BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Zweiter Teil:

Seinesgleichen geschieht

 

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Der Königskaufmann und

die Interessenfusion Seele-Geschäft.

Auch: Alle Wege zum Geist gehen von der Seele aus,

aber keiner führt zurück

 

Zu dieser Zeit, wo des Generals Liebe vor seiner Bewunderung für Diotima und Arnheim zurücktrat, hätte Arnheim längst schon den Beschluß gefaßt haben müssen, nicht mehr wiederzukehren. Statt dessen traf er Anstalten zu längerem Aufenthalt; er behielt die Zimmer, die er im Hotel bewohnte, dauernd bei, und sein bewegtes Leben machte den Eindruck, stillzustehen.

Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen das Ende des Jahres neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten besaß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne niemals wieder ausbrechen, allgemein war. Sie war nicht allgemein gleich stark. Die Fenster des schönen alten Palais am Ballhausplatz, wo Sektionschef Tuzzi waltete, warfen oft noch spät abends Licht in die kahlen Bäume des gegenüberliegenden Gartens, und gebildete Bummler, wenn sie nachts vorbeikamen, faßte Schauer an. Denn so wie der heilige Josef den gewöhnlichen Zimmermann Josef durchdringt, durchdrang der Name „der Ballhausplatz“ den dort stehenden Palast mit dem Geheimnis, eine des halben Dutzends mysteriöser Küchen zu sein, wo hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde. Dr. Arnheim war von diesen Vorgängen ziemlich gut unterrichtet. Er erhielt chiffrierte Depeschen und von Zeit zu Zeit den Besuch eines seiner Beamten, der mit persönlichen Informationen aus der Zentrale kam, die Fenster seiner Hotelwohnung waren auch oft in Front erleuchtet, und ein einbildungskräftiger Beobachter hätte glauben können, hier nächtige eine zweite, eine Gegenregierung, eine moderne apokryphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie.

Übrigens vernachlässigte es Arnheim niemals, einen solchen Eindruck selbst hervorzurufen; denn ohne die Suggestionen der Äußerlichkeit ist der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale. Schon beim Frühstück, das er aus diesem Grunde nicht allein, sondern in dem allen zugänglichen Raum des Hotels einnahm, gab er mit der Regierungsgeübtheit des erfahrenen Herrschers und der höflich stillen Haltung des Mannes, der sich beobachtet weiß, die Tagesanordnungen seinem Sekretär, der sie stenographisch festhielt; keine von ihnen hätte genügt, um Arnheim Freude zu bereiten, aber indem sie den Platz in seinem Bewußtsein nicht nur untereinander teilten, sondern darin auch noch durch die Reize des Frühstücks eingeschränkt wurden, hoben sie sich in die Höhe. Wahrscheinlich braucht menschliche Begabung – und das war einer seiner Lieblingsgedanken – überhaupt eine gewisse Einengung, um sich entfalten zu können; der wirklich fruchtbare Streifen zwischen übermütiger Gedankenfreiheit und mutloser Gedankenflucht ist, wie jeder Kenner des Lebens weiß, überaus schmal. Außerdem war er aber auch noch davon überzeugt, daß es sehr darauf ankomme, wer einen Gedanken habe; denn man weiß, daß neue und bedeutende Gedanken selten einen einzigen Finder haben, und andererseits bringt das Gehirn eines Menschen, der zu denken gewohnt ist, unaufhörlich Gedanken von verschiedenem Wert hervor: den Abschluß, die wirksame, erfolgreiche Form müssen Einfälle darum immer von außen erhalten, nicht nur aus dem Denken, sondern aus den ganzen Lebensumständen der Person. Eine Frage des Sekretärs, ein Blick auf einen Nebentisch, der Gruß eines Eintretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedesmal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrucksvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Erscheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse.

Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit „Divide et impera“ ins Gedächtnis: sie gilt von jedem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderungen vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten.

