BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Emerenz Meier

1874 - 1928

 

Aus dem bayrischen Wald

 

Aus dem Elend

 

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4. Kapitel.

 

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Gute und reine Seelen drücken allem, was sie umgiebt, den Stempel ihrer Schönheit und ihres Friedens auf.

So lachte in Burgls Wohnung aus jedem Winkel jene stille Traulichkeit, welche zum Herzen spricht und zum Weilen, Bleiben einladet, welche dem Unstäten das Wort „Heimat“ verkörpert und seine Liebe für sie weckt.

In den Rahmen der hellen, blanken Stube mit ihren soliden Möbeln, dem freundlichen Wandschmuck, den blütenweißen Fenster- und Bettvorhängen würde kein anderes Bild so wohl gepaßt haben, als das friedliche Antlitz Burgls.

Sie saß am Tische über ein Buch geneigt, schien sich aber weniger mit dem Inhalt desselben, als mit dem schlanken, jungen Mädchen zu beschäftigen, das ihr zu Seite stand und gedankenvoll vor sich hinblickte.

Itta war sehr schön geworden. Jedermann gestand ihr dieses zu und nicht nur dieses, sondern auch andere Vorzüge, besonders den, daß sie viel mehr Verstand und Bildung besaß, als die gewöhnlichen Bauerndirnen.

„Und sie hat trotz ihrer Herkunft gar nichts Böhmisches an sich“, lautete das allgemeine, viel in sich schließende Urteil.

Aber eine Böhmin war sie doch und das haftete als schwarzer, unverwischbarer Fleck an Ittas lichter, anmutiger Erscheinung.

„Wer sie wohl einmal nehmen wird?“ hieß die hier nächstliegende Frage. „Ein Wäldler kaum, wenn er auch im Allgemeinen keinen Mißgriff machen würde, denn das Mädchen ist brav und arbeitsam und Burgl sichert ihm gewiß [25] eine ansehnliche Mitgift. – Vielleicht kommt einmal ein Schullehrer oder sonst irgend ein Fremder, sie zu freien. Solche Leute stoßen sich nicht an ihrer Geburt und sie selbst hat zu einer Bäuerin ohnehin nicht das rechte Zeug.“

Wenn die Witwe dergleichen Redereien, welche ihr oft genug zu Ohren kamen, im Innersten empörten und aufregten, so ließen sie Itta völlig gleichgültig. Sie lächelte und meinte, es sei ihr garnicht darum zu thun, eine gute Partie zu machen, sondern nur bei Burgl bleiben und alle ihre Wohlthaten mit Liebe vergelten zu dürfen. Das „Später“ überließ sie Gott und stützte sich außerdem auf die Thatsache, daß fleißige Hände ihren Besitzer überall ernähren.

„Na, ganz brauchst dich auch net drauf zu verlass'n“, sagte Burgl. „Was i dir geb'n kann, ohne dem Bruder weh zu thun, des gieb i dir und wenn i stirb, so is die Wohnung und alles d'rin dein Eig'ntum.“

Über diese Sache wurde übrigens selten zwischen Beiden gesprochen, weil es Itta jedesmal verstimmte.

Heute aber, am Allerseelentage, den sie stets als ihren Geburtstag zu feiern pflegte, war es doch geschehen, daß Burgl wohl eine halbe Stunde lang Pläne in Bezug auf ihre Zukunft entwickelt und sich dabei sogar mit leisen Todesahnungen entschuldigt hatte.

Nun schwiegen beide schon seit geraumer Zeit und es war, als scheute sich die eine wie die andere, wieder von Gewöhnlichem zu beginnen.

Endlich legte Burgl mit einem tiefen Seufzer das Buch weg und sagte:

„Es is seltsam, daß gerad' dieser Tag immer die größt'n Veränderungen in mein' Leb'n bringt. Heut' vor zweiundzwanzig Jahr'n han i den Grenzaufseher Hiller kenna g'lernt, ein Jahr darauf bin i sei Weib wor'n. Vier Jahr später am Seelwecktag hab'n s' ihn mir tot, derschoss'n vor d'Füss' g'legt und wieder nach fünfen bist du ins Haus' kemma.“ [26]

„So is nachher heut' der Sterbtag von dein' Mann?“ fragte Itta. „Das hast mir aber noch nie g'sagt.“

„Ja, weil i dir dei Geburtstagsfreud' net verderb'n hab' woll'n. Aber i hab'n noch koan oanziges Mal vergess'n, han immer wieder d'ran denkt und das Schreckliche durchlebt. Auch heut is mir alle Reck 1), als säh' i den Heinrich tot vor mir lieg'n, grad so wie damals, und i moa, i kann mir's nimmer g'nua jammern.“

Itta warf einen mitleidigen Blick auf die alte Frau, deren Antlitz jetzt wieder jenen gramvollen Ausdruck zeigte, den sie schon manchmal bemerkt und dann Wochen hindurch nicht vergessen hatte.

