BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Emerenz Meier

1874 - 1928

 

Aus dem bayrischen Wald

 

Aus dem Elend

 

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8. Kapitel.

 

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I bin alt und abg'schlag'n, Bua. Nimmer lang dauert's, so fahr' i deiner Muttern nach. Freud'n blüh'n mir wen'g mehr, warum verdirbst mir denn die letzt', die i noch hab'?“ [61]

Der alte Reutbauer sprach dies zu seinem finster dreinschauenden Sohn, als sie am Tag nach der Sonnenwende vom Felde heimkehrten.

„I will dir ja koa Freud' verderb'n, Alter“, setzte Gottfried grollend dagegen. „Vielleicht b'hüat' i dich sogar vor Verdruß und Unfried'n, denn d'Resie is alles eher als an Engel. Du derfst mir das glaub'n. Und nochamal“ – hier verstieg sich seine Stimme zu ungewöhnlicher Höhe, – „nochamal sag' i dir's: Die Itta wird Reutbäuerin, so g'wiß, als es mir ganz gleich is, ob du dei' Zustimmung gibts oder net.“

„Nein, i gibs net, i gibs net“, nickte der Reutbauer mit dem heftigen Eigensinne des Alters. „Die Böhmin wird mei' Schwiegertochter in alle Ewigkeit net.“

„Wie g'sagt, mir ist's gleich, ob du ja oder nein sagst. Oder glaubst, a Mann wie i laßt sich noch hott- und hü-fahrn. Du woaßt selber am best'n, daß i das Ochsn-ABC schon längst vergess'n hab.“

„Ja, weil'st es ohnehin nie g'lernt hast, weil'st dein Lebtag so a hirtnackiger Stierschäd'l g'wes'n bist!“ zeterte der Alte. „Aber g'wißt wenn i's hätt', was i noch derleb'n müaßt', i hätt' die Böhmin, die 'doppelte Böhmin, koan' Tag in mein' Haus geduld't. Die Schand, Bua, wenn's hoaßt: Die Reutbäuerin, seit alter Zeit das erst' Weib in der Gemeinde, is jetzt a Böhmin!“

In Gottfried begann es zu kochen. Bei anderen Streitigkeiten mit seinem Vater hatte er gewöhnlich die Achseln gezuckt und dann seinen eigenen Willen walten lassen. Heute jedoch, wo es sich um Itta handelte, erregte ihn jedes Wort des Widerspruchs, besonders aber das letzte.

„Hoaß sie mir koa Böhmin mehr!“ rief er bleich vor Zorn. „I bin schon so voll davon, daß i's nimmer hör'n kann.“

„Du wirst es trotzdem noch oft g'nug hör'n müss'n, wenn net von mir, so doch von ander'n Leut'n. J – ja, [62] i bin schon stad 1), von heut' an alleweil' bis i ins Grab geh'.“

„Sie kann ja nix dafür, Vater, das muaßt selber sag'n“, lenkte nun der Bursche ruhiger ein. „Und ist's denn wirklich das Schlechteste, was man ihr vürwirft?“

Der Alte sann ein wenig nach und plötzlich blitzte es schlau in seinen kleinen, eingesunkenen Augen auf.

„Koa Verbrecha is net, Bua, das is wahr“, antwortete er. „Aber, – du woaßt, daß es nie 'rauskemma is, wem sie eigentlich ang'hört: ob an rechtschaffen' Mensch'n oder an Dieb und Totschläger. – Wann's nun auf oamal lautmärig 2) würd', daß das Weib, das d' dir g'numma hast, die Tochter von an' solchen Schuft wär', was thät'st dann sag'n? Rein is die ganz' G'schicht net, die hinter ihr steckt, das gibt ein'm der dumm' Verstand ein. Und nähmst du, g'setzt den Fall, daß sich mei' Ahnung bewahrheitet, – nähmst du die Itta trotzdem?“

„I – i, – daran han i noch nie' denkt; i glaub' kaum, aber koan' Andere auch net.“

Der Reutbauer atmete auf. Er hatte erreicht, was er gewollt, hatte Zweifel und Unentschlossenheit in die Seele des Sohnes gesät. Daran mußte er eine gute Weile zu kauen haben und war Zeit gewonnen, so war mehr, vielleicht Alles gewonnen.