Er stellte zunächst mit Besorgnis fest, daß seine ausgebreiteten Weltinteressen wie eine der Wurzel beraubte Blume abwelkten und unbedeutende Eindrücke des Alltags, bis zu einem Sperling am Fenster oder zum freundlichen Lächeln eines Kellners hinunter, geradezu aufblühten. An seinen moralischen Begriffen, die sonst ein großes System des Rechthabens darstellten, dem nichts entschlüpfte, bemerkte er, daß sie beziehungsärmer wurden, dagegen etwas Körperliches ansetzten. Man konnte es Hingabe nennen, aber das war gleich ein Wort, das sonst einen viel weiteren und jedenfalls auch anderen Sinn hatte, denn ohne sie kommt man nirgends aus; Hingabe an eine Pflicht, an einen Höheren oder Führer, auch die an das Leben selbst, in seinem Reichtum und seiner Mannigfaltigkeit, war sonst, als männliche Tugend verstanden, für ihn der Inbegriff eines aufrechten Verhaltens gewesen, das bei aller Aufgeschlossenheit mehr Zurückhaltung als Hinausgabe enthielt. Und gleiches ließe sich von der Treue sagen, die, auf eine Frau beschränkt, einen engen Beigeschmack hat; von Ritterlichkeit und Sanftmut, Selbstlosigkeit und Zartgefühl, alles Tugenden, die wohl gewöhnlich in Verbindung mit der Frau vorgestellt werden, aber dabei ihren besten Reichtum verlieren, so daß sich schwer sagen läßt, ob auch das Erlebnis der Liebe nur zu ihr, wie Wasser an die tiefste und gewöhnlich nicht einwandfreie Stelle zusammenströmt oder ob das Erlebnis der Frauenliebe die vulkanische Stelle ist, von deren Wärme alles lebt, was auf der Erdoberfläche blüht. Ein sehr hoher Grad von männlicher Eitelkeit fühlt sich darum in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen, und wenn Arnheim seinen in die Sphären der Macht getragenen Ideenreichtum mit dem durch Diotima bewirkten Zustand der Glückseligkeit verglich, so konnte er sich des Eindrucks einer rückläufigen Bewegung, die mit ihm vor sich gegangen sei, durchaus nicht erwehren.

Er hatte zuweilen das Bedürfnis nach Umarmungen und Küssen wie ein Knabe, der sich, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, leidenschaftlich zu Füßen der Versagenden stürzt, oder er ertappte sich bei dem Verlangen, zu schluchzen, Worte hervorzustoßen, welche die Welt herausfordern sollten, und schließlich gar die Geliebte auf seinen eigenen Händen zu entführen. Nun weiß man ja wohl, daß am verantwortungslosen Rand der bewußten Person, von wo die Märchen und Gedichte kommen, auch allerhand kindische Erinnerungen zu Hause sind und sichtbar werden, wenn ausnahmsweise der leichte Rausch einer Ermüdung, das fessellose Spiel des Alkohols oder irgendeine Erschütterung diese Bezirke durchhellen; und leibhaftiger als solche Schemen waren auch Arnheims Anwandlungen nicht, so daß er nicht Ursache gehabt hätte, sich über sie aufzuregen (und durch solche Erregung die ursprüngliche gewichtig zu verstärken), wenn ihn diese infantilen Rückwandlungen aufdringlich davon überzeugt hätten, daß sein Seelenleben voll von verblaßten Moralpräparaten sei. Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war.

Auf diese Weise erinnerte er sich in natürlicher Folge seiner Kindheit. Auf seinen Jugendbildnissen hatte er große, schwarze, runde Augen, wie man den Knaben Jesus malt, wenn er im Tempel mit den Schriftgelehrten disputiert, und er sah alle Erzieherinnen und Erzieher in einem Kreis um sich versammelt stehn und sich über seine Geistesgaben wundern, denn er war ein kluges Kind gewesen und hatte immer kluge Erzieher gehabt. Er hatte sich aber auch als glühendes, gefühlvolles Kind bewährt, das kein Unrecht leiden konnte; da er selbst viel zu behütet gewesen, als daß ihm eins hätte geschehen können, nahm er sich auf der Straße fremden Unrechts an und warf sich seinetwillen in Kämpfe. Das war eine sehr bedeutende Leistung, wenn berücksichtigt wird, wie sehr man ihn daran hinderte, so daß niemals mehr als eine Minute verstrich, ohne daß jemand herbeistürzte, um ihn von seinem Gegner zu trennen. Und weil auf diese Weise solche Kämpfe gerade lange genug dauerten, um die eine oder andere schmerzliche Erfahrung zu sammeln, aber rechtzeitig genug unterbrochen wurden, um in ihm den Eindruck ungebeugter Tapferkeit zu hinterlassen, dachte Arnheim noch heute mit Einverständnis an sie zurück, und die Herreneigenschaft vor nichts zurückscheuenden Mutes ging später auf seine Bücher und Überzeugungen über, wie es ein Mensch braucht, der seinen Zeitgenossen zu sagen hat, wie sie sich zu verhalten haben, um würdig und glücklich zu sein.