„So red' net davon, wenn's dich hart ankimmt“, bat sie leise.

„O, net härter, als wenn ich's verdrucka thät'!“ wehrte Burgl hastig ab. Nach einer Pause fuhr sie in erzählendem Tone fort:

„Wir hab'n uns so gern g'habt. Er is a g'scheider und beles'ner Mann g'wes'n und i an ungschickt's Bauerndirndl, das vom Wald nur gwißt hat, daß er Geld wert is und von den Wiesen und Blumen, daß s' a gut's Viehfutter geb'n. Und da hat mi er in d' Schul' g'numma, hat mir g'lernt, wia man sich g'freu'n kann an unserm Herrgott seiner Welt, hat mir d' Aug'n aufg'macht, die so blind für das Schöne g'wes'n sand, wia die von den meist'n Bauernleut'n.“

„So hat er dich, wie du mich unterricht“, versetzte Itta mit einem warmen Blick.

„Ja. I wollt' mir an dir a Tochter aufzieh'n, die zu mir paßt, die mi da versteht, wo mi Andere blöd' anschau'n. Du hast aber meine Wünsch' und mei Hoffnung längst überflog'n, bist hochgeistiger wor'n als ich, und es kimmt mi oft a Furcht an, du möcht'st verdorb'n sein für dein' Stand, möcht'st amal recht unglückli wer'n.“ [27]

Itta schüttelte den Kopf.

„Na, Gott geb's, daß dir d' Zufried'nheit im Herz'n bleibt. – Doch – laß' dir's noch verzähl'n: Die erst'n Jahr unsrer Eh' war mir immer bang', so oft der Heinrich fortging. Damals hab'n es die Schwärzer 2) noch viel ärger g'trieb'n als jetzt, und vor ihren Büchsen is kaum an alt's Weib sicher g'wes'n, viel weniger a Grenzjäger. Nach und nach aber han i mi an sein' Beruf g'wöhnt und mir selt'n mehr a Sorg' g'macht. Um so entsetzlicher war's für mich, wie's ihn eines Morgens tot ins Haus 'bracht habn, ihn, der am Tag vorher noch vor mir g'stand'n is, so frisch und g'sund, wia a Tanna im Holz.“

Burgl hielt hier schluchzend inne und drückte die Hände vor das Gesicht.

„Ist's denn net aufkemma, wer ihn derschoß'n hat?“ fragte Itta.

„Nein, – nimmer. Die Grenzer sand in der Nacht vor Allerseel'n auf a Schwärzerbande g'stoss'n drob'n im Dreisesselwald. Wohl zwo Stund' weit hab'n s' ihr nachg'setzt. Der Heinrich, All'n voraus, draht sich vor an Dickerat 3) auf oamal um und schreit' z'ruck: „Kamerad'n, schnell, oan' hab'n wir derwischt!“ Er reißt drauf die Tännling auseinander, so daß der hell Mondschei' auf an Mann fallt, der sich drin versteckt hält. „Ah, den kenn' i ja sogar!“ ruft er wieder: „Das is der –.“ Weiter hat er nimmer red'n kinna, denn plötzli hat a Schuß' kracht und der Heinrich is lautlos umg'sunka. Wie die Andern dann dazua'kemma sand, hab'n s' von den Schwärzern nix mehr g'seh'n und g'hört. Und bis auf den heutinga Tag woaß's koa Mensch, wer der Mörder g'wes'n is.“

„Aber unser Herrgott woaß's, Mutter“, sagte Itta ergriffen, „und dem kimmt er g'wiß net aus. Er muaß früher [28] oder später büaß'n, vielleicht schon auf derer Welt, wenn er überhaupt noch lebt.“

„Ja, ja, das muaß er, muaß er!“ rief Burgl aufstehend und die Hände wie zum Schwur erhebend. „Koa Rast und koa Ruah soll er hab'n, koa Freud' und koa Glück! – O Herrgott! I woaß's wohl, daß man verzeih'n sollt' und oft hab' i sogar schon g'moant, i kann's. Aber auf oamal bricht's wieder los in mir und es is mir net migla 4).“

Sie weinte laut auf und Itta wunderte sich in diesem Augenblick weniger über die plötzliche Leidenschaftlichkeit der sonst so sanften, stillen Frau, als über die Thatsache, daß sie letzteres so lange sein konnte mit der nimmer vernarbenden Wunde im Herzen.