„So überleg' dir's halt nochamal guat“, mahnte er noch in väterlichem Tone und trabte dann schweigend neben dem Burschen her.

An der Wegbiegung hinter dem Hof blieben beide mit Ausrufen der Verwunderung stehen.

Nicht weit von ihnen, im Schatten zweier Obstbäume, lag eine männliche Gestalt, gekleidet wie die des verlorenen Sohnes in der Bibel. Unter dem über das Gesicht gestülpten [63] durchlöcherten Hut quoll ein langer, weißer Bart hervor; die mächtigen, schmutzigen Fäuste ruhten rechts und links daneben und vor den mit halb sohlenlosen Schuhen bedeckten Füßen lag ein zerrissener, dünnbauchiger Wandersack.

„A b'suffener Handwerksbursch'“, sagte Gottfried stirnrunzelnd. „Bleib' steh'n, Alter, i hilf ihm auf d' Füaß.“

Er trat zu dem Manne hin, faßte ihn ziemlich unsanft an den Schultern und befahl ihm, sich zu erheben. Dabei flog der Hut ins Gras und es zeigte sich ein fahles, runzliges Gesicht, das der weiße Bart zur Hälfte verdeckte.

Mit dem Wort: „Weg, laß mich!“ entfloh ein widerlicher Branntweingeruch dem offenen Mund, dann ein krankhaftes Ächzen.

„Warum lassen Sie mich nicht hier?“ frug er endlich mit heiserer, lallender Stimme.

„Weilst auf der Straß' net lieg'n bleib'n sollst, alter Lump“, antwortete Gottfried und wieder versuchte er es, ihn an den Schultern empor zu ziehen.

Da der Mann sich nicht wehrte, sondern im Gegenteil selbst mithalf, soviel es seine schwachen Kräfte gestatteten, gelang es ihm bald, ihn auf die Beine zu bringen. Er schwankte indessen noch so bedenklich, daß Gottfried ihn halten mußte.

„Warum saufst denn so viel, wenn du's net trag'n kannst?“ fragte er.

„O ich bin krank, krank!“ ächzte der lange, dürre Mensch. „Ich kann nicht mehr weiter. – Viel Saufen? – Ja, ich hab's gethan, täglich, stündlich. Jetzt bin ich marsch, bin wieder da. – Aber wo denn eigentlich?“

Hier öffnete er die Augen weit und fuhr sich mit der Hand durch den struppigen Bart.

„Im Kaltwasser. Wo willst denn aus?“

„Nach Kaltwasser. – Ist's das? – Gut, so bin ich am Ziel.“ [64]

Er kam allmählich zur vollen Besinnung und damit auch mehr zu Kräften.

„Ich suche den Reutbauernhof, können Sie mich nicht hinführen?“ fragte er.

Gottfried erklärte ihm, daß er ohnehin am richtigen Orte sei und also gleich sein Anliegen vorbringen könne.

Der Fremde erschrak, sein Gesicht nahm einen mißtrauischen, verschlossenen Ausdruck an.

„Ich wollte zu einer gewissen Frau Hiller, die da wohnen soll. Hätte mit ihr zu reden, ihr eine Nachricht zu bringen.“

„So geh mit“, befahl Gottfried, nun ebenfalls mißtrauisch werdend. „Du kannst derweil in's Haus geh'n, Vater, und der Itta sag'n, daß sie mit dem Ess'n net auf mich wart'n soll“, wandte er sich dann an den Alten, der sich etwas unzufrieden entfernte.