Dieser Zustand seiner Kinderzeit war ihm also verhältnismäßig lebhaft erhalten geblieben, aber ein anderer, der sich etwas später und teilweise als die umbildende Fortsetzung eingestellt hatte, zeigte sich dem Betrachter entschlafen oder, richtiger gesagt, versteint, wenn man erlaubt, dabei unter Steinen Brillanten zu verstehen. Es war der, nun in der Berührung mit Diotima zu neuem Leben aufschreckende der Liebe, und das Bezeichnende war, daß ihn Arnheim in seiner Jünglingszeit ursprünglich ganz ohne Frauen, überhaupt ohne bestimmte Personen, kennengelernt hatte, und daran war etwas Verwirrendes, womit er sein Leben lang nicht fertiggeworden, obgleich er im Lauf der Zeit die modernsten Erklärungen dafür kennenlernte. „Was er meinte, war vielleicht nur das unbegreiflich Hergekommene von etwas noch Abwesendem, wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Gesehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen, waren kleine Melodien mitten in Geräuschen, Gefühle in Menschen, ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur, als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach.“ So hatte es, freilich viel später und mit anderem Akzent, ein Dichter ausgedrückt, den Arnheim schätzte, weil es für ein Zeichen von Eingeweihtheit galt, von diesem, dem Gesicht des Publikums entzogenen, heimlichen Mann zu wissen; ohne daß er ihn übrigens selbst verstand, denn Arnheim verband solche Andeutungen mit den Reden vom Erwachen einer neuen Seele, wie sie zu seiner Jugendzeit im Schwange gewesen waren, oder mit den langen mageren Mädchenkörpern, die man damals im Bilde liebte und durch ein Lippenpaar auszeichnete, das wie ein fleischiger Blütenkelch aussah.

Damals, es war um das Jahr achtzehnhundertsiebenundachtzig – „du lieber Gott, also fast vor einem Menschenalter!“ dachte Arnheim – zeigten seine eigenen Photographien einen modernen, „neuen“ Menschen, wie man das zu jener Zeit nannte, das heißt, er trug auf ihnen eine hochgeschlossene schwarze Atlasweste und eine breite Kragenbinde aus schwerer Seide, die an die Mode der Biedermeierzeit anknüpfte, der Absicht nach aber an Baudelaire erinnern sollte, was durch eine Orchidee unterstützt wurde, die als neue Erfindung zauberhaft bösartig in einem Knopfloch stak, wenn Arnheim jun. zu Tafel gehn und seine junge Person in einer Gesellschaft von robusten Kaufleuten und Freunden seines Vaters durchsetzen mußte. An Werktagen dagegen zeigten die Bilder gerne einen Zollstab als Schmuck, der aus einem weichen englischen Strapazanzug guckte, zu dem recht komisch, aber die Bedeutung des Kopfes erhöhend, ein viel zu hoher steifer Stehkragen getragen wurde. So hatte Arnheim ausgesehen und vermochte noch heute nicht, seinem Abbild ein gewisses Maß von Wohlwollen zu versagen. Er spielte gut und mit dem Eifer einer noch ungewöhnlichen Leidenschaft Tennis, das man in jener ersten Zeit auf Grasplätzen betrieb; besuchte zum Staunen seines Vaters und allen sichtbar Arbeiterversammlungen, denn er hatte während eines Studienjahrs in Zürich die anstößige Bekanntschaft der sozialistischen Ideen gemacht; bedachte sich aber auch nicht, andern Tags rücksichtslos zu Pferd durch ein Arbeiterdorf zu sprengen. Kurz, alles das war ein Wirbel von widerspruchsvollen, aber neuen geistigen Elementen gewesen, welche die bezaubernde Einbildung erweckten, zur rechten Zeit geboren worden zu sein, die so wichtig ist, wenngleich man später natürlich erkennt, daß ihr Wert nicht gerade in ihrer Seltenheit liegt. Ja Arnheim war, späterhin immer mehr Raum konservativen Erkenntnissen gebend, sogar im Zweifel, ob dieses sich beständig erneuernde Gefühl, der zuletzt Gekommene zu sein, nicht eine Verschwendung der Natur darstelle; er gab es jedoch nicht preis, weil er nur sehr ungern überhaupt etwas preisgab, was er einmal besessen, und sein sammelndes Wesen sorgfältig alles in sich aufbewahrt hatte, was es damals gegeben. Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte.

Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. Man kann nicht lebhaft genug versichern, daß dies keine Philosophie war, sondern ein ebenso körperhaftes Erlebnis, wie wenn man den vom Tageshimmel überstrahlten Mond stumm im Vormittagslicht hängen sieht. In diesem Zustand speiste zwar schon der junge Paul Arnheim beherrscht in einem vornehmen Restaurant, ging sorgfältig gekleidet in jede Gesellschaft und tat überall das, was zu tun war; aber man konnte sagen, daß es dabei von ihm zu ihm ebensoweit war wie zum nächsten Menschen oder Ding, daß die Außenwelt nicht an seiner Haut aufhörte und die Innenwelt nicht bloß durch das Fenster der Überlegung hinausleuchtete, sondern daß sie beide sich zu einer ungeteilten Abgeschiedenheit und Anwesenheit vereinten, die so mild, ruhig und hoch war wie ein traumloser Schlaf. In moralischer Beziehung zeigte sich dann eine wahrhaft große Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit; es war nichts klein und nichts groß, ein Gedicht und ein Kuß auf eine Frauenhand wogen ebensoviel wie ein mehrbändiges Werk oder eine politische Großtat, und alles Böse war so sinnlos, wie im Grund auch alles Gute in diesem Umfangensein von der zärtlichen Urverwandtschaft aller Wesen überflüssig wurde. Arnheim benahm sich also ganz wie gewöhnlich, nur schien es in einer ungreifbaren Bedeutung zu geschehen, hinter deren zitternder Flamme der innere Mensch unbeweglich stand und dem äußeren zusah, der vor ihr einen Apfel aß oder sich vom Schneider gerade einen Anzug anmessen ließ.

War das nun eine Einbildung oder der Schatten einer Wirklichkeit, die man niemals ganz verstehen wird? Es kann darauf nur erwidert werden, daß alle Religionen in gewissen Zuständen ihrer Entwicklung behauptet haben, es sei Wirklichkeit, desgleichen alle Liebenden, alle Romantiker und alle Menschen, die eine Neigung für den Mond haben, den Frühling und das selige Sterben der ersten Herbsttage. In der Folge verliert sich das aber wieder; es verflüchtigt sich oder trocknet ein, das läßt sich nicht unterscheiden, jedoch eines Tags stellt man fest, daß anderes an seiner Stelle da ist, und man vergißt es so rasch, wie man nur unwirkliche Erlebnisse, Träume oder Einbildungen vergißt. Da dieses Ur- und Weltliebeserlebnis zumeist gleichzeitig mit der ersten persönlichen Verliebtheit aufzutreten pflegt, glaubt man überdies später auch beruhigt zu wissen, wie es einzuschätzen sei, und rechnet es zu den Torheiten, die man sich nur vor Erlangen des politischen Wahlrechts gestatten darf. So war dies also beschaffen, aber da es sich bei Arnheim niemals mit einer Frau verbunden hatte, konnte es auch nicht in der natürlichen Weise mit ihr aus seinem Herzen verschwinden; dafür wurde es von den Eindrücken überdeckt, die sein Wesen erfuhr, sobald er nach Vollendung seiner Studien- und Freizeit in die Geschäfte seines Vaters eintrat. Da er nichts halb tat, entdeckte er dort alsbald, daß das schaffende und recht beschaffene Leben beiweitem ein größeres Gedicht sei als alle, die Dichter in ihren Schreibstuben ersannen, und das war nun etwas ganz anderes.