„I glaub', daß i's auch net kunnt'“, sagte sie leise und suchte sich dabei Hillers Gestalt nach der Beschreibung Burgls zu vergegenwärtigen. Sie dachte sich ihn hochgewachsen, breitschultrig, mit schönem bräunlichen Gesicht und stolzen dunklen Augen.

„Es is ewig schad' um ihn“, flüsterte sie noch einmal und dann war es lange still in dem dämmernden Raum. –

„A Briaf, Burgl, vom Gottfried a Briaf! G'rad vorhin hat'n der Bot' bracht. Gott sei Dank! Es is schon lang g'nua seit dem letzt'n, fast a ganz's Jahr. Les'n, Itta, i siag nimmer so genau und der Mann auch nimmer. – O Herr, was wohl drin steht!“

Die alte Reutbäuerin, welche diese Worte in freudiger Hast hervorgesprudelt hatte, sank atemlos in einen Stuhl am Ofen und reichte Itta mit zitternder Hand das Schreiben.

„Ja, es is gar net recht von ihm, daß er so wen'g an seine Eltern denkt“, sagte Burgl.

„O mein, er denkt schon an uns. Aber er hat halt mit [29] dem Briafschreib'n koa Freud', wie ja alle junga Leut'. Das nimm i ahm gar net übel.“

Nach dieser lebhaften Verteidigung ihres Gottfried sprang die glückliche Mutter wieder auf und stellte sich neben das Mädchen, welches mit leicht bebender Stimme zu lesen begann:

 

„Liebe Eltern!

Es ist schon eine schöne Zeit verflossen, seit ich Euch das letzte Mal geschrieben habe. Na, es gab ja keine Neuigkeiten, denn das Leben in der Garnison bleibt immer das gleiche, und ohne Ursache sitze ich nicht gern so anderthalb Stunden über einen Brief. Eure Reklamation vor einem Jahr wurde jetzt erst berücksichtigt und in vierzehn Tagen bin ich von der verteufelten Soldatenhunzerei erlöst. Freilich, es ging mir eigentlich nicht schlecht, abgesehen von den wegen Subordinations­vergehen gemachten Arrestwochen, aber wenn man auf gar nix mehr aufpassen darf und seine volle Freiheit hat, wenn man in den Wäldern und Bergen herumstreichen kann wie man will, dann ist's halt doch ganz was Anderes. Also komm' ich in vierzehn Tagen heim. – Das Geld, das Ihr mir letzthin geschickt habt, ist beim Teixel, laßt Euch weiters noch einige hübsche Gulden nicht gereuen, damit ich meine Dienstzeit flott ausfertigen kann. Dann aber habe ich im Sinn, etwas anders zum Zeug zu schauen, weshalb Ihr mir die Greininger Resie grüßen sollt. Einen Gruß auch an Burgl und an Euch von

Eurem Sohn

Gottfried“.

 

„Er kimmt! Hast g'hört, Burgl, er kimmt!“ rief die Reutbäuerin mit thränenden Augen. „O, was wird sich der Alt' g'freu'n. O – und er muß sofort'n Hof übernehma, muaß heirat'n!“

Sie hopste schwerfällig durch die Stube und blieb wieder vor Itta stehen.

„Die Greininger Resie? Ja, ja, das wird die recht! Das is a frisch's Dirndl und kriagt viel Geld, was a Hauptsach' is, denn der Gottfried hat uns schon redlich ins Säckl' griffa. I bin froh, wenn i mi amal um nix mehr rant'n 5) derf; denn wenn man schon so alt is, kimmt ein'm 's Haus'n hart an. Aber les' mir den Brief nochamal vor, Itta, daß i dem Alt'n Alles verzähl'n kann.“

Itta verschränkte die Arme über der Brust und blickte die Bäuerin fest, fast feindselig an. Ehe sie aber etwas erwidern konnte, hatte Burgl schon nach dem Brief gegriffen und erklärt, daß sie selbst es thun wolle.

„Wie schön er schreibt!“ sagte die Alte wohlgefällig, als sie den Zettel zurückerhielt. „Und was i noch sag'n wollt', Itta; du bist wahrscheinlich guat bekannt mit der Greininger Resie, kunnt'st ihr also am Sunda den Gruaß ausricht'n. Gelt, du thust es?“

„I net“, antwortete das Mädchen mit eigentümlicher Schärfe.

Die Bäuerin machte ein verdutztes Gesicht.

