum und dem was er ausdrückt, besteht, war ihm bekannt, denn es ist keine andere als die der Analogie, des Gleichnisses, die ihn schon des öfteren beschäftigt hatte. Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit, für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und gestaltet es mit den Sinnen nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine Glaswand. Nimmt man es mit dem Verstand und trennt das nicht Stimmende vom genau Übereinstimmenden ab, so entsteht Wahrheit und Wissen, aber man zerstört das Gefühl. Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in zwei Teile spalten, zerlebt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre von Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. Es scheint, daß es dazwischen keine dritte Möglichkeit gibt; aber wie oft endet etwas Ungewisses erwünscht, wenn man ohne viel Überlegen damit beginnt! Ulrich hatte das Gefühl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft. Und er hatte von alledem ein wenig zu Bonadea gesagt, als Antwort auf die Frage, warum er nie das Nächstliegende tue. Sie verstand es wohl nicht, aber sie hatte entschieden einen großen Tag; sie dachte eine Weile nach, schob ihren Arm fester in den Ulrichs und antwortete zusammenfassend: „Im Traum denkst du doch auch nicht, sondern du erlebst irgendeine Geschichte!“ Das war beinahe wahr. Er drückte ihr die Hand. Sie hatte plötzlich wieder Tränen in den Augen. Ganz langsam rannen sie ihr ins Gesicht, und von der in ihrem Salz gebadeten Haut stieg der unbezeichenbare Duft der Liebe auf. Ulrich atmete ihn ein und fühlte große Sehnsucht nach diesem Schlüpfrig-Schleirigen, nach Nachgeben und Vergessen. Aber er nahm sich zusammen und führte sie zärtlich zur Türe zurück. Er war in diesem Augenblick sicher, daß er noch etwas vor sich habe und es nicht in halben Neigungen vertändeln dürfe. „Du mußt jetzt fortgehn,“ sagte er leise „und sei mir nicht böse, ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen können, ich habe jetzt viel mit mir selbst zu tun!“

Und das Wunder geschah, Bonadea setzte dem keinen Widerstand entgegen und sagte nichts Ärgerlich-Hoheitsvolles. Sie war nicht mehr eifersüchtig. Sie fühlte, daß sie eine Geschichte erlebe. Sie hätte ihn in ihre Arme hüllen mögen; ihr ahnte, man müsse ihn auf die Erde hinabziehn; sie hätte am liebsten ein schützendes Kreuz auf seiner Stirn gemacht, wie sie es bei ihren Kindern tat. Und das kam ihr so schön vor, daß es ihr nicht einfiel, darin ein Ende zu sehn. Sie setzte den Hut auf und küßte ihn, und dann küßte sie ihn noch einmal durch den Schleier, dessen Fäden davon heiß wie glühende Gitterstäbe wurden.

Mit Hilfe des Mädchens, das an der Tür gewacht und gelauscht hatte, gelang es, Bonadea unbemerkt verschwinden zu lassen, obgleich im Hause schon der allgemeine Aufbruch begonnen hatte. Ulrich drückte Rachel dafür ein größeres Geldgeschenk in die Hand und sagte einige lobende Worte über ihre Geistesgegenwart; Rachel war von beidem so begeistert, daß ihre Finger, ohne es zu merken, mit dem Geld die längste Zeit über auch seine Hand festhielten, bis er lachen mußte und die nun plötzlich von ihrem Blut Übergossene freundlich auf die Schulter klopfte.

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