Dabei zeigte sich zum erstenmal seine Begabung zur Vorbildlichkeit. Denn das Gedicht des Lebens hat vor allen übrigen Gedichten voraus, daß es gleichsam in großen Buchstaben gesetzt ist, wie immer sein Inhalt sonst beschaffen sein möge. Um den kleinsten Volontär, der in einem Weltgeschäft tätig ist, kreist die Welt, und Erdteile gucken ihm über die Schulter, so daß nichts, was er tut, ohne Bedeutung ist; um den einsamen Verfasser in seinem Zimmer kreisen dagegen höchstens die Fliegen, er mag sich anstrengen, wie er will. Das ist so einleuchtend, daß vielen Menschen in dem Augenblick, wo sie anfangen, in Lebensmaterial zu schaffen, alles, was sie früher bewegt hat, „nur Literatur“ zu sein scheint, das heißt, es übt bestenfalls eine schwächliche und verworrene, meistens aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus, die in gar keinem Verhältnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstaltung macht. Nicht ganz so ging das natürlich bei Arnheim vor sich, der weder die schönen Regungen der Kunst verleugnete, noch irgendetwas, das ihn einmal heftig bewegt hatte, als Torheit oder Einbildung anzusehen vermochte; sobald er die Überlegenheit seiner männlichen Verhältnisse über die träumerisch jugendlichen erkannte, ging er daran, unter Führung der neuen Manneserkenntnisse eine Verschmelzung beider Erlebnisgruppen zu bewerkstelligen. Tatsächlich tat er damit eben das, was alle die vielen und die Mehrzahl der Gebildeten ausmachenden Menschen tun, die nach dem Eintritt ins Erwerbsleben ihre früheren Interessen nicht ganz verleugnen wollen, ja im Gegenteil jetzt erst ein ruhiges, reifes Verhältnis zu den schwärmerischen Antrieben ihrer Jugend finden. Die Entdeckung des großen Gedichtes des Lebens, an dem sie sich mitarbeiten wissen, schenkt ihnen den Mut des Dilettanten wieder, den sie zur Zeit, wo sie ihre eigenen Gedichte verbrannten, verloren hatten; sie dürfen sich, am Leben dichtend, wahrhaft als geborene Fachleute ansehen und gehen daran, ihr tägliches Tun mit geistiger Verantwortung zu durchdringen, fühlen sich vor tausend kleine Entscheidungen gestellt, damit es sittlich und schön sei, nehmen sich an der Vorstellung ein Muster, daß Goethe so gelebt habe, und erklären, daß sie ohne Musik, ohne Natur, ohne Betrachtung des unschuldigen Spiels von Kindern und Tieren und ohne ein gutes Buch das Leben nicht freuen würde. Dieser so durchseelte Mittelstand ist unter Deutschen noch immer der Hauptkonsument der Künste und aller nicht zu schwierigen Literatur, aber seine Mitglieder sehen auf Kunst und Literatur, die ihnen früher als Vollendung ihrer Wünsche vorgekommen waren, begreiflicherweise und wenigstens mit einem Auge so herab wie auf eine Frühstufe – wenn diese auch in ihrer Art vollendeter ist, als es ihnen gegönnt war, – oder sie halten davon, was etwa ein Eisenblechfabrikant von einem Gipsfigurenbildhauer halten müßte, wenn er die Schwäche besäße, dessen Produkte schön zu finden.