Er führte den Fremden in Burgls Wohnung. Noch vor der Thür blieb dieser stehen und fragte mit zitternder Stimme:

„Nicht wahr, die Frau wohnt zu zweien, wohnt mit einer Pflegetochter hier?“

„Ja.“

„Wie heißt sie?“

„Itta.“

„It – ta – gerade wie – – Gott steh mir bei!“

Burgl saß in ihrem an das Fenster gerückten Lehnstuhle, bis über die Schultern in Decken eingehüllt. Sie blickte zusammenfahrend auf, als Gottfried den wankenden zerlumpten Greis vor sie hinschob und that, ohne selbst eigentlich zu wissen warum, einen leisen Schrei.

„Wer is denn das? Mein Gott, was will der?“

Der Greis schaute mit unschlüssiger Angst auf Gottfried, erhob dann die Hände und sank im nächsten Augenblick zu Füßen der Kranken nieder. [65]

„Frau Hiller, o Frau Hiller!“ stöhnte er. „Gott hat mich gerichtet und vernichtet. Du aber bist seit vielen Jahren barmherzig gewesen gegen mich, so sei es auch heute.“

Er wimmerte wie ein kleines Kind; Burgl saß wie zu Stein erstarrt und Gottfried blickte halb verächtlich, halb neugierig auf das sonderbare Bild.

„Mach' an End', Mensch!“ rief er endlich unwillig. „Du siehst ja, daß sie krank is.“

„Auch ich, auch ich!“ stöhnte der Alte von neuem. „Ich bin ein halbtoter Mann. Und ich mag nicht abfahren, ehe ich meine Schuld gebeichtet habe, ehe ich dir gesagt habe, daß ich der Mörder deines Gatten bin. – Ja, ich, der Andreas Lichtenberger vom Elend, der frühere Schwärzer bin es.“

Nie in seinem Leben vergaß Gottfried den Ausdruck des Ekels und Entsetzens, mit dem die todbleiche, kranke Burgl auf den sich vor ihr Krümmenden niedersah.

„So mach' fort, mach' fort!“ stieß sie hervor, wurde aber nicht verstanden.

„Verzeih mir“, rief der Alte wieder, „o verzeih mir! O, um meines Kindes, – um des Mädchens willen, das du wie ein heiliger Schutzengel zu dir genommen hast. Itta –“

„Allmächtiger, auch das noch!“ schrie Burgl auf. Dann sank sie wie tot zurück.

Auch Gottfried war leichenblaß geworden. Er sprang auf den Alten zu, faßte ihn am Rock, der, ohnehin schon mürbe, unter seinem Griff mitten entzwei riß und donnerte ihn an:

„Sag's nochamal, du – Mörder, daß d' Itta dei' Tochter is! Sag 's nochmal!“

„Sie ist's“, flüsterte der Unglückliche, sich erhebend. „Mein Weib hieß auch Itta, Itta Lichtenberger.“ Hier richtete er sich vollends auf. „Als ich nach Amerika ging, war das Kind noch nicht geboren. Mein Weib aber schrieb [66] mir nachher mehrere Briefe und als sie gestorben war, übernahm es die Botenfrau von Kuschwarda, mich von allem zu benachrichtigen. So erfuhr ich, daß die kleine Itta auf dem Reutbauernhofe hier eine Heimat gefunden und daß es ihr wohl ging. Und ich – ich war ein Lump, blieb es bis heute. – Nun laßt mich hinaus!“

Er tappte sich nach der Thüre, blieb aber dort wieder stehen und sagte in herzbewegendem Tone:

„Nur einmal, ein einziges Mal möcht' ich mein Kind sehen.“

Gottfried stand noch unschlüssig, ob er Itta holen sollte oder nicht, als sie plötzlich von selbst erschien und mit dem Ruf:

„Mutter, Mutter, was hab'n s' dir denn gethan?“ auf die Ohnmächtige zueilte. „Gottfried, um Gott's will'n, sag mir, was g'scheh'n is!“ flehte sie, ratlos um sich blickend.

Der Bursche zitterte zum ersten Mal in seinem Leben. Sollte er, der sie, das fühlte er in diesem Augenblick nur zu deutlich, fast wahnsinnig liebte, – sollte er ihr selbst das Schreckliche mitteilen?