„Net? Warum denn net?“

„Weil i net mag, Reutbäuerin.“

„Soooo, du magst net! Dann laß's bleib'n. Aber wahr ist's alleweil, daß du an eig'ne überspannte Dingin bist, mit der man nia ans rechte Ort kimmt. D' Burgl laßt dir halt z'viel hingeh'n, und wo koa Zucht is, is koan Ehr'.“

Ittas Wangen färbte eine dunkle Röte, ihre Augen flammten zornig auf. Doch rasch bezwang sie sich und eilte schweigend aus der Stube.

„Da hast die Böhmin wieder“, wandte sich nun die Reutbäuerin entrüstet an Burgl. „Macht a ganze Wocha ihr scheinheilig's G'sicht und eh' du dran denkst, beißt s' dich.“

„Es is auch net schön, daß ihr der Gottfried koan' Gruaß net g'schickt hat“, erwiderte Burgl, welche nicht wußte, wie sie das Mädchen, dessen tiefstes Herzensgeheimnis sie plötzlich erraten hatte, verteidigen sollte.

„Ah, also desweg'n! Na, i kann's dem Buam net verübel'n, wenn's ihm net der Müh' wert is, der Itta de Ehr' anzuthun. Er is ihr's ja net schuldi. Und überhaupt braucht's dann auf mich koan Pikant net z'hab'n, das dumme G'sicht.“

Nun wurde es Burgl doch zuviel.

„Laß' ihr und mir an Fried', Schwägerin“, sagte sie in ernstem Ton. „Und wirf mir nimmer vür, daß i des Dirndl net recht 'zog'n hab', denn i kann's wohl verantwort'n vor unserm Herrgott. Aber du, Schwägerin, du darfst dir keck zuaschau'n. Wer woaß, wie euch's enka 6) Gottfried nochmal lohnt, daß's ihn aufwachs'n habt's lass'n wie's G'wild im Holz'.“

Hiermit öffnete sie die Thüre und die Reutbäuerin entfernte sich, im Innersten empört über Burgl und das undankbare Geschöpf aus dem Elend.

Auf der Altane an der Rückseite des Gebäudes saß Itta und weinte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Was hatte sie den Leuten nur gethan, daß alle sie so verachteten und haßten? – Schon als Kind war ihr von Ihresgleichen und Erwachsenen begegnet worden wie einer Geächteten. In der Schule mußte sie trotz allen Fleißes und aller Artigkeit im letzten Winkel der Bankreihen sitzen und die Mitschüler ließen sie nur ungern an ihren Spielen teilnehmen. Später errang sie sich durch ihr einnehmendes Wesen wohl ein paar Freundinnen, aber diese vermieden es, die Freundschaft mit ihr öffentlich zu zeigen. Sie fand auch Bewunderer, welche des Nachts vor ihrem Fenster die Harmonika pfiffen und Lieder sangen, doch keinen, der sich erboten hätte, sie zu Festlichkeiten zu führen. Und das hätte [32] sie noch zum wenigsten unglücklich gemacht. Sie zog ja die Einsamkeit den bäuerlichen Gesellschaften und Vergnügungen weit vor und verlebte die glücklichsten Stunden bei den Büchern, die Burgl ihr angeschafft, oder in Wald und Flur, welche sie täglich durchstreifte. Aber von einem that ihr die Verachtung, wurde sie ihr auch in mildester Form entgegengebracht, bitter weh, und das war Gottfried. Mit der köstlichen Zuversicht der Jugend ertrug sie indessen auch diese in der Hoffnung auf eine einstige Änderung und war zufrieden, wenn sie mit dem Burschen hie und da sprechen, ihm einen Dienst leisten durfte. Als er vor zwei Jahren zum Militär einberufen wurde, hatte es wirklich den Anschein, als ob er sein Benehmen ihr gegenüber bereute, und die Erinnerung an seine herzlichen Abschiedsworte versüßte ihr später noch manche Stunde. Und heute vernichtete dieser Brief all ihre Freuden wieder. Auch die lieblosen Worte der Bäuerin, seiner Mutter, schmerzten sie wie eine körperliche Züchtigung, und mit Bitterkeit dachte sie daran, wie freundlich dieselbe sich sonst gegen sie gezeigt, wenn sie ihr im Hause sorgend und schaffend an die Hand gegangen war. Das mußte wohl Heuchelei gewesen sein, hinter der sich die Verachtung und der Haß verborgen hatte. Und wenn die Reutbäuerin, die sie doch als gute Frau schätzen und lieben gelernt, heuchelte, dann that es alle Welt, die treue Burgl ausgenommen. Sie selbst aber konnte ohne Skrupel ihr Herz verschließen und verhärten, denn man liebte sie so wie so nicht, weil sie nun einmal aus dem Elend war.

 

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1) alle Augenblicke. 

2) Schmuggler. 

3) Dickicht. 

4) möglich. 

5) kümmern. 

6) wie euch's euer.