Diesem Mittelstand der Bildung glich nun Arnheim wie eine prächtige gefüllte Gartennelke einer dürftigen, am Wegrand entstandenen Steinnelke. Niemals kam für ihn geistiger Umsturz, grundsätzliche Neuerung in Frage, sondern stets nur Verflechtung ins Bestehende, Besitzergreifung, sanfte Korrektur, moralische Neubelebung des verblaßten Privilegs der in Geltung befindlichen Mächte. Er war kein Snob, kein Anbeter des ihm überlegenen Teils der Vornehmen; bei Hof eingeführt und in Berührung mit dem Hochadel wie mit den Spitzen der Bürokratie getreten, suchte er sich keineswegs dieser Umgebung als Nachahmer, sondern nur als Liebhaber konservativ feudaler Lebensgewohnheiten anzupassen, der seine bürgerliche, sozusagen Frankfurterisch-Goethesche Herkunft weder vergißt, noch vergessen machen will. Aber mit dieser Leistung war seine Gegenstellung erschöpft, und ein größerer Gegensatz wäre ihm schon lebensungerecht erschienen. Er war wohl innerlich überzeugt, daß die schaffenden Menschen – und an ihrer Spitze, sie zu einem neuen Zeitalter zusammenfassend, die das Leben lenkenden Kaufleute – berufen seien, die alten Mächte des Seins irgendwann in der Herrschaft abzulösen, und das gab ihm einen gewissen stillen Hochmut, dem die seither eingetretene Entwicklung das Zeugnis der Berechtigung ausgestellt hat; aber wenn man diesen Herrschaftsanspruch des Geldes auch als gegeben voraussetzt, so war doch noch die Frage offen, die angestrebte Macht richtig anzuwenden. Die Vorgänger der Bankdirektoren und Großindustriellen hatten es leicht, sie waren Ritter und machten aus ihren Gegnern Hirschsuppe, wofür sie die Waffen des Geistes dem Klerus überließen; der zeitgenössische Mensch dagegen besitzt zwar im Geld, wie Arnheim es verstand, die heute sicherste Methode der Behandlung aller Beziehungen, aber wenn sie auch hart und genau wie ein Fallbeil sein kann, kann sie auch so empfindlich wie ein Rheumatiker sein – man denke bloß an das Ziehen und Lahmen in den Kursen beim geringsten Anlaß! – und hängt auf das zarteste mit allem zusammen, was von ihr beherrscht wird. Durch dieses zarte Zusammenhängen aller Lebensgebilde, das nur blinder Ideologenhochmut vergessen kann, kam Arnheim dazu, im königlichen Kaufmann die Synthese von Umsturz und Beharren, Macht und bürgerlicher Zivilisiertheit, vernünftigem Wagnis und charaktervollem Wissen zu erblicken, zuinnerst aber eine Symbolgestalt der sich vorbereitenden Demokratie; durch rastlose und strenge Arbeit an seiner eigenen Persönlichkeit, geistige Organisation der ihm zugänglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und durch Gedanken über Führung und Aufbau des ganzes Staates wollte er einer neuen Zeit in die Arme wirken, wo die durch Geschick und Natur ungleichen Gesellschaftskräfte richtig und fruchtbar geordnet sind und das Ideal an den notwendigerweise einschränkenden Realitäten nicht zerbricht, sondern sich reinigt und befestigt. Um das mit sachlichem Anklang auszudrücken, hatte er also die Interessenfusion Seele-Geschäft durch Ausbildung der Dachvorstellung Königs-Kaufmann zur Durchführung gebracht, und das Gefühl der Liebe, das ihn einstens empfinden geheißen, alles sei im Grunde nur eines, lag jetzt als Kern in seiner Überzeugung von Einheit und Harmonie der Kultur und der menschlichen Interessen.

Ungefähr zu dieser Zeit begann Arnheim auch seine Schriften zu veröffentlichen, und das Wort Seele tauchte in ihnen auf. Man kann vermuten, daß er es wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste. Gewiß ist auch, daß dabei ein Bedürfnis eine Rolle spielte, sich gegen seine sehr vernünftige engere Umwelt, namentlich gegen die im Geschäftlichen überlegene Führernatur seines Vaters, neben dem er allmählich die Figur des alternden Kronprinzen zu spielen begann, in einer dem Geschäftsverstande unzugänglichen Weise zu verteidigen. Und ebenso gewiß ist es, daß sein Ehrgeiz, alles Wissenswerte zu beherrschen, – ein Hang zur Polyhistorie, dem in solchem Ausmaße, wie es seinem Bedürfnis entsprach, kein Mensch gewachsen wäre – in der Seele ein Mittel fand, um alles, was sein Verstand nicht beherrschen konnte, zu entwerten. Denn er war darin nicht anders wie sein ganzes Zeitalter, das nicht aus religiöser Bestimmung eine starke religiöse Neigung neu entwickelt hat, sondern nur, wie es scheint, aus einer weiblich reizbaren Auflehnung gegen Geld, Wissen und Rechnen, denen es leidenschaftlich unterliegt. Aber fraglich und ungewiß war es, ob Arnheim, wenn er von Seele sprach, selbst an sie glaubte und dem Besitz einer Seele die gleiche Wirklichkeit zuschrieb wie seinem Aktienbesitz. Er benützte sie als einen Ausdruck für etwas, wofür er keinen anderen hatte. Hingerissen von seinem Bedürfnis – denn er war ein Redner, der nicht leicht einen anderen zu Worte kommen ließ; späterhin, nachdem er von dem Eindruck, den er in anderen zu erregen fähig war, Kenntnis genommen hatte, auch immer häufiger in seinen Schriften – brachte er die Rede auf sie, als wäre ihr Dasein so sicher anzunehmen, wie man das des Rückens voraussetzt, obgleich man ihn nicht sieht. Es faßte ihn eine wahre Leidenschaft, in dieser Weise von etwas Ungewissem und Ahnungsvollem zu schreiben, das in das Allzugewisse der Weltgeschäfte verflochten ist wie ein tiefes Schweigen in lebhafte Worte; er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schlagenden Herzen bewegt werden muß; er erklärte seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur- und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde. Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet.