Es ging nicht anders. – In kurzen, hart hervorgestoßenen Sätzen klärte er sie über die Sachlage auf.

Der Greis trat herzu und wollte niedersinkend ihre Kniee umfassen, da wich sie mit einem lauten Schrei zurück.

„Mein Gott, es is net möglich, mein Vater is tot!“ rief sie entsetzt. „Gottfried, hilf du mir!“

„Dein Vater ist's Itta. Es giebt koan Zweifel mehr.“

„So möcht' i am liebst'n g'rad' auf der Stell' sterb'n“, sagte sie, laut weinend auf den Sessel neben Burgl niedersinkend.

Diese erwachte und sah scheu um sich.

„Is er schon furt, Gottfried? – Nein? – O Herrgott, so werft's ihn 'naus, i kann 's nimmer aushalt'n! – Der Itta ihr Vater! Ha, ha, ihr Vater, und i hab' sie so gern g'habt wie mein eigen's Kind.“ [67]

Itta stand wieder auf. Über ihr bleiches, verstörtes Gesicht rannen schwere Thränen. Doch mit erzwungener Ruhe trat sie zu Burgl, faßte ihre magere, kalte Hand und fragte:

„Hast mi denn jetzt nimmer gern, Mutter? Kann i was dafür, daß der dort, – mei Vater, der Mörder von dein' Mann is?“

„Nein net. – Aber sag' ihm's, daß er geht.“

Der unglückliche Alte schritt mit halbunterdrücktem Schluchzen der Thüre zu, die sich alsbald hinter ihm schloß.

Einige Sekunden lang bedeckte Itta ihre Augen mit der Hand. Als sie diese wieder sinken ließ, schien der Ausdruck ihres Gesichts, sie selbst eine Andere geworden.

„Nein, o schlecht bin i net!“ rief sie mit fester, doch sanfter Stimme. „Er is mei Vater und i g'hör' von Rechtsweg'n zu ihm. I geh auch mit ihm, denn er ist alt und, soviel i kenn', auch sterbenskrank. Verzeihst du dann ihm und mir, Mutter?“

„Dir han i nix zu verzeih'n, Itta.“

„Und bei ihm willst net? – O, so denk' dran, was unser Herrgott g'sagt hat, denk' auch dran, daß du vielleicht selber bald sterb'n mußt.“ Hier brach sie wieder in Thränen aus. „Mutter, liabe Mutter, sei net so hartherzig, gib mir, statt ihm, d' Händ'! – Und tausend Dank für Alles, was d' an mir g'than hast. B'hüat dich Gott!“

„Du willst fort?“ schrie Burgl auf. „Fort, jetzt wo i krank und verlass'n bin, wo i neam'd sunst hab', als dich? Und du magst von an Dank red'n?“

Itta kämpfte einen furchtbaren Kampf. Sollte sie wirklich gehen von allem, was ihr lieb und teuer war, von Burgl, der sie Dankbarkeit bis an ihr Lebensende schuldete, von Gottfried, an dem ihr Herz mit allen Fasern hing? Sollte sie gehen um eines alten, verlotterten Vagabunden [68] willen, der nicht den geringsten Anspruch auf ein solches Opfer hatte? – Nein, sie konnte es nicht, sie haßte den Menschen, der sich wie ein böser Geist in das Haus geschlichen und ihr ganzes Glück zerstört hatte. – Doch – „er ist dein Vater“, klang es ihr wieder im Ohr. „Er ist ein Unglücklicher, der sich vielleicht im nächsten Augenblick das Leben nehmen wird, das du ihm durch ein gutes Wort, durch einen Blick der Liebe hättest erhalten können.“

„Gottfried, so hilf du mir!“ rief sie endlich verzagt. „Gottfried, was soll i thun?“

Als sie sich nach ihm umsah, war er verschwunden.

 

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1) still.  

2) lautmärig = offenkundig.