Vielleicht war dieses Ordnen seine eigentliche und heftigste Leidenschaft, ein Machtdrang, der weit alles überschritt, was selbst ein Mensch in seiner Stellung sich gewähren konnte, und unmittelbar dazu führte, daß der in den Bezirken der Wirklichkeit so mächtige Mann mindestens einmal im Jahr sich auf sein Schloß in der Mark zurückziehen und seinem Sekretär ein Buch ins Stenogramm diktieren mußte. Jene sonderbare Ahnung, die zuerst und am lebhaftesten in seinen schwärmerischen Jugendstunden hervorgekommen war, hatte sich diesen Weg gebahnt, aber sie suchte ihn zuweilen auch noch unmittelbar, wenngleich mit geschwundener Kraft, heim. Inmitten der Weltgeschäfte befiel es ihn dann wie eine süße Lähmung und Klostersehnsucht, die ihm zuflüsterte, daß alle Widersprüche, alle großen Ideen, alle Welterfahrungen und -anstrengungen nicht nur so Eines seien, wie man es ungenau als Kultur und Humanität versteht, sondern auch in einer wild-wörtlichen und flimmernd untätigen Bedeutung, so wie man an einem kränkelnd schönen Tag die Hände kreuzen, über Fluß und Wiesen hinschauen und nimmer sich lösen mag. In diesem Sinne war sein Schreiben ein Kompromiß. Und weil es nur eine Seele gibt und diese nicht greifbar, sondern im Exil und von dort sich nur auf eine einzige, so merkwürdig undeutliche oder vieldeutige Weise meldend, dagegen unzählige, schlechthin unendlich viele, und alle Fragen der Welt, auf die man diese königliche Botschaft anwenden kann, so entstand mit den Jahren jene ernste Verlegenheit für ihn, in die alle Legitimisten und Propheten geraten, wenn es zu lange dauert. Arnheim brauchte sich nur in der Einsamkeit zum Schreiben hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wissenschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen. Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg.

Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte. Als er sich auf der Höhe der Mannesjahre befand, hatte er sich zu allem und jedem, was es gab, geäußert, besaß ausgebreitete Überzeugungen und sah keine Grenze, an der er hätte aufhören müssen, auch in Zukunft neue, harmonisch aus den alten entwickelte Überzeugungen zu gewinnen, wenn er in der gleichen Weise weiter fortfuhr. Einem so wirksam denkenden Mann, der in anderen Bewußtseinszuständen Rentabilitätsberechnungen und Bilanzen durchsah, konnte es nicht entgehen, daß das ein Tun ohne Ränder und Lauf war, wenn es sich auch schier unerschöpflich ausbreitete; es fand seine einzige Umgrenzung in der Einheit seiner Person, und obgleich Arnheim viel Selbstgefühl vertrug, war das doch für seinen Verstand kein befriedigender Zustand. Er schob wohl die Ursache auf den irrationalen Rest, den das Leben dem unterrichteten Betrachter allerorten zeigt; er suchte sich auch achselzuckend damit zu beruhigen, daß in der gegenwärtigen Zeit alles ins Uferlose gehe, und da niemand sich ganz über die Schwächen seines Jahrhunderts hinausheben kann, erspähte er darin sogar eine wertvolle Möglichkeit, die allen großen Männern eigene Tugend der Bescheidenheit zu üben, indem er neidlos Erscheinungen wie einen Homer oder Buddha, weil sie in günstigeren Zeitaltern gelebt hatten, über sich setzte: aber mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daß sich in seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geändert hatte, wuchs jener irrationale Rest, wuchsen der Mangel greifbarer Ergebnisse und das Mißbehagen, sein Ziel verfehlt und seinen ersten Willen vergessen zu haben, drückend an. Er überblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte, so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloß einem sehnsüchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrückt zu sehen, die täglich dicker wurde.

Es war ihm von solcher Art gerade in der letzten Zeit etwas Unangenehmes widerfahren, das ihn tief berührt hatte. Er hatte die Muße, die er sich jetzt öfter als sonst gönnte, dazu benützt, seinem Sekretär einen Aufsatz über die Übereinstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren, und hatte einen Satz „Wir sehen das Schweigen der Mauern, wenn wir diesen Bau betrachten“ nach dem Worte Schweigen unterbrochen, um für einen Augenblick das Bild der römischen Cancelleria zu genießen, das soeben ungerufen vor seinem inneren Gesicht aufgestiegen war; aber als er wieder ins Manuskript blickte, bemerkte er, daß der Sekretär, gewohnheitsmäßig voraneilend, schon niedergeschrieben hatte: „Wir sehen das Schweigen der Seele, wenn -“. An diesem Tag diktierte Arnheim nicht weiter, und am folgenden ließ er den Satz streichen.

Was wog nun gegen Erlebnisse von solcher Ausdehnung und Tiefe des Hintergrunds das etwas gewöhnliche der körperlich an eine Frau geknüpften Liebe? Arnheim mußte sich leider gestehen, daß es genau so viel wog wie die sein Leben zusammenfassende Erkenntnis, daß alle Wege zum Geist von der Seele ausgehen, aber keiner zurückführt! Gewiß hatten sich schon viele Frauen naher Beziehungen zu ihm glücklich geschätzt, aber wenn es nicht parasitäre Naturen waren, so waren es tätige, studierte Frauen und Künstlerinnen, denn mit der ausgehaltenen und der selbst erwerbenden Gattung Frau konnte man sich auf Grund klarer Verhältnisse verständigen; die moralischen Bedürfnisse seiner Natur hatten ihn immer in Beziehungen geführt, wo der Instinkt und die ihn begleitenden unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Frauen an der Vernunft einen gewissen Halt hatten. Aber Diotima war das erste Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff, und er sah sie deshalb manchesmal geradezu mit Scheelsucht an. Sie war schließlich nichts als eine Beamtengattin, von bestem Stil zwar, aber doch ohne jene höchste menschliche Bildung, die nur die Macht verleihen kann, und er hätte Anspruch auf ein Mädchen aus der amerikanischen Hochfinanz oder dem englischen Hochadel besessen, wenn er sich ganz binden wollte. Er hatte Augenblicke, wo ein ganz ursprünglicher Unterschied der Kinderstube, ein grausam naiver Kinderhochmut oder das Entsetzen des gepflegten Kindes, das zum erstenmal in die öffentliche Schule geführt wird, in ihm zum Vorschein kam, so daß ihm seine wachsende Verliebtheit wie eine drohende Schande erschien. Und wenn er in solchen Augenblicken seine Geschäfte mit einer eisigen Überlegenheit aufnahm, wie sie nur ein abgestorbener und zurückgekehrter Geist hat, so erschien ihm die kühle, von nichts zu verunreinigende Vernunft des Geldes im Vergleich mit der Liebe als eine außerordentlich saubere Macht.

Aber das bedeutete nichts, als daß für ihn die Zeit gekommen war, wo der Gefangene nicht begreift, wie er sich die Freiheit hat rauben lassen können, ohne sie bis auf den Tod zu verteidigen. Denn wenn Diotima sagte: „Was sind Weltereignisse? Un peu de bruit autour de notre âme …!“ – so fühlte er das Gebäude seines Lebens erzittern